Digitalisierung und Mehrsprachigkeit
„Welt ist Sprache” - Warum auch in Zeiten der Digitalisierung Sprachenlernen Sinn macht

Sprachen | © Adobe Stock

Machen Übersetzer-Apps das Erlernen einer Sprache bald überflüssig? Was passiert im Gehirn, wenn wir keine Sprachen mehr lernen? Wie kann man heute die Lust auf das Lernen einer Sprache neu wecken? Prof. Dr. M. Sambanis und Prof. Dr. H. Böttger liefern erstaunliche Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften. 

Von Stefanie Eisenreich und Dr. Paula Scholeman

Frau Sambanis, steigen wir doch gleich mit einer provokanten Frage ein: Was bringt es heutzutage noch, eine Sprache zu lernen, wo es doch mittlerweile viele gute Übersetzungsprogramme gibt?

Univ.-Prof. Dr.Michaela Sambanis ist Lehrstuhlinhaberin für die Didaktik des Englischen an der Freien Universität Berlin. Sie verbindet Neurowissenschaften mit Didaktik und schlüsselt Wissensbestände für die Praxisanwendung auf. Univ.Prof. Dr. Michaela Sambanis | © Sambanis Michaela Sambanis: Sprachen zu erlernen trägt natürlich zu vielen Erziehungs- und Bildungsprozessen bei. Welt ist Sprache. Wir beschäftigen uns mit dem Anderen und lernen dadurch andere Kulturen und Traditionen kennen, die uns helfen können, mehr Offenheit zu erlangen. Sprachenlernen ist auβerdem, wirtschaftlich gesprochen, eine kluge Investition mit großer Rendite. Durch das Erlernen von mehr als einer Sprache werden ganz spezifische Wachstums- und Organisationsprozesse im Gehirn angestoßen, die sich auszahlen. Es ist zum Beispiel nachgewiesen, dass es zu einer Verlangsamung des kognitiven Alterns kommt, Demenz setzt vier bis fünf Jahre später ein und nach einem Schlaganfall haben Mehrsprachige eine doppelt so hohe Chance auf Wiederherstellung ihrer kognitiven Fähigkeiten. Wenn man allein im Gesundheitswesen rechnet, was da eingespart werden kann, dann sind das enorme Summen.

Die Technik entfernt uns voneinander und wir leiden darunter

Wir haben heute schon die Möglichkeit, uns einen Ohrstöpsel ins Ohr zu stecken, über den wir in einem Gespräch sofort eine Simultanübersetzung abrufen können. Denken Sie, dass gerade diese Technik dazu beitragen wird, dass das Erlernen von Fremdsprachen weltweit zurückgehen wird?

Michaela Sambanis: Ich hoffe es nicht. Einerseits merken wir natürlich, dass es toll ist, dass wir diese Technik heute haben, sonst könnten wir nicht so miteinander kommunizieren. Auf der anderen Seite aber entfernt es uns auch voneinander und wir leiden darunter. Da nehmen wir uns eine ganze Dimension der Interaktion. Abgesehen davon, will ich mir mal nicht vorstellen, was es für Folgen haben kann, wenn die Menschen hier einfach ihr Gehirn nicht mehr herausfordern. Schauen wir in diesem Zusammenhang einfach einmal auf den Flynn-Effekt. Über viele Jahrzehnte hinweg konnte man sehen, dass wir im Prinzip immer klüger werden. Seit ein paar Jahren stagniert er oder geht sogar zurück. Der Flynn-Effekt lässt darauf schließen, dass wir auf bestimmten Gebieten unsere eigentlichen Kapazitäten nicht mehr ausnutzen. Und spannenderweise betrifft dies vor allem einen der Bereiche, in dem Technik heute eine sehr große Rolle spielt, nämlich die Navigation. Wer von uns macht denn wirklich noch in seinem Gehirn ein Abbild von Orten? Wir nehmen sofort das GPS und wissen im Prinzip nicht mehr, wie wir uns ohne orientieren könnten. 

Einsprachigkeit ist kulturelle Armut

Was bedeutet Mehrsprachigkeit für eine Gesellschaft?

