„Mein Bruder und ich“ | Foto (Ausschnitt) © SWR/Tonix Pictures
Das deutsche Kinderfernsehen lebt von Erfolgsformaten und beliebten Klassikern. Bei Neuproduktionen sollten die TV-Macher mehr Innovationsfreude zeigen, sagt der Medienforscher Professor Dieter Wiedemann.
Professor Wiedemann, welche Kinderserien-Angebote finden sich derzeit im deutschen Fernsehen?
Prof. Dr. Dieter Wiedemann | Foto (Ausschnitt) © privat
Es fällt auf, dass es relativ wenige Realfilmserien gibt. Zu den Ausnahmen zählen sicher Schloss Einstein, das die 20. Staffel begonnen hat oder die Detektivserie Die Pfefferkörner. Im Vergleich zu den 1990er- und 2000er-Jahren sind auch viele Doku-Serien im Programm: Krasse Kolosse über riesige Maschinen, Mein Bruder und ich, eine Dokumentation über Geschwisterpaare aus fremden Ländern, oder Anna und die Haustiere. Doch darüber hinaus ist sehr viel Animation zu sehen.
Neben den neueren Serien gibt es zugleich traditionelle Kinderprogramme, die seit Jahrzehnten ihr Publikum erreichen: Das „Sandmännchen“ wird seit 1959 produziert, „Die Sendung mit der Maus“, eine der erfolgreichsten Kindersendungen im deutschen Fernsehen, wurde erstmals 1971 ausgestrahlt.
Meistens entscheiden die Eltern oder die Großeltern – da ich Opa bin, weiß ich wie das ist –, was kleine Kinder sehen dürfen. Und da die Eltern- und Großelterngeneration gute Erfahrungen mit solchen Sendungen gemacht haben, erinnern sie sich gern daran. Dass diese Sendungen noch immer erfolgreich sind, liegt natürlich auch daran, dass sie besonders kindgerecht gestaltet sind.
Starke Mädchen, starke Jungs
Was waren die Hauptunterschiede des Kinderfernsehens in der DDR und der Bundesrepublik seit dem Beginn 1953?
Das Kinderfernsehen in der DDR sollte Jungen und Mädchen einen festen Klassenstandpunkt vermitteln, dafür sorgen, dass sie sich für den Sozialismus und die Stärkung der DDR einsetzen. Darüber hinaus haben die Fernsehschaffenden früh angefangen, Serien wie
Das Mädchen Störtebeker mit starken selbständigen Protagonistinnen zu produzieren. In den bundesdeutschen Serien waren zu Anfang fast immer Jungs die Helden. Gemeinsam war beiden Systemen die intensive Zusammenarbeit mit tschechischen Kinderfilmern, die inhaltlich und ästhetisch einen starken Einfluss hatten. In den 1980er-Jahren war das bundesdeutsche Kinderfernsehen origineller und innovativer. Umgekehrt waren bis zum Ende der DDR die dortigen Märchenverfilmungen besser, da in sie sehr viel mehr Zeit und Geld investiert wurde als im Westen.
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Foto (Ausschnitt) © rbb/Stephan Pramme/rbb Media
Unser Sandmännchen (Seit 1959, Rundfunk Berlin-Brandenburg/RBB)
Das Sandmännchen ist die bekannteste und älteste deutsche Kinderserie, die heute noch im Programm ist. Eine animierte Handpuppe, die der Märchenfigur Der Sandmann aus dem gleichnamigen Roman von Hans Christian Andersen nachempfunden ist, präsentiert kurze Einspielfilme mit Abenteuer- oder Alltagsszenen. Bis zum Ende der DDR 1989 gab es eine west- und eine ostdeutsche Version der Sendung. Seit 1991 wird ein gesamtdeutsches Unser Sandmännchen ausgestrahlt, das beide Traditionslinien zusammenführt. 2014 war das Sandmännchen unter den Drei- bis Fünfjährigen die beliebteste Kindersendung.
