Märchen aus aller Welt

Das Rätsel der drei Groschen (Slowakei)

colourbox.comEs war einmal ein armer Mann, der musste neben einer Landstraße einen Graben ausheben. Niemand weiß, wie es dazu kam, aber eines Tages fuhr sogar der König auf dieser Straße. Als er den Mann bei seiner schweren Arbeit sah, hielt er an und fragte erstaunt: „Sag‘ mir, guter Mann, wie viel Geld verdienst du an einem Tag, wenn du so hart arbeitest?“

„Gnädiger König, ich bekomme am Tag drei Groschen.“ Der König wunderte sich über den geringen Verdienst und fragte, wie denn der Mann von drei Groschen leben könne. Der antwortete: „Wenn mir das ganze Geld zum Leben bliebe, so wäre dies einfach. Doch ich muss von diesen drei Groschen einen zurückgeben, den anderen verleihen und von dem verbliebenen dritten lebe ich.“

Der König versuchte den Mann zu verstehen und rieb sich mit der Hand über seine Stirn, so als wolle er alles überdenken. Doch er fand nicht heraus, was dieser mit ‚zurückgeben‘ und ‚verleihen‘ meinte. Deshalb bat er schließlich seinen Untertan, das Rätsel aufzuklären.

colourbox.comDa sagte der arme Mensch: „Durchlaucht, es verhält sich so: Ich pflege meinen Vater. Der ist schon recht alt und kann kaum noch aus seinem Bett aufstehen. Aber er hat mich groß gezogen, und ich schulde ihm dafür Dank. Deshalb gebe ich ihm einen von meinen Groschen ab. Dann habe ich aber noch einen kleinen Sohn. Ihm gebe ich den zweiten Groschen, damit ich etwas von ihm bekomme, wenn ich selbst alt bin. Und der dritte Groschen bleibt mir zum Leben.“

Der König begriff und sagte freudig: „Guter Mann, ich habe zu Hause zwölf Ratgeber und Minister. Je mehr ich ihnen aber als Lohn gebe, desto mehr beschweren sie sich, es würde ihnen nicht zum Leben reichen. Wenn ich nach Hause komme, so gebe ich ihnen dein Rätsel auf. Sollten sie jedoch zu dir kommen, um dich nach der Lösung zu fragen, so darfst du sie nicht aufklären, bevor du mein Bild gesehen hast.“

Dann schenkte er dem Mann noch eine Handvoll Dukaten und fuhr weiter. Er war kaum wieder zu Hause, da rief er auch schon seine Ratgeber zu sich. „Ich gebe euch so viel Geld“, sagte er zu ihnen, „und dennoch reicht es euch nicht als Auskommen. Ich habe aber in meinem Land einen Mann getroffen, der verdient am Tag nur drei Groschen. Von diesen drei Groschen gibt er einen als Schuld zurück, einen verleiht er und vom dem verbliebenen lebt er. Und dabei bleibt er ehrlich. Als meine klugen Ratgeber solltet ihr wissen, was hinter dieser Geschichte steckt. Wenn ihr mir aber bis in einer Woche das Rätsel nicht löst, so lasse ich euch alle aus dem Land jagen, denn dann esst ihr nämlich mein Brot zu Unrecht.“

colourbox.comDie viel gerühmten Ratgeber runzelten die Stirn und machten ernste Gesichter und berieten sich lange. Aber sie fanden keine Lösung, weil jeder von ihnen der Klügere sein wollte. Dabei hätte der Verstand eines einfachen Menschen ausgereicht. So vergingen der erste Tag und der zweite. Bald sollten sie vor den König treten, und sie waren dem Rätsel noch immer nicht auf den Grund gekommen.

Schließlich verriet ihnen jemand, wo sie den armen Mann finden würden, der ihnen als einziger aus dieser schwierigen Lage helfen könnte. Sie zögerten nicht und besuchten ihn sogleich. Mit Bitten und mit Drohungen wollten sie ihn dazu bewegen, ihnen das Geheimnis der Groschen zu verraten. Aber der Mann ließ sich nicht einschüchtern. Stattdessen verwies er auf den königlichen Befehl zu schweigen.

