Über das Projekt

„Gelegenheiten für Kommunikation und Interaktion“ – Lena Prents und Johanna M. Keller im Interview

Lena Prents und Johanna M. Keller, © Goethe-Institut/ Dima Belush
Lena Prents und Johanna M. Keller, © Goethe-Institut/ Dima Belush


Die Projektleiterin und die kuratorische Leiterin blicken auf die Erfahrungen mit dem Projekt Going Public – Über die Schwierigkeit einer öffentlichen Aussage zurück.

Das Projekt „Going Public – Über die Schwierigkeit einer öffentlichen Aussage“, das Ihr für das Goethe-Institut initiiert habt, versammelt verschiedene Partnerinstitutionen sowie freie Kuratorinnen und Kuratoren aus Belarus, Kaliningrad, Litauen und Deutschland. Wie würdet Ihr die jeweiligen politischen, kulturellen und städtebaulichen Kontexte der beteiligten Standorte mit Blick auf Kunst im öffentlichen Raum charakterisieren?

In Litauen wurden seit der Erklärung der Unabhängigkeit 1990 zahlreiche Projekte im öffentlichen Raum realisiert. Als Kulmination gilt das Jahr 2009, in dem Vilnius Kulturhauptstadt Europas war. Künstlerische Projekte, die eine Diskussion über den Umgang mit dem architektonischen Erbe der Sowjetzeit, über die mögliche Nutzung von leerstehenden öffentlichen Gebäuden sowie über urbane Geschichte und kollektive Identitäten in Gang setzen wollten, wurden zunächst von kleinen Gruppen initiiert und realisiert. Als das öffentliche Interesse für einzelne Diskussionen stieg, wurden auch Politiker und marktorientierte Strukturen auf die zeitgenössische Kunst aufmerksam. Debatten verlagerten sich zunehmend auf politische Prestige-Großprojekte wie z. B. die Idee eines Guggenheim-Museums in Vilnius.

Vor diesem Hintergrund ist eine gewisse Resignation unter litauischen Künstlerinitiativen und Kuratoren hinsichtlich der lokalen Entwicklungen im Bereich der Public Art nachvollziehbar. Dies gilt vor allem für die Hauptstadt Vilnius, aber auch für Klaipėda, die 300 km westlich von Vilnius gelegene drittgrößte litauische Stadt. Auch dort sind Initiativen im öffentlichen Raum meistens im Rahmen des Stadtmarketings entstanden; sie dienen vor allem dazu, die Stadt touristisch attraktiver zu machen. Mit seiner peripheren Lage an der Ostseeküste kann sich Klaipėda nur schwer gegenüber der Hauptstadt Vilnius behaupten – dies gilt in ähnlicher Weise auch für Kaliningrad in Bezug auf Moskau.

Das Staatliche Zentrum für Zeitgenössische Kunst in Kaliningrad (ncca) realisiert zahlreiche Projekte im öffentlichen Raum. Die frühere ablehnende Haltung der Stadtverwaltung gegenüber Public Art ist einer gewissen Akzeptanz und Unterstützung gewichen, vor allem angesichts prominenter ausländischer Förderer der Projekte. Gleichzeitig sucht das ncca einen kritischen inhaltlichen Austausch mit Initiativen und Gruppen, die im öffentlichen Raum agieren. Am Projekt Going Public war das Interesse des ncca v.a. eine Reflexion der bislang geleisteten Arbeit und ein Austausch mit Kolleginnen und Kollegen.

Nun wird nicht selten betont, die Rede von Kunst im öffentlichen Raum sei von den Demokratietheorien
nicht zu lösen (bspw. Oliver Marchart). In Belarus gab es lediglich eine Zeitspanne von drei Jahren, die als reformerisch und demokratieorientiert gilt: von der Unabhängigkeitserklärung 1991 bis zur Wahl von Aleksander Lukaschenko zum Präsidenten 1994. 18 Jahre der autoritären Herrschaft haben eine nachhaltige Wirkung auch auf die belarussische Kunstszene gehabt. In den staatlichen Kunstinstitutionen und in der Ausbildung an der Akademie dominiert ein konservativer, tradierter Kunstbegriff. Die Infrastruktur nicht-kommerzieller und alternativer Kunstorte wurde zerstört und ihre Entwicklung wird ständig behindert. Dennoch entstehen auch unter diesen Bedingungen Initiativen, die einen Anspruch auf eigenständiges Handeln, Experimentieren und Reflektieren der eigenen Praxis anmelden und umsetzen. Sie schaffen andere Öffentlichkeiten und bewirken einen starken Nachahmungseffekt. Der Bedarf an Präsentations- und Produktionsmöglichkeiten für zeitgenössische Kunstprojekte, die eine Alternative zu dem offiziellen dogmatischen Kunstverständnis aufzeigen, ist in Belarus enorm. Unter den wenigen Projekten zur Kunst im öffentlichen Raum ist auch das Projekt Арт Город. Raum für Raum des Goethe-Instituts zu nennen.