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Foto (Ausschnitt) © WDR [A]
Die Sendung mit der Maus (Seit 1971, Westdeutscher Rundfunk/WDR)
Die erste deutsche Wissens- und Unterhaltungssendung, die speziell für Kinder im Vorschulalter produziert wurde, trug einem Ende der 1960er-Jahre aufkommenden Bedürfnis nach einer realitätsbezogen Erziehung Rechnung. Bis heute vermitteln kurze Dokumentarfilme kindgerecht Wissen, kombiniert werden sie mit unterhaltsamen Zeichentrick- und Puppengeschichten. Die Sendung erhielt bis 2016 rund 75 nationale und internationale Preise, wird in fast 100 Ländern ausgestrahlt und auch von Erwachsenen gerne gesehen.
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Foto (Ausschnitt) © ZDF/TV 60
Timm Thaler (1979, Zweite Deutsche Fernsehen/ZDF)
Von 1979 bis 1995 zeigte das ZDF sogenannte Weihnachtsserien für ein junges Publikum, mehrteilige Eigenproduktionen mit Kindern und Jugendlichen in den Hauptrollen. Den Auftakt machte 1979 die 13-teilige Serie Timm Thaler, die Geschichte eines Jungen, der sein Lachen an den Teufel verkauft. Timm Thaler basiert wie viele der nachfolgenden deutschen Kinderserien der 1970er- und 1980er- Jahre auf mehr oder weniger bekannten Literaturvorlagen.
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Foto (Ausschnitt) © Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv/Hans-Joachim Zillmer
Spuk unterm Riesenrad (1979, Deutscher Fernsehfunk/DFF)
Eine der erfolgreichsten Kinderserien der DDR erzählt davon, wie sich drei Märchenfiguren aus einer Geisterbahn selbstständig machen und die Großstadt Berlin erkunden. Die Serie gilt als eine der ersten Versuche des DDR-Fernsehens, dem jüngeren Fernsehpublikum neben einer ideologischen Erziehung auch Phantasieentwicklung, Kreativität und Unterhaltung zu bieten. Spuk unterm Riesenrad wurde in fünf Teilen fortgesetzt, zuletzt mit Spuk am Tor der Zeit (2001/2002).
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Foto (Ausschnitt) © Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv/Johann Wioland
Das Mädchen Störtebeker (1980, Deutscher Fernsehfunk)
Die fünfteilige Realfilmserie erzählt die Geschichte der jungen Antje, die vorübergehend bei ihrem Großvater am Meer lebt. Ihr größter Traum ist es, Steuerfrau auf einem großen Segelschiff zu werden – ein Ziel, das sie mit viel Engagement, aber auch mit List und Tücke wie ihr großes Vorbild Seeräuber Störtebeker verfolgt. Das Mädchen Störtebeker ist typisch für Kinderserien der DDR, die gezielt starke, selbständige Mädchenfiguren in den Mittelpunkt rückten.
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Foto (Ausschnitt) © WDR/Josef Vitek
Luzie, der Schrecken der Straße (1980, Westdeutscher Rundfunk/WDR)
In den frühen 1980er-Jahren beschloss der WDR, seine Kooperation mit dem tschechischen Fernsehen auszubauen, und 1980 startete die sechsteilige Serie Luzie, der Schrecken der Straße. Erzählt werden die Abenteuer des Mädchens Luzie, die sie zusammen mit ihren Freunden und zwei „lebenden“ Knetfiguren erlebt. Aus dieser Zeit stammen auch weitere erfolgreiche deutsch-tschechischen Produktionen, etwa Die Märchenbraut (1981) und Die Tintenfische aus dem zweiten Stock (1986).
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Foto (Ausschnitt) © BR/ Infafilm/Original-Entwurf
Meister Eder und sein Pumuckl (1982, Bayerischer Rundfunk/BR)
Die Abenteuer des kleinen, rothaarigen Kobolds Pumuckl, der bei dem Schreiner Meister Eder lebt und nur für diesen sichtbar ist, wurden ab 1961 zunächst als Radiohörspiele gesendet, von 1982 bis 1989 als Fernsehserie. Die visuelle Umsetzung erfolgte als Kombination aus Realfilm und Zeichentrickelementen, was für eine deutsche TV-Produktion zum damaligen Zeitpunkt einzigartig war. Medienpädagogisch gilt Meister Eder und sein Pumuckl als hochwertig, da der freche, aber niemals böswillige Kobold jüngeren Kindern auf unterhaltsame Weise den Unterschied zwischen Gut und Böse vermittelt.
