Märchen des späten 19. Jahrhunderts

Märchen vom häuslichen Glück: Eduard Mörikes „Historie von der schönen Lau“

Eduard Moerike (1804-1875), Dichter; 1851; aus „Die großen Deutschen im Bilde“ (1936) von Michael Schönitzer (form Corpus Imaginum), gemeinfreiDer Blautopf in Blaubeuren, August 2006 (ISO 8601), Quelle: Eigenes Werk, Urheber: Björn Appel, Username Warden, Genehmigung: GFDL, CC-BY-SA-2.5, CC-BY-SA-2.0-DEEduard Mörikes „Historie von der schönen Lau“ (1853) ist eines der wenigen Kunstmärchen des literarischen Biedermeier. Im baden-württembergischen Blaubeuren angesiedelt, nutzt es fantastische Elemente nicht zuletzt, um den weiten Raum des Magischen gegen bürgerliche Ideale auszuspielen. Am Ende stehen private Autonomie, Ehe und häusliches Glück.

Blaubeuren am Fuß der Schwäbischen Alb ist ein magischer Ort. Das hat vor allem mit dem sagenumwobenen Karstsee „Blautopf“ direkt beim mittelalterlichen Kloster zu tun. Eduard Mörike entdeckte in dem „großen runden Kessel eines wundersamen Quells“ eine schier bodenlose Unergründlichkeit, die „mit Worten nicht wohl zu beschreiben“ sei: „Die dunkle, vollkommen blaue Farbe der Quelle, ihre verborgene Tiefe und die wilde Natur der ganzen Umgebung verleihen ihm ein feierliches, geheimnisvolles Ansehen.“

Früher, schreibt Mörike, habe der Blautopf als heilig gegolten. Bei Überschwemmungen zogen die Bewohner Blaubeurens einmal sogar in einer Prozession ans Ufer und warfen goldene Schätze „zur Versöhnung der erzürnten Gottheit“ in die Tiefe.

Märchen mit „schwäbischen Charakter“

Noch heute ist das Blaubeuren des Blautopfs eine märchenhafte, etwas verschlafene Idylle. „Überall roch es nach Schwäbisch, nach Roggenbrot und Märchen“, schrieb Hermann Hesse 1953 nach einem Besuch: „Überall duftete es nach Jugend und Kindheit, Träumen und Lebkuchen, Hölderlin und Mörike.“

Dass Blaubeuren als Teil der Schwäbischen Dichterstraße auf ewig mit Märchenkunst aus Deutschland verbunden ist, liegt auch daran, dass Wilhelm Hauff (Kalif Storch, Zwerg Nase, Das kalte Herz) im Kloster am Blautopf zur Schule ging. Der Hauptgrund aber ist, dass Eduard Mörike seine berühmte Historie von der schönen Lau (1853) hier spielen lässt. Tatsächlich ist das Fantastische hier regional eindeutig verortet: Schließlich sollte das Märchen durch Dialekteinschübe, heimische Redensarten und Kinderreime „ganz den schwäbischen Charakter tragen.“

Befreiendes Gelächter

Eduard Moerike (1804–1875), Dichter; 1851; aus „Die großen Deutschen im Bilde“ (1936) von Michael Schönitzer (form Corpus Imaginum), gemeinfrei In der Historie von der schönen Lau hat Mörike eine Wasserfrau mit einer ganzen Heerschar an entenfüßigen Kammerzofen, Mägden, Vögeln und Affen sowie einem „possigen Zwerg“ in ein Tiefseeschloss auf den unergründlichen Grund des Blautopfs verfrachet – verbannt von ihrem Mann, einem alten „Donaunix am Blauen Meer“: weil sie ihm nur tote Kinder gebar und „stets traurig war, ohn’ einige besondere Ursach’“. So wird das Nymphen- und Undinemotiv der Romantik bei Mörike mit der zeittypischen Melancholie verknüpft.

Die schöne, langhaarige – und in romantischer Tradition natürlich blauäugige – „Lau im Topf“ ist eine Kunstfigur, deren Zerrissenheit für die literarischen Helden der Restaurationsepoche zwischen Wiener Kongress (1815) und Märzrevolution (1848) typisch ist: Durch ihre Mutter „halbmenschlichen Geblüts“, fühlt sie sich in ihrer Haut nicht wirklich wohl. Weder gut noch böse, bedroht sie die Existenz der Bewohner Blaubeurens durch Überschwemmungen; gleichzeitig kommt sie beim Klang der Klosterorgel mit halbem Leib sehnsüchtig aus dem Blautopf und hört versonnen zu.