Wie lässt sich der Kontext beschreiben, in dem die einzelnen Akteure arbeiten? An welchen Diskursen orientieren sie sich und welche lokalen und internationalen Öffentlichkeiten suchen sie zu erreichen bzw. erreichen sie?

Das besonders Schwierige und zugleich Spannende an der Situation in post-sowjetischen Ländern besteht darin, dass die Entstehung der Kunst im öffentlichen Raum und ihre kunsthistorische Reflexion zugleich stattfinden. An die Erfahrungen im Umgang mit dem öffentlichen Raum vor 1989 ist angesichts der völlig veränderten politischen und gesellschaftlichen Situation kaum anzuknüpfen; eine ernsthafte theoretische Reflexion über die Beschaffenheit und Rolle der Öffentlichkeiten konnte ebenfalls erst nach 1989 einsetzen. Public Art entwickelt sich im postsowjetischen Raum aus der Logik der lokalen Kontexte und der eigenen, zum Teil historisch bedingten, künstlerischen Praktiken. Dabei sind die gegenwärtigen Kontexte sehr verschieden. Der eine gemeinsame Nenner, sozusagen rückwärts orientiert, ist die sowjetische Vergangenheit, mit allen daraus resultierenden negativen und positiven Erfahrungen, die in den Gesellschaften und in den Kunstszenen nachwirken. Der andere, gegenwärtige Nenner ist ein sehr engagiertes, enthusiastisches Arbeiten im Bereich der zeitgenössischen Kunst – sowohl auf der lokalen Ebene als auch international. Allen infrastrukturellen Schwierigkeiten, Engpässen und bürokratischen Verfahren, sozial-politischen Widrigkeiten und allen ernüchternden Einschätzungen von außen zum Trotz. Den Kuratoren und Künstlern in Klaipėda, Kaliningrad und Minsk ist die Außenwahrnehmung ihrer Standorte als peripher, unbedeutend oder politisch vorbelastet (wie im Fall von Belarus) durchaus bewusst. Dennoch arbeitet man sich nicht an Klischees oder Erwartungen ab, sondern bleibt nah an lokalen Bedingungen, Möglichkeiten und Bedürfnissen dran. Und man ist umtriebig außerhalb des eigenen Kontextes unterwegs – gegen das Begrenzte und Einschränkende, auf der Suche nach neuen Netzwerken und Verbündeten.

Die westlichen Konzepte von Öffentlichkeit, die Schriften von Hannah Arendt, Jürgen Habermas, Nancy Fraser oder Rosalyn Deutsche und Chantal Mouffe, sind durchaus bekannt. Die Entscheidung, wie man damit im jeweiligen Kontext umgeht, was man davon als inspirierend empfindet und weiterentwickelt und wo man für sich Schwerpunkte setzt, beruht auf den strukturellen Eigenschaften der Standorte. Das ncca in Kaliningrad arbeitet beispielsweise viel mit der Sozialforscherin Anna Karpenko zusammen, deren Feldforschungen für die Kunstpraxis und ihrer Reflexion vor Ort sich als sinnvoll erweisen. Für uns hat sich das Konzept der „fluiden Öffentlichkeiten“ der Kulturwissenschaftlerin Almira Usmanowa, Professorin an der Europäischen Humanistischen Universität (EHU), einer belarussischen Universität, die sich nach der Schließung 2005 im litauischen Exil wieder gegründet hat, als sehr fruchtbar erwiesen.

Welche Rolle spielten für die Programmierung die Parameter „Nähe“ und „Entfernung“ (etwa zwischen Vilnius und Minsk, Kaliningrad und Moskau oder Klaipėda und Kaliningrad) im konkreten wie im übertragenen Sinne für Euch?

Die angesprochenen Entfernungen lassen sich relativ leicht überwinden, sobald die Akteure dieser Kunstszenen zusammenkommen. Man teilt die gemeinsamen Erfahrungen, auch die Sprache (Russisch); Akteure, die sich bislang nicht persönlich kannten, hatten durch Publikationen, Ausstellungsbeteiligungen und vom Hörensagen zumindest einen Begriff voneinander.