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Foto (Ausschnitt) © MDR
Schloss Einstein (Seit 1998, Mitteldeutscher Rundfunk/MDR)
Die Geschichten um den Schulalltag und das Leben von Kindern und Jugendlichen im fiktiven Internat Schloss Einstein starteten 1998 als Weekly-Soap, eine wöchentlich erscheinenden Unterhaltungsserie. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk reagierte damit auf die bei jungen Zuschauern immer beliebteren Daily-Soaps des Privatfernsehens. Im Jahr 2016 wird die 20. Staffel produziert, und Schloss Einstein ist damit weltweit die längste fiktionale Kinderfernsehserie. Sie wird von Medienpädagogen gelobt als gelungene Kombination von Unterhaltung und Orientierungshilfe für junge Menschen.
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Foto (Ausschnitt) © NDR/Boris Laewen
Die Pfefferkörner (Seit 1999, Norddeutscher Rundfunk/NDR)
In der Detektivserie für ein junges Publikum lösen fünf Freunde als Ermittler-Team Kriminalfälle. Spielort der Serie ist die Hamburger Speicherstadt, ein historischer Lagerhauskomplex im Hamburger Hafen. Die jungen Detektivinnen und Detektive überführen Antiquitätendiebe, Umweltsünder oder Erpresser. Pädagogisch positiv bewertet werden der kind- und jugendgerechte Umgang mit Kriminalität sowie die gelungene Mischung aus Verbrecherjagd und den typischen Problemen Heranwachsender, etwa Liebeskummer und Streitigkeiten mit den Eltern.
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Foto (Ausschnitt): © WDR/Thorsten Schneider
Wissen macht Ah! (Seit 2001, Westdeutscher Rundfunk/WDR)
Die 25-minütige Sendung zählt zu den erfolgreichsten Wissensformaten für Kinder im deutschen Fernsehen. In jeder Folge werden die unterschiedlichsten Fragen aus dem Alltag beantwortet, etwa: Was ist ein Trojaner? Oder: Wie radiert ein Radiergummi? Als Besonderheiten gelten der schnelle, assoziative Themenwechsel und die Anbindung an die Lebenswelt der Kinder.
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Foto (Ausschnitt) © Studio 100 Animation
Die Biene Maja (1975/2013, Zweite Deutsche Fernsehen/ZDF)
Die 2013 erschienene Animationsserie Die Biene Maja zählt zu den aktuell beliebtesten Kinderserien für die Zielgruppe der Drei- bis 13-Jährigen. Es handelt sich um eine aufwendige 3D-Neugestaltung des Fernsehklassikers Die Biene Maja aus den 1970er-Jahren. Damals entstanden im Rahmen einer Kooperation des ZDF mit einer japanischen Produktionsfirma einige der erfolgreichsten Animationsserien für Kinder im deutschen Fernsehen, darunter neben Die Biene Maja (1975) auch Wickie und die starken Männer (1974) und Heidi (1974).
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Foto (Ausschnitt) © SWR/Tonix Pictures
Mein Bruder und ich (2013, Südwestrundfunk/SWR)
Die mehrteilige Dokumentation richtet sich an ein junges Publikum im Schul- und Vorschulalter. Zwei Geschwister verbringen eine aufregende Zeit in fremden Ländern, erschließen sich den Alltag, lernen die Sprache kennen, gehen vor Ort in die Schule, erkunden interessante Orte und schließen Freundschaft mit einheimischen Kindern, die ihnen die fremde Kultur erklären. Bislang erschienen sind Mein Bruder und ich in der Karibik und Mein Bruder und ich in Südafrika.
Wie haben sich die Kinderserien über die Jahrzehnte inhaltlich verändert?