Vor diesem Hintergrund erzählt Mörike die Geschichte von der Erlösung der Wasserfrau durch menschlichen Witz: Allein fünfmaliges Lachen stellt ihre Fruchtbarkeit laut einer Weissagung wieder her. Rettung wird der schönen Lau aber nicht durch ihren zwergenhaften Possenreißer zuteil, sondern durch die dicke Wirtin des Gasthauses „Nonnenhof“ und ihre gutmütige Familie: Über einen offenen Brunnen im Keller mischt sich die Wasserfrau unter die geselligen Bewohner, die sie so oft zum Lachen bringen, dass der Fluch endgültig von ihr abfällt. „Von der Freude verschönt“, reist sie zum Schwarzen Meer zurück, um ihrem Mann die Kinderlosigkeit zu nehmen.

Auf Schusters Rappen in die Ehe

Lau-Statue am Blautopf in Blaubeuren, April 2002, Quelle: geo-en.hlipp.de, transferd by User: oxyman using geograph_org2commons. Urheber: Colin Smith, Genehmigung Creative Commons Attribution Share-alike license 2.0, CC BY-SA 2.0 Eingebettet ist die – selbst humorvoll erzählte – Historie von der schönen Lau in Mörikes Märchenroman Das Stuttgarter Hutzelmännlein, dessen Rahmenerzählung von den abenteuerlichen Wanderungen des armen Schustergesellen Seppe handelt. Zu Beginn seiner Reise bekommt Seppe von einem freundlichen Kobold zwei Paar Glücksschuhe mit der Weisung überreicht, das Frauenpaar unterwegs an die Straße zu stellen, das Männerpaar hingehen anzuziehen. Da Seppe die Schuhe aber durcheinanderwirbelt, muss er „viel Unheil“ überstehen, bevor ihm das stehen gelassene Paar mit Vrone seine große Liebe zuführt.

Am Ende hängt Seppe die vier Glücksschuhe an den häuslichen Nagel. Er heiratet seine Vrone und lebt als Handwerksmeister, „wohlhabender Mann und achtbarer Ratsherr, mit Kindern gesegnet, in Ruh’ mit der Vrone“: Objekt seiner Begierde ist fortan kein Koboldgeschenk, sondern ein „künstlich geschnitzter Eichenschrank“ mit linnener Aussteuer. So entwickelt sich Mörikes Märchen zur Parabel biedermeierlicher Ideale. Seppes Glücksschuhe waren ja ohnehin keine Siebenmeilenstiefel, die den Helden in Windeseile um den Globus jagten, sondern magische Hilfsmittel, die geradewegs in den sittsamen Schoß der Ehe führten.

Schürze bändigt Zaubertopf

Nicht das Magische, so lehrt das Märchen, ist erstrebenswert; nicht in der großen Welt, sondern in der gottgefälligen Enge des Privaten liegt wunschlose Zufriedenheit. „Man sucht erst einmal in der Nähe“, heißt es dementsprechend im Stuttgarter Hutzelmännlein. Das Märchenhafte ist nur ein Zwischenzustand, den es zu überwinden gilt. Selbst die verbannte schöne Lau will nichts lieber als in ihr ordentliches Unterwasserheim am Schwarzen Meer zurück. In diesem Sinn verpufft das Wunderbare, immer auch Fremde und Grausame des Märchens beim Dichter-Pfarrer Mörike im anheimelnden Gelächter.

Auch in der Historie von der schönen Lau ist die Macht der Zauberdinge, die Mörike aus der unergründlichen Tiefe des Blautopfs zieht, buchstäblich – und durchaus ironisch – nur durch Hausrat zu bändigen. Das gilt vor allem für jenen Topf, welchen die Wasserfrau der schwäbischen Wirtin aus Blaubeuren zur Besänftigung ihrer betrunkenen Gäste schenkt. Hat dieser mit geheimnisvoller Musik seine Pflicht erfüllt, muss die Wirtin nur ihre Schürze darüber werfen: „Da wickelt er sich alsbald ein und liegt stille“.

Thomas Köster
ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er arbeitet als Literaturkritiker, Kultur- und Wissenschaftsjournalist (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, NZZ am Sonntag, Westdeutscher Rundfunk) in Köln.

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März 2012

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