Julia Lorenz: Literaturbesprechung
​Transit-Identitäten

Buchcovers: „Fast ein neues Leben“, „Eine Formalie in Kiew“ und „Das achte Kind“
Buchcovers: „Fast ein neues Leben“, „Eine Formalie in Kiew“ und „Das achte Kind“ | © Friedenauer Presse/ Hanser Berlin/ Hanserblau

Von Julia Lorenz

Auf dem Amt leiden alle in derselben Sprache. Dima sitzt in Leipzig einem sächsischen Bürokratie-Cyborg gegenüber, Alem wird auf einer serbischen Behörde zur Bestechung genötigt. Und in einer Stadt, die Berlin sein könnte, wird eine junge Frau ohne Namen von einem Mitarbeiter des Arbeitsamts belästigt.

Alle drei Charaktere ertragen die Demütigung, weil ihre Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft von einem Papierwisch abhängt. Und sie alle eint das Gefühl, auf keiner Seite einen Fuß auf den Boden zu bekommen: Nicht in Deutschland, und nicht im Herkunftsland der Eltern. Das Leben in der Fremde ist eben kein neues, sondern nur „fast ein neues Leben.“

So nannte die Journalistin und Schriftstellerin Anna Prizkau ihre 2020 erschienene Kurzgeschichtensammlung, in der sich auch die Begegnung mit dem Mitarbeiter des Arbeitsamts findet. In zwölf Erzählungen trifft man eine junge Frau mit Migrationsgeschichte an verschiedenen Punkten ihres Lebens: als Kind, als Teenagerin, als Erwachsene. In Prizkaus schlichten, präzisen Sätze liegt eine Schwermut, die entfernt an Judith Hermanns Berlin-Saudade im Kurzgeschichtenband Sommerhaus, später erinnert.

Während sich dort allerdings die weiße Großstadt-Bohème der späten Neunziger eher nach Entgrenzung sehnte, ist das Lebensgefühl von Prizkaus Erzählerin ambivalenter. Mal begehrt sie Zugehörigkeit, mal erwächst aus ihrem Gefühl von Fremde ein unbedingter Distinktionswille. Als das Drehbuchmanuskript von Prizkaus Erzählerin von einem Theater abgelehnt wird – mit der Begründung, alles daran sei dem Regisseur „auf eine gewisse Art fremd und fern“ – schminkt sie sich wie zum Trotz ein Gesicht auf, das genau so andersartig aussehen sollte, wie der Kulturbetrieb sie wahrnimmt: „Ich ging ins Badezimmer und malte mir einen Kajalstrich auf die Lider, wie ihn mal meine Großmutter getragen hatte und meine Mutter auch.“

Von der Schönheit und dem Schmerz, mit dem das Aufwachsen zwischen den Nationalitäten verbunden ist, von komplizierten Gefühlen also, erzählen auch Dmitrij Kapitelmans Eine Formalie in Kiew und Alem Grabovacs Das achte Kind. Beide Romane sind Anfang 2021 erschienen, beide autofiktionale Arbeiten von Journalisten: Der gebürtige Ukrainer Kapitelman berichtet davon, wie er von Leipzig nach Kiew reist, um eine Apostille seiner Geburtsurkunde zu bekommen. Die braucht er für seine Einbürgerung in das Land, von dessen Leitzordnerhaftigkeit er sich immer wieder ironisch distanzieren muss – zum Beispiel, wenn er seine gesammelten Einkommens- und Steuerbescheide als „migrantische Money-Mappe“ bezeichnet. Gleichzeitig kommt ihm die Mission, einen Behördengang im chaotischen Land der Eltern zu erledigen, so aberwitzig vor, dass seine Berichte aus Kiew manchmal fast in den magischen Realismus kippen.

Wie eine Mischung aus Bildungs- und Kriminalroman hingegen lässt sich der Roman des in Würzburg geborenen Autors Grabovac an: Sein Alem ist das titelgebende Achte Kind in einer deutschen, bürgerlichen Pflegefamilie. Dort landet er, weil seine Mutter Smilja, die aus einem kroatischen Bergdorf nach Deutschland migriert ist, sich nicht zugleich um ihr Kind, ihren Fabrikjob und ihren Mann kümmern kann. Alems Vater Emir nämlich trinkt und betrügt, verschwindet irgendwann spurlos. Smilja hört nichts mehr von ihm, bis sie erst von seiner Inhaftierung auf der Gefängnisinsel Goli Otok, später von seinem Tod erfährt. Ihrem Sohn verheimlicht Smilja die Identität seines Vaters bis ins Erwachsenenalter. Als sie ihr Schweigen bricht, endet der erste Teil des Romans, „Das Buch Smilja.“ Ein „Buch Emir“ wird folgen; erst aber erzählt der Sohn im „Buch Alem“ vom Aufwachsen mit einem deutschen Nazi als Pflegevater, der dafür sorgen soll, dass der Sohn einer Kroatin und eines Bosniers am liebsten Kriegspanzer malt.