Die Kinderserien waren früher stärker am Alltag ihrer jungen Protagonisten orientiert – was haben sie in der Schule oder im Elternhaus erlebt? Ende der 1970er-Jahre wurden in Ost- und Westdeutschland auch Spukgeschichten beliebt. Die Inhalte verlagerten sich dabei vom Alltag in die Phantasiewelt der Kinder. In den 1990er-Jahren kehrten die Alltagsgeschichten zurück – wobei man allerdings das Gefühl hat, dass die Kinder in Serien wie
Die Mädchen-WG: Ein Monat ohne Eltern ohne Erwachsene aufwachsen. Seit den 2000er-Jahren dominieren Animationsserien, oft mit Vampiren oder mit wilden Tieren, die vermenschlicht werden, oder mit klassischen Kinderfiguren wie
Heidi oder
Wickie. Programme, die die Realität zeigen und Kindern helfen, ihr Leben zu bewältigen, sind hingegen selten geworden. Während in den Kinderserien der 1970er- und 1980er-Jahre ausgeprägte Individualitäten von Kindern erzählt wurden – selbst in einigen Serien des DDR-Fernsehens, wo eigentlich die Einordnung ins Kollektiv propagiert wurde – stehen in den aktuellen Realfilmserien eher „politisch korrekte“ Erzählungen von Kindheiten im Zentrum.
Zwischen Bildungstradition und Bedeutungsverlust
Wie beurteilen Sie den Bildungsanspruch von Kinderfernsehserien?
Es gibt viele bildungsorientierte Angebote im Fernsehen, etwa
Checker Tobi oder
Die Sendung mit der Maus, die in jeder Folge Wissensthemen unterhaltsam und kindgerecht vermitteln. Für mich ist wichtig, dass diese Bildungstradition weitergeführt wird, es wird jedoch zu wenig experimentiert. Wieso knüpfen Sendungen mit Bildungsanspruch etwa so selten an die Erfahrungen der Kinder mit Computerspielen an?
Brauchen Kinder das Fernsehen überhaupt?
Kinder brauchen Unterhaltung, Kultur, Bildung – und zwar durch Vermittlungsinstitutionen wie Bücher, Radio, Kino, Schule und Sportvereine, aber auch durch Eltern und durch das Fernsehen. Kinder schauen hierzulande im Schnitt 88 Minuten täglich fern, weit weniger als Erwachsene. Das Fernsehen wird für Kinder in den nächsten Jahren noch an Bedeutung verlieren. Dafür werden andere mobile Geräte wie Tablets oder Smartphones wichtiger.
Der Prix Jeunesse und andere Wettbewerbe ermöglichen einen regelmäßigen internationalen Vergleich. In welche Richtung sollten sich die deutschen Kinderserien entwickeln?
In den deutschen Kinderprogrammen dominieren derzeit japanische, US-amerikanische und britische Serien. Deutsche Serien sieht man noch zu selten. Nach der Gründung des Kinderkanals 1997 gab es eine gewisse Euphorie, darüber hat man aber vernachlässigt, genug eigene Programme für Kinder herzustellen. Wir konzentrieren uns auf Erfolgsformate wie
Schloss Einstein. Es ist gut, dass es sie gibt. Aber in den Rundfunkanstalten wird beispielsweise zu wenig darüber nachgedacht, welche kleineren Serien man produzieren könnte. Wir haben auch vergessen, dass man Talente pflegen muss, die kinderaffine Programme schaffen können. Ich stelle gern meine Idee wieder zur Diskussion, einen Sonderstudiengang Kinderfilm zu gründen, der vor Jahren an der Finanzierung gescheitert ist. Bedarf gibt es immer noch.
Prof. Dr. Dieter Wiedemann, geboren 1946 in Liebschitz (CSR), war von 1995 bis 2012 Präsident der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg, heute Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Er ist unter anderem Vorsitzender des Kuratoriums der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (GMK) sowie Mitglied des Kuratoriums der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und hat vielfach über Kindermedien und Medienpädagogik publiziert.