Märchen der Romantik

Märchen aus der Gegenwart: E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“

Türknauf, der als Türknauf, der als Apfelweib in E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“ auftaucht, am Stahlschen Schwesternhaus in Bamberg. Autor: Achates, CC BY-SA 3.0E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“ (1814) erzählt vom Studenten Anselmus, der sich nach allerlei verwirrendem Spuk gegen die Vernunftehe mit der Dresdner Beamtentocher Veronika entscheidet – und durch die magische Liebe zur mythischen Schlangenfrau Serpentina seine wahre Bestimmung als Dichter in Atlantis findet. Von Goethe als Produkt eines wirren Geistes verspottet, gilt Hoffmanns Kunstmärchen heute als ein Hauptwerk der Romantik – deren Ideale es zugleich ironisiert.

Wo in Dresden stand das Schwarze Tor, hinter dem das hexenhafte Äpfelweib Anselmus verfluchte, weil er ihren Korb mit Ware umgestoßen hatte? Wo ist das „Linkische Bad“ geblieben, in dem der Held so gern sein Doppelbier getrunken hätte – wenn er das Geld nicht dem Äpfelweib als Entschädigung hätte überlassen müssen? Und wo am „schönen Elbstrom“ blühte jener Holunderbaum, aus dem sich die goldgrüne Serpentina mit ihren Schwestern züngelnd und flüsternd schlängelte, sodass Anselmus ihr in ewiger Liebe verfiel?

In seiner Kindheit hätte Ingo Schulze dies allzu gern gewusst. 2006 hat der in Dresden geborene Schriftsteller beschrieben, wie er die Schauplätze des Goldenen Topfes im Stadtraum aufzuspüren suchte. Dabei „stellte sich jedoch heraus, dass sich an den beschriebenen Orten entweder nur noch eine freie Fläche befand oder etwas anderes“, heißt es bei Schulze. „Deshalb versetzte die kindliche Vorstellungskraft die Figuren in ein imaginäres Dresden, an jenen sagenhaften Phantasieort, den es seit dem 13. Februar 1945 nicht mehr gab.“

Das „serapiontische Prinzip“ des Märchens

Dresden, Augustusbrücke, zwischen 1860 und 1869, Quelle: http://hdl.loc.gov/loc.pnp/cph.3c09072, Fotograf: ungenannt, Public DomainBei Schulze ist das Dresden des Märchens im Bombenhagel untergangen – und so ein Teil des urbanen Mythos geworden. Zur Entstehungszeit des Goldenen Topfes indes war die in die Befreiungskriege gegen Napoleon verwickelte Stadt für den unweit der Eröffnungsszenerie wohnenden Hoffmann mehr als real. Jenen Weg, den Anselmus durch das Schwarze Tor aus der paradiesisch simplen „Glückseligkeit des Linkischen Bades“ ins verwirrend Phantastische beschreitet, ist der damals 38-jährige Dichter selbst oft gegangen, der Blick des Helden über die „herrliche Elbgegend“ ist seinem verwandt. Und vielleicht hat sich ja auch Hoffmann am Elbufer in einer für ihn auch privat und beruflich „düstern verhängnisvollen Zeit“ in das Goldene Zeitalter von Atlantis hinübergeträumt? Schließlich wurzelt das Märchenhafte in seinen Werken ja nicht im exotischen Reich eines „Es-war-einmal“, sondern mitten in der konkreten Alltagswirklichkeit.

Dieses auch im Goldnen Topf waltende Prinzip hat Hoffmann in seinen Serapionsbrüdern (1819–1821) klar formuliert: „Ich meine, dass die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben, sodass jeder nachzusteigen vermag.“ Das Fantastische ist der „wunderbare herrlichste Teil“ des Lebens. Bezeichnenderweise nimmt das (gleich wieder ironisierte) Wunderbare des Goldenen Topfes am „Himmelfahrtstage“ um punkt drei Uhr nachmittags seinen Lauf. Der Germanist Richard Benz hat die Erzählung deshalb ein „Wirklichkeitsmärchen“ genannt.

Zwei Seiten der Medaille

E.T.A. Hoffmann (1776–1822), Public DomainSo sehr sich Alltag und Märchen im Goldenen Topf durchdringen, so verwirrend traumhaft, unwahrscheinlich-labyrinthisch und „alchemistisch“ verstrickt ist auch die Handlung. Alles kann sich jederzeit in alles verwandeln – allein das Äpfelweib des Anfangs wechselt als Wahrsagerin, Kindermädchen, dämonischer Türdrücker oder biedere Kaffeekanne ständig die Gestalt. Strukturierend wirken hier eher Leitmotive (Kristall, Schrift) oder mythische, alchemistische und biblische Vorstellungswelten: Schlange, Apfel, Vier-Elemente-Lehre, Phosphorus- und Atlantis-Mythos.

Strukturierend wirken aber auch die Mächte und Kräfte, die wechselseitig an Anselmus zerren – und die doch immer nur zwei doppelgängerhafte Seiten einer Medaille sind: Auf der einen Seite steht der Konrektor Paulmann mit seiner 16-jährigen Tochter Veronika, die sich durch eine Heirat mit Anselmus schon als zukünftige Frau Hofrat sieht. Auf der anderen Seite steht der Geheime Archivarius Lindhorst mit Serpentina und seinen beiden anderen Schlangentöchtern: ein wegen seiner Verbindung mit der grünen Schlange aus Atlantis verbannter Salamander, den nur die Verheiratung seiner Kinder erlösen kann.

Goldener Goldtopf und dampfende Schüssel

Letztlich wirkt im Goldenen Topf also der in jeglicher Hinsicht ambivalente Konflikt zwischen borniertem Philister- und riskantem Künstlertum, zwischen brüchiger Vernunft und wahnhaftem Rausch, zwischen finanzieller Absicherung und dichterischer Freiheit: ein Konflikt, den der ausgebildete Jurist Hoffmann in seiner Doppelexistenz als preußischer Beamter und Schriftsteller aus eigener Erfahrung kannte.

Dementsprechend ambivalent versieht Hoffmann das Happy End seines Märchens mit den ironisierten Zügen des klassischen Bildungsromans: Während sich Veronika „bei der dampfenden Suppenschüssel“ mit einem schon fertigen Hofrat verlobt, heiratet der Student Anselmus seine Serpentina und erhält den titelgebenden Topf (der einer ursprünglichen Idee Hoffmanns zufolge ein juwelenbesetzter Nachttopf sein sollte) als Mitgift.

Ein Dresdner in Atlantis

Der Goldene Topf ist somit kein „naives“ Volksmärchen wie aus den Sammlungen der Gebrüder Grimm. Er ist, wie im Untertitel angekündigt, ein „Märchen aus der neuen Zeit“: ein durchkomponiertes und poetisierendes, vom Erzähler angeblich in „Vigilien“ („Nachtwachen“) verfasstes Kunstmärchen der Romantik, dessen Form auch Autoren wie Ludwig Tieck, Wilhelm Hauff, Novalis, Adelbert von Chamisso, Friedrich de la Motte Fouqué oder Clemens von Brentano zur Darstellung des Dunklen, Verborgenen, Wahn- und Rätselhaften des Lebens und des menschlichen Innern zu bedienen wussten.

Staatsschauspiel Dresden, „Ein Märchen aus der neuen Zeit“, Premiere am
27. Februar 2010 im Schauspielhaus

Anders als viele dieser Zeitgenossen aber nutzt Hoffmann die romantische Ironie, um die Ernsthaftigkeit märchenhafter Utopien selbst wieder in Frage zu stellen. Während sein Schwiegersohn Anselmus auf einem Rittergut in Atlantis Karriere als Dichter macht, ist der zum Beamtendasein verdammte Salamander Lindhorst weiterhin gezwungen, „seine beiden noch übrigen Töchter an den Mann zu bringen.“ Selbst im Märchenreich sind die bürgerlichen Werte nicht außer Kraft gesetzt, der profane Alltag rankt sich über die gesamte Himmlesleiter bis hinauf ins „geheimnisvolle wunderbare Reich“ des Mythos. Die frühromantische Rückkehr zum Ursprung ist den Helden unmöglich geworden. Den „heiligen Einklang aller Wesen” bietet nur mehr – in einem hübsch ironischen Doppelsinn – „das Leben in der Poesie.“

Für Ingo Schulze hat Anselmus sein Dresden ohnehin mit nach Atlantis genommen: „An seinem Sächsisch wird man ihn dort vielleicht erkennen.“ E.T.A. Hoffmann hätte dieser Einfall sicher gefallen.

Thomas Köster
ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er arbeitet als Literaturkritiker, Kultur- und Wissenschaftsjournalist (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, NZZ am Sonntag, Westdeutscher Rundfunk) in Köln.

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März 2012

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