Heiner Böttger ist Professor für Englischdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sein Forschungsinteresse konzentriert sich aktuell auf Mehrsprachigkeit und die Language educational neurosciences. Professor Heiner Böttger | © Böttger Heiner Böttger: Ich war in 2015 in Auckland (Neuseeland) auf einer Konferenz zu Mehrsprachigkeit. Dort hat ein Maori-Professor nach 15 Minuten seiner Keynote angefangen zu weinen. Warum? Die aus Großbritannien bildungspolitisch scheinbar stark gesteuerte Regierung hatte kurz vorher entschieden, dass alle Schulen dort mit Englisch als genereller Schulsprache beginnen sollen. Jetzt muss man wissen, dass in einer Grundschule in Auckland bis zu 64 Insel-Sprachen vertreten sein können. Wenn das Englische nun die erste Schulsprache ist, sterben die indigenen Insel-Sprachen aus: In der nächsten und übernächsten Generation wird sie niemand mehr sprechen. Und dann haben die Briten über ihren Einfluss auf die sprachbezogene Bildungspolitik doch noch erreicht, was sie mit der Kolonialisierung nicht erreichen konnten. Durch die Diktatur einer einzigen Sprache, hier jetzt am Beispiel Englisch für Neuseeland, sind wir Zeugen eines kulturellen Niedergangs und eines Niedergangs der “languages of origin”.
 

Letztlich gibt es diese Diktatur der Sprache ja weltweit. Da hat sich Englisch als Weltsprache durchgesetzt.

Heiner Böttger: Das führt tatsächlich zu einer Erkenntnis, die unzufrieden macht. Wir müssten eigentlich wegkommen von der Ideologie des Wertes einer bestimmten Sprache und sollten mehr darauf schauen, was man alles mit vielen Sprachen bewirken könnte – und eben nicht nur mit Englisch als lingua franca. Welche Mythen sich da zusätzlich halten: Oft heiβt es doch, Englisch sei eine leichte Sprache. Das ist bis zu einem gewissen survival-level auch tatsächlich so. Aber wenn es auf eine andere Anforderungsebene geht, dann wird es schwer, dann besteht Englisch nur zu einem kleinen Teil aus festen Regeln, alles weitere jedoch ist der Sprech- oder Schreibintention freigestellt.

Lernen muss greifbar und alltagstauglich sein

Im Gegensatz zu Englisch, gelten Deutsch und Französisch als schwer zu erlernen. Inwiefern spielen denn solche Vorurteile eine Rolle beim Erlernen einer Sprache? Was macht das Erlernen einer Sprache attraktiv?

Michaela Sambanis: Wir wissen natürlich aus der didaktischen und auch aus der psychologischen Forschung, dass Einstellungen hier ein ganz wichtiger Einflussfaktor sind. Man darf aber nicht vergessen, dass gerade Englisch in unserer Lebenswelt sehr präsent ist. Es ist die Sprache des Internets und der Medien. Sie ist Teil der Jugendkultur. Man fühlt sich damit vertraut und merkt im Alltag damit auch: Das nützt mir etwas. Die anderen Sprachen sind in der Regel weniger präsent, was natürlich zur Relevanz des Faches beiträgt. Spannend ist in diesem Zusammenhang die Forschung zu Langeweile. Es gibt Forschungsarbeiten, die zeigen, wie langweilig Schüler und Schülerinnen (im Teenageralter) die einzelnen Schulfächer finden und warum. Aus Schülersicht schneidet Musik schlecht ab, dicht gefolgt von Physik und Mathematik. Englisch hingegen wird günstiger beurteilt. Die Schüler empfinden dieses Fach als nützlich und können es direkt anwenden. Sie können ihre Meinung einbringen, aktuelle Themen besprechen und einen Alltagsbezug erkennen. Das sind Faktoren, die bei der Bewertung eine Rolle gespielt haben. Sie können als Anstöße genutzt werden. Lernen muss greifbar und alltagstauglich sein und vor allem Relevanz bieten.

Sprachbegabung ist anerzogen

In welcher Form spielt Sprachbegabung eine Rolle und inwiefern ist das im Gehirn messbar?

Michaela Sambanis: Einer der führenden Forscher auf dem Gebiet ist Dr. Jentschke, der in Norwegen an der Universität in Bergen als Psychologe und Neurowissenschaftler zur Abbildung und Verarbeitung von Musik und Sprache im Gehirn forscht. Laut Jentschke gibt es bislang keinen belastbaren Hinweis auf eine angeborene Sprachbegabung, vielmehr scheinen zwei Faktoren relevant: Erstens der Zeitpunkt, zu dem jemand anfängt, etwas zu üben. Zweitens die Zeit, die fürs Lernen und Üben investiert wird. Die Forschungslage spricht eher gegen etwas Angeborenes und dafür, dass wir etwas entfalten, das eigentlich in uns allen schlummert, aber bei manchen nicht wachgeküsst wird. Ich würde dennoch bestätigen, dass die genetische Ausstattung existiert und einer Art Flaschenhals-Struktur entspricht. Wenn ich keine Flügel habe, dann werde ich auch nicht erfolgreich fliegen. Für uns Didaktiker ist neben dem Faktor Zeit (Beginn, Dauer und Häufigkeit des Lernens) vor allem die Qualität der Interaktion ein ganz wichtiger Faktor.

Wie lassen sich bereits entstandene Sprachbarrieren wieder lