Märchenwerkstatt

See der Tränen (Indonesien)

Vor langer Zeit gab es ein Volk, das im tiefen Herzen des Waldes lebte. Alles, was es brauchte, wurde von der Natur zur Verfügung gestellt. Wenn die Menschen essen wollten, gingen sie einfach raus und pflückten die Früchte, die sie mochten, oder sie gingen zu einem klaren Fluss und fingen große, langsam schwimmende, leckere Fische.


Sie bauten ihre Hütten so groß, wie sie wollten, weil das Land kostenlos war. Jeder Tag war wie Ferien. Sie hatten fast immer schönen Sonnenschein. Wenn sie Spaß haben wollten, konnten sie zu einem großen Wasserfall gehen und ein wunderbares Picknick mit der Familie oder mit den Nachbarn machen. Von ihrer Kindheit bis zum hohen Alter brauchten sie keine harte Arbeit zu machen. Aber mit all den Dingen, die sie so einfach bekommen konnten, wurden sie faul. Am schlimmsten war, dass sie nicht mehr lernen wollten. Sie wollten nichts über ihre Umwelt wissen und nichts verstehen, denn sie genossen alles einfach so.

Aber in dem Volk gab es ein Kind, ein sehr neugieriges Kind, das immer alles wissen wollte. Sein Name war Rodiawati. Rodiawati sagte immer: „Warum, Mama? Warum, Papa? Warum, Onkel? Warum, Tante? Warum, warum …?“ „Warum“ war ihr Lieblingswort. Ihre Neugierde war so groß, dass das Dorf es nicht mehr ertragen konnte.

Deswegen ging Rodiawati jeden Tag in den Wald und beobachtete alles, was es da gab. Sie schnitzte in die Bäume viele Dinge, die sie gelernt hatte. Je älter sie wurde, desto mehr Dinge verstand sie. Sie verstand das Wetter. Sie verstand, dass sie und das Volk in einem Tal lebten, das wie ein Becken aussah. Sie wusste, dass es sieben andere Wasserfälle gab, die bis zu 10-mal größer waren als der, den die Dorfleute kannten.

Eines Tages fühlte sie, dass das Wetter sehr komisch war. Fast jeden Tag regnete es, keine Sonne war mehr zu sehen. Sie bemerkte alle Veränderungen um sie herum und schrieb alle ihre Beobachtungen an die Bäume.

An einem Morgen ging sie raus und sie sah, dass die Erde nicht nur nass war, sondern dass das Wasser so hoch wie ihr Knöchel stand. Schnell rannte sie zum Wald und ging zu den 8 Wasserfällen. Da sah sie, dass ungefähr 4-mal mehr Wasser als normal herunterströmte. Es gab auch viele große Bäume, die bei dem schweren Regen weggefegt wurden. Sie lief zur ihren Notizen und erkannte, dass der Regen nicht aufhören würde. Und wenn es so weiter ginge, würde das Tal ganz mit Wasser ausgefüllt.

Sie lief zurück zum Dorf und warnte alle Leute. Aber niemand wollte auf sie hören. Die Menschen wollten das Dorf nicht verlassen, in dem sie sich so wohl fühlten. Rodiawati flehte ihre Eltern stundenlang an, dass sie mit ihr das Dorf verlassen sollten. Aber die beiden wollten nicht. Sie sagten: „Der Regen wird aufhören. Wir wissen das, weil es nie anders gewesen ist.“

Sie weinte. Es brach ihr das Herz, aber es gab nichts, was sie tun konnte. So verließ sie ihr Dorf alleine. Sie ging schnell zu einer versteckten Höhle, die sie gefunden hatte, als sie ein Kind war. Diese Höhle führt nach oben an den Rand des Tales, wo man auf das Tal hinuntersehen konnte.

Sieben Tage blickte sie hinunter ins Tal und weinte, während das Wasser im Tal immer höher und höher stieg, bis es schließlich ganz mit Wasser bedeckt und zu einem See geworden war. Der See wird heute „See der Tränen“ genannt. Aber niemand weiß, wo er liegt.

Wenn sie nicht gestoben sind, leben sie noch heute.
Eka Juan Tri Surya Tedjosiswojo
B2.2-Kurs, Goethe-Institut Jakarta