Mittelalterliche Legenden

Rungholt – das Atlantis der Nordsee

Public DomainKarte von Rungholt, Public DomainIm Verlauf der Jahrhunderte haben sich die Küstenlinien der Kontinente vielfach verändert, so auch diejenige Nordfrieslands. Im Mittelalter versank dort in einer Jahrtausendflut neben vielen Dörfern auch eine Großstadt – Rungholt. Legende oder Wirklichkeit?

Das Rungholt der Legenden

„Heut bin ich über Rungholt gefahren,/ die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren“, dichtete 1882 Detlev von Liliencron, der damals in der Verwaltung der Nordseeinsel Pellworm arbeitete. Auch ein halbes Jahrtausend nach ihrem Untergang war die Stadt in der Erinnerung der Einheimischen noch lebendig. So wussten sie zu berichten, dass die versunkene Stadt alle sieben Jahre in der Johannisnacht vom 23. auf den 24. Juni wieder auftaucht: „Alle sieben Jahre ins Watt musst du gehen,/ Dann kannst du die tote Stadt Rungholt sehen“. Weniger Geduldige konnten sich damit trösten, dass bei den häufigen Sturmfluten immerhin das Glockenläuten der Rungholter Kirche noch zu hören gewesen sei.


Doch lebte das Schicksal der Stadt nicht nur in Schauermärchen weiter, auch ihr Reichtum wurde in den Legenden ins Maßlose übertrieben. Liliencron widmete diesem Umstand eine ganze Strophe seiner Ballade: „Rungholt ist reich und wird immer reicher,/ Kein Korn mehr faßt selbst der größte Speicher./ Wie zur Blütezeit im alten Rom/ Staut sich hier täglich der Menschenstrom./ Die Sänften tragen Syrer und Mohren,/ Mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.“

Entsprechend groß war die Enttäuschung, als in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts im Wattenmeer, das ja bei Ebbe trocken liegt, Siedlungsreste gefunden wurden, die einen sehr armseligen Eindruck machten. Für den Finder und Archäologen Andreas Busch stand außer Zweifel, dass er der Entdecker von Rungholt sei. Und selbstverständlich setzte er all seine Kraft dafür ein, dass das zur anerkannten Lehrmeinung wurde, die bis zur Mitte der Neunzigerjahre alle Gelehrten vertraten. Trotz seiner ‚Entdeckung‘ bewahrte Rungholt seine Anziehungskraft. So vertonte beispielsweise der Hamburger Achim Reichel, der 1963 mit seiner damaligen Beat-Band The Rattles zusammen mit den Rolling Stones durch England tourte, 1978 Liliencrons Ballade.

Fundstücke Rungholt (nördlich von Südfall); Foto: Joachim Müllerchen; CC-by-sa-2.0-de Und in der Tat gab es wenig Anlass, warum Rungholt seine Faszination einbüßen sollte. So berichteten mittelalterliche Quellen, Rungholt habe eine Stiftskirche besessen. Zum Zeitpunkt seines Untergangs, am 15. und 16. Januar 1362, besaßen neben Rungholt nur Kopenhagen und zwei andere Städte in Dänemark und Schleswig-Holstein den Status einer Stiftskirche, also einer Kirche mit angeschlossenem „Kollegium“, in dem Ordensbrüder ähnlich wie in einem Kloster zusammenlebten. Des Weiteren geht aus dem „Erdbuch“ des dänischen Königs Waldemar II. hervor, dass 1231 kein Gebiet in Nordfriesland auch nur annähernd soviele Steuern gezahlt hat wie Rungholt, das also tatsächlich eine reiche Stadt gewesen sein muss. Und noch dazu keine kleine: ein anderer Historiker errechnete aus der Höhe des Steueraufkommens eine mutmaßliche Einwohnerzahl von über 3000, was immerhin einem Drittel der damaligen Größe Hamburgs entsprach.