Unterschiedlich ist der jeweilige Bezug zu Westeuropa und Deutschland. Die litauischen Künstlerinnen und Künstler sind sowohl in den beteiligten Ländern bzw. Kaliningrad als auch international gut bekannt. Die Kunstszene aus Kaliningrad kennt man dagegen vor allem in Norddeutschland und in den Küstenstädten der baltischen Region – in Polen, Schweden, Dänemark. Belarus macht mit der Tagespolitik in westlichen Medien Schlagzeilen. Das Land wird fast ausschließlich durch eine politische Brille wahrgenommen. Dementsprechend werden künstlerische Arbeiten, die sich auf die politischen Verhältnisse im Land beziehen – oder sich so interpretieren lassen – eher wahrgenommen.

Johanna, Du leitest seit Anfang 2010 das Goethe-Institut in Litauen und lebst seitdem in Vilnius: Welche Formen der Zusammenarbeit und welche Trennungslinien lassen sich auf kultureller, politischer und ökonomischer Ebene zwischen Litauen, Belarus und Kaliningrad erkennen?

Die Region ist historisch eng verbunden, vor allem durch das im 14. Jahrhundert entstandene Großfürstentum Litauen. Sowohl kulturell als auch sprachlich gab es viele Wechselbeziehungen in der Region des heutigen Belarus, Litauens und Kaliningrads. Dies verdeutlicht bildhaft die Memel, die in allen Ländern einen wichtigen Bezugspunkt darstellt. Lange Zeit verbindender Fluss von ihrer Quelle südlich von Minsk bis zu ihrer Mündung ins Kurische Haff südlich von Klaipėda, bildet sie nun die Außengrenze nicht nur der Europäischen Union, sondern auch des NATO- und des Schengen-Raums.

Mit Going Public wollten wir diese Grenzen überwinden und zu einem regionenübergreifenden Austausch zu künstlerischen Konzepten einladen. So ist ein Netzwerk entstanden, das sicherlich auch über das Projekt hinaus genutzt werden kann. Die Rahmenbedingungen in den beteiligten Städten sind sehr unterschiedlich; die geographischen Entfernungen aber sind gering: Von Vilnius nach Minsk sind es gerade einmal 190 km, von Klaipėda bis Kaliningrad nur 130 km. Politisch und ökonomisch gibt es sehr enge Verbindungen Litauens zu seinen Nachbarn, insbesondere zu Belarus. In Belarus verbotene Bands können in Vilnius für ihr Publikum spielen; belarussische Menschenrechtsjournalisten, die im eigenen Land nicht mehr arbeiten können, finden in Litauen Zuflucht; die EHU arbeitet seit 2005 im litauischen Exil. Der kulturelle Austausch braucht solche Verbindungen.

Welche Ähnlichkeiten und welche Differenzen bilden sich im Alltag dieser drei Standorte ab?

Bei Belarus, Litauen und dem Kaliningrader Gebiet handelt es sich um postsozialistische Räume – dies gilt auch für Leipzig, wo die Abschlusskonferenz des Projekts stattfand.

Mit dem Beitritt zur Europäischen Union im Jahre 2004 hat sich der politische Rahmen für Litauen stark verändert; viele gesellschaftspolitische Fragestellungen scheinen zunächst beantwortet. Es gibt eine gute kulturelle Infrastruktur, ausreichende Fördermöglichkeiten und vielfältige Austauschbeziehungen.

Im Kaliningrader Gebiet ist die Situation allein dadurch erschwert, dass es keine Kunsthochschule gibt. Das ncca hat bisher keine Räumlichkeiten für Ausstellungen und nur ein relativ kleines Budget. Sowohl für Künstlerinnen und Künstler aus Kaliningrad als auch aus Belarus ist das Reisen durch die Visumspflicht für die Nachbarländer erschwert. In der belarussischen Hauptstadt Minsk bestehen große öffentliche Räume, die allerdings durch autoritäre Vorgaben reglementiert sind und letztendlich „einsam“ bleiben, wie es einer der beteiligten Künstler formulierte.

Trotz dieser Unterschiede ist von Leipzig bis Minsk sicherlich eine Frage gleich, die sich permanent für alle beteiligten Kunstinstitutionen und Künstler stellt: Wie erreicht man das Publikum, und wie schafft man Gelegenheiten für Kommunikation und Interaktion?

Lena, Du lehrst seit 2006 an der EHU. Wie siehst Du die Netzwerkstrukturen und Verbindungen zwischen den beiden Ländern Litauen und Belarus? Welche Rolle spielt eine ausgelagerte Öffentlichkeit, wie sie von der EHU erprobt wird, im Hinblick auf die Einflussnahme im eigenen Land? Wird der Abschluss in Belarus anerkannt? Gehen die Studierenden nach Belarus zurück oder studieren, arbeiten viele im Ausland weiter?