Die Eltern der Erzähler*innen bei Prizkau, Kapitelman und Grabovac werden unter den Zumutungen des Neubeginns depressiv oder jähzornig, unsichtbar oder unerbittlich. Während die Mutter in Prizkaus Erzählungen hinter verschlossener Tür weint, Kette raucht und wehmütig mit Verwandten aus der alten Land telefoniert, verwandelt die Mutter in Kapitelmans „Formalie in Kiew” das Leipziger Familienhaus in das Fantasiereich „Katzastan”,  eine „russische Enklave” voller Hauskatzen, über die herrscht wie eine strenge, alles allzu Deutsche verachtende Matriarchin. Grabovacs Mutter hingegen will aufgehen in der Gesellschaft des neuen Landes, will eine grundanständige, fleißige Bürgerin sein, um sich nie wieder so bedürftig und gedemütigt fühlen zu müssen wie in ihrer Kindheit, als sie das Schokoladenpapier ihrer wohlhabenderen Mitschüler:innen aus dem Abfall klaute. Niemand, schreibt Kapitelman, fürchtet das Schreckgespenst vom faulen Einwanderer mehr als der Einwanderer selbst.

So unterschiedlich die Rollen der Eltern sind, vereint sie doch eines: Für ihre Kinder sind sie die Verkörperung der alten Heimat in der neuen, Reibungs- und Bezugspunkt auf einmal. Alle Autor*innen beschreiben ein Dazwischenleben, weil ihnen die Menschen im neuen Zuhause herablassend oder offen feindlich gegenüberstehen, die tröstliche Welt der Eltern ihnen aber ebenso fremd vorkommt – peinlich sogar. Ihren ersten Freund nimmt Prizkaus Erzählerin nie mit nach Hause, wo es nach „Rinderbrühe, Zwiebeln, Zigaretten“ riecht. Die Gerüche und Artefakte, die für Vertrautheit oder Alltag stehen, sind auch Kapitelman unangenehm: In seinem Roman parkt der VW der Eltern, in dem es nach „Zigarettenrauch, gammligen Aldi-Broschüren und Schweiß” stinkt, vor einem Haus, „in dem [er] nicht sein will”.

Wie auch bei Prizkau und Grabovac klingt bei ihm an, was besonders an (süd-)osteuropäischen Migrationsgeschichten ist: Alle drei Erzähler*innen werden als weiß gelesen; und „Hellhäutig[keit]”, schreibt Kapitelman, „bürgert hierzulande besonders verlässlich ein.” Trotzdem werden sie an Sprache, Namen oder anderen feinsten Unterschieden immer wieder als vermeintlich fremd erkannt und geschnitten, „Jugo“ geschimpft, von Nazis verfolgt oder krankenhausreif geschlafen. Auch bei wohlwollenderen Mitmenschen bleiben sie ewig Andere, weil kaum eine*r einen Bezug zu ihren Herkunftsländer hat. Mit dieser Ignoranz spielt vor allem Prizkau, indem sie ihre namenlose Erzählerin konsequent auf einen namenlosen Staat verweisen lässt. Nur die Namen und Speisen ihrer Verwandten – süßer Sekt, sauer eingelegtes Gemüse – lassen einen das alte (Sehnsuchts-)Land in Osteuropa verorten.

Bei Grabovac wiederum sind spezifische Konflikte präsent, etwa das Verhältnis zwischen deutschen und Ustascha-Faschist*innen sowie deren Kampf gegen die Tito-Partisan*innen. „Soso, Sie sind also Kroate, Bosniake und Deutscher. Mutig von Ihnen, hier einfach so hereinzuspazieren”, sagt der Sachbearbeiter in Belgrad, als Alem wissen will, wo sein Vater begraben liegt. Alem, der eh schon zwischen den Stühlen sitzt, gerät nun auch noch zwischen die Fronten eines vergangenen Krieges.

In Kapitelmans Geschichte spielt neben dem Ukraine-Russland-Konflikt auch seine jüdische Identität eine Rolle. Der Autor und seine Familie kamen in den 1990ern als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Deren Einwanderung war verbunden mit der anmaßenden Hoffnung, sie mögen das jüdische Leben in Deutschland wieder aufblühen lassen. Der Vater allerdings hatte den „Siebenleuchter“, wie Kapitelman erinnert, gar nicht mit nach Deutschland genommen – „zu schwer“.

„Migration hört eigentlich nie auf, auch fünfundzwanzig Jahre später wandere ich noch immer nach Deutschland ein”, schreibt er an anderer Stelle. Für ihn, aber auch für Prizkau und Grabovac steht am Ende der Berichte über ihr permanentes Transitleben eine Erkenntnis: Es ist nicht immer die Uneindeutigkeit, die schmerzt. Sondern die mangelnde Bereitschaft der Hegemonialgesellschaft, diese auszuhalten.
 

Literatur:
Anna Prizkau: „Fast ein neues Leben“. Friedenauer Presse, Berlin 2020
Dmitrij Kapitelman: „Eine Formalie in Kiew“, Hanser Berlin, Berlin 2021
Alem Grabovac: „Das achte Kind”, Hanserblau, München 2021


Julia Lorenz
© Lena Meyer
Julia Lorenz wurde 1991 im Erzgebirge geboren und ist in der Nähe von Zwickau aufgewachsen. Sie studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie Politikwissenschaft in Berlin und Madrid. Nach einem Volontariat beim Berliner Stadtmagazin ZITTY begann sie, dort als Redakteurin zu arbeiten. Aktuell ist sie als Redakteurin beim Stadtmagazin tipBerlin und als freie Autorin etwa für die tageszeitung, den Tagesspiegel, den Musikexpress und Spiegel Online tätig.

 

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