„Aber“, so sagte er, „wenn ihr mir ein Bild des Königs zeigt, könnte die Sache vielleicht gut werden, so wie aus dem groben Roggen das feine Mehl entsteht.“ „Wie könnten wir dir ein Bild des Königs zeigen?“, riefen die Ratgeber. „Der König kommt doch nicht auf unseren Wunsch hin zu dir – und wenn, so dürftest du nicht vor ihn treten. Sage uns eine andere Bedingung, die wir erfüllen können, um dich zu einer Antwort zu bewegen.“

„Wenn ihr es nicht selbst herausfindet, so werden wir wohl aus dem gemahlenen Roggenmehl kein Brot backen.“ Die verzweifelten Berater versprachen dem Mann das Blaue vom Himmel herunter, schleppten viel Geld für ihn an, mit dem er auch ohne die Gnade des Königs gut hätte leben können – und all dies nur, um sein Geheimnis zu erfahren. Aber alle ihre Bemühungen ließen ihn kalt. Er verspottete sie sogar, und sagte: „Ihr seid so kluge Herren und könnt Euch doch nicht selbst helfen.“

Endlich hatte der rechtschaffene Mann ein Einsehen mit den hilflosen Fragestellern. Er zog einen der Dukaten aus der Tasche, die ihm der König geschenkt hatte und sagte: „Auf dieser Münze, die ich vom König erhalten habe, ist sein Bild. Ich sehe ihn also, und verstoße deshalb nicht gegen seinen Befehl. Ich darf euch deshalb sagen, was ich will.“ Dann verriet er ihnen, was es mit den drei Groschen auf sich hatte.

Zur festgesetzten Zeit traten die Hofleute vor ihren König und beantworteten ihm seine vor Tagen gestellte Frage. Doch es waren nicht ihre eigenen Einfälle, die sie vortrugen, sondern die Gedanken des armen Mannes. Der König roch sogleich den Braten und ließ den armen Mann holen. Erzürnt fragte er ihn: „Du bist doch ein anständiger Mensch. Wie kannst du da gegen mein königliches Gebot verstoßen und das Rätsel von den drei Groschen aufklären?“
„Gnädigster Herrscher, ich habe mich streng an Eure Anweisungen gehalten und war verschwiegen wie ein Grab. Erst nachdem ich Euer Bild gesehen habe, war ich zu reden bereit. Hier ist es, Ihr selbst habt es mir geschenkt.“ Mit diesen Worten zog er einen Dukaten aus seiner Hosentasche. Dann aber berichtete er von den zwölf Beratern, von ihren Drohungen und von ihren Geschenken, und auch dass er sich über sie lustig gemacht hatte.

„Mir scheint“, sagte der König, „du hast mehr Verstand als meine zwölf königlichen Berater zusammen. In Zukunft wirst du keine Gräben mehr graben, sondern als angesehener Herr in meinem Palast wohnen und neben mir im königlichen Rat sitzen.“ Zu seinen Beratern aber sagte er: „Ihr solltet euch schämen. Was soll ich nur mit euch anstellen? Ihr seid den Lohn, den ich euch gebe, nicht wert. Deshalb werde ich euch in Zukunft nicht mehr Lohn zahlen, sondern euch weniger geben als bisher.“ Die zwölf Männer des Hofes sind nie wieder zum König gegangen, um ihn um eine höhere Entlohnung zu bitten.

Aus: Klasické rozprávky v slovenčine a v nemčine
(Klasische Märchen auf Slowakisch und auf Deutsch), Belimex, Bratislava 2007

Im Zuge der Einheitlichkeit und der besseren Lesbarkeit wurden alle Übersetzungen der internationalen Märchen an die neue Rechtschreibung angepasst.