Zwischen den Kultur-, Medienwissenschaftlern, Philosophen, Urbanisten der EHU und ihren litauischen Kollegen haben sich enge professionelle und private Kontakte entwickelt. Die Kuratorin und Kunstkritikerin Laima Kreivytė aus Vilnius sagte einst, die EHU sei sehr präsent in der kulturellen Landschaft in Litauen. Sie bringe sowohl sich selbst ein als auch ihre internationalen Kontakte und Projekte, die für die Entwicklung der litauischen wie auch der belarussischen akademischen Landschaft wichtig sind. Der Blick auf Belarus als das „Andere“, Fremde werde dadurch stark relativiert.

Die Einflussnahme der EHU in Belarus ist schleichend. Die Universität gibt es eigentlich nicht, aber ihre Dozentinnen und Dozenten treten in den Medien (wenn auch nicht in den präsidenten-nahen) als Experten auf, sie publizieren viel, initiieren rare, für den belarussischen Kontext ungewöhnliche Diskussionsveranstaltungen und Projekte. Die EHU genießt den Ruf einer modernen, kritisch-reflexiven, undogmatischen Lehreinrichtung. Damit gehen dann in der Gesellschaft auch hohe Erwartungen, gar Forderungen, an die EHU-Angehörigen – Lehrende wie Studierende – einher. In dem Spannungsverhältnis zwischen diesen Erwartungen und Hoffnungen und dem illegitimen Status der Universität in Belarus (d.h. Abschlüsse werden nicht anerkannt) bewegen sich die EHU-Absolventinnen und Absolventen.

Was habt Ihr über den Verlauf des Projekts zu Konzepten von Öffentlichkeit, der Rolle von Kunst im öffentlichen Raum bzw. Diskurs erfahren? Welche Strategien der Sichtbarmachung und Generierung von Öffentlichkeiten haben sich für Euch dabei herauskristallisiert?

Für Belarus ist eine zentrale Frage, wie man im Bereich der zeitgenössischen Kunst überhaupt arbeiten kann, in einem ständigen Lavieren zwischen Zensur und Selbstzensur, zwischen möglichen Repressalien und dem eigenen künstlerischen Anspruch. Wie schwierig diese Entscheidung tatsächlich ist, wurde im Verlauf des Projekts deutlicher als nötig, als bei einer Intervention im Zentrum der Stadt ein Künstler mit seinen Assistenten festgenommen wurde. Der strafrechtliche Vorwurf einer Störung des öffentlichen Friedens und des Widerstands gegen die Staatsgewalt wurde inzwischen gerichtlich zurückgewiesen; die künstlerische Intervention und das gesamte Projekt wurden in Minsk sofort Gegenstand breiter Diskussionen.

Gezeigt hat sich im Laufe des Projekts, wie unterschiedlich konnotiert bestimmte Konzepte sein können. Im westlichen Kontext sind ja Begriffe wie „Präsenz“, „Öffentlichkeit“ und „Sichtbarkeit“ meist positiv belegt. Das gilt allerdings in politisch anders verfassten Kontexten nicht unbedingt, wenn zu befürchten ist, dass eine mögliche Öffentlichkeit schwerwiegende Konsequenzen haben könnte – umso mehr, als die Wirkung der Interventionen nur bis zu einem gewissen Grad zu kalkulieren ist.

Spannend war hier insbesondere auch die Kommentierung der Situation in den Nachbarländern durch die beteiligten Künstlerinnen und Künstler, die durch gegenseitige Residenzaufenthalte möglich wurde. Das künstlerische Vorgehen war sehr auf 
den jeweiligen Ort und den historischen Kontext bezogen.

Den meisten am Projekt Going Public beteiligten Künstlerinnen und Künstler ging es vor allem darum, Gelegenheiten für Interaktion und Aushandlung zu schaffen. Ähnlich den Strategien der geheimagentur aus Deutschland, können so durch künstlerische Projekte Situationen der kurzfristigen Solidarität geschaffen werden, die ungewöhnliche Allianzen möglich macht. Die Künstler werden zu Fragestellenden; sie legen Probleme offen, die nur gemeinsam gelöst werden können.
Vera Lauf
führte das Gespräch. Sie leitet seit 2010 das Projekt ‚Well connected’ – Kuratorisches Handeln im 21. Jahrhundert an der HGB Leipzig.

Das Interview erschien 2013 in der Publikation
„Well Connected – Beiträge zum Kuratorischen. Öffentlichkeit herstellen. Präsenz als Strategie?“
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