Expedition ins Wattenmeer

Und so war es wohl nur eine Frage der Zeit, ehe erneut nach Rungholt gesucht wurde. 1994 machte sich der damalige Bremer Ethnologie-Professor Hans Peter Duerr, Verfasser eines fünfbändigen Werkes über den „Mythos des Zivilisationsprozesses“, zusammen mit seinen Studenten auf die Suche. Gemeinsam mieteten sie ein Schiff und ließen sich bei Ebbe im Wattenmeer trocken fallen – an einer Stelle, die mittelalterliche Karten als Standort Rungholts verzeichneten und an der bereits andere Einheimische fündig wurden. Auch wenn ihnen dabei nicht „Goldblech und Flitter“, das nach Liliencron einst die „Syrer und Mohren“ schmückte, in die Hände fiel, so doch nicht wenige Münzen und Schmuckstücke, darunter sogar ein Ring aus Gold. Zwar blieb auch die „Sänfte“ verschollen, doch kamen Krüge zum Vorschein, in denen sich Reste von Datteln, Feigen und Safran fanden, die im Mittelalter über Brügge gehandelt wurden.

Karte von der Region Alt-Nordstrand vor der Buchardi Flut. Ausschnitt aus einer Karte von Johannes Blaeu, Public DomainAuch stießen Duerr und seine Studenten auf Reste wesentlich größerer Häuser als die, die sein Vorgänger Busch an anderer Stelle gefunden hatte, dazu auf das Fundament eines sehr großen Gebäudes, der mutmaßlichen Stiftskirche von Rungholt, und schließlich auf mehr als hundert Brunnen. Mithin also den endgültigen Beweis, dass sich dort nicht nur eine reiche, sondern auch eine große Siedlung befunden hatte: Rungholt.

Doch wie einst Schliemann, dem auch niemand glauben wollte, dass er das legendäre Troja gefunden hatte und dem ebenfalls unterstellt wurde, er hätte seine Fundstücke beim Antiquitätenhändler gekauft und sie selbst an Ort und Stelle gelegt, musste nun auch Duerr gegen Neid und Missgunst kämpfen. Das zuständige Archäologische Landesamt Schleswig-Holsteins zettelte einen Kleinkrieg an, der in einem Landesgesetz gipfelte, das jede Ausgrabung im Wattenmeer aus Umweltschutzgründen verbot, wodurch Duerrs Grabungen illegalisiert wurden. Und von den Funden, die Duerr anfangs noch beim Amt eingereicht hatte, hörte er sogar nie wieder etwas. Schließlich waren die Fronten so verhärtet, dass die Zeitschrift Spiegel die Einsetzung einer „unabhängigen Kommission“ forderte.

Ausschnitt aus einem Testament von 1345 mit der Erwähnung des Namens Rungholt; 1345; Public Domain Das kommt also davon, wenn man als fachfremder Alt-Hippie – Duerr ist ja Ethnologe und nicht Archäologe und kommt zu allem Übel auch noch aus Süddeutschland – etwas entdeckt, wofür das akademische Establishment schon eine Lokalkoryphäe feiert. Schade eigentlich, denn wegen dieses Streits wurde die sensationellste Entdeckung Duerrs, die er im Watt gemacht hat, in Deutschland kaum beachtet: minoische Keramik, die darauf hindeutet, dass dort um 1400 v. Chr. Deutschland von der damaligen zivilisierten Welt entdeckt wurde.

Die Lust am Untergang

Aber warum faszinieren uns untergegangene Städte eigentlich so? Solange sie noch leben, interessieren wir uns doch auch nicht für das Schicksal der Einwohner benachbarter Provinzstädte. Doch kaum sind sie untergegangen, dichten wir ihnen die phantastischsten Eigenschaften an und lassen uns von Hymnen über ihr apokalyptisches Ende unterhalten. Denn genau wie Atlantis oder die große Hure Babylon ist natürlich auch Rungholt wegen der Sünden seiner Bewohner vom Antlitz der Erde weggespült worden. Und ist damit unter anderem Sinnbild der tiefsten Sehnsüchte unseres Unterbewussten, die dank der Erziehung und ihren Strafandrohungen manchmal wohl eher selten ausgelebt werden. Mithin also ein Sinnbild des ewigen Widerstreits zwischen dem Dionysischen und dem Appolinischen.
Tim Jungeblut
Freelancer aus Hamburg

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März 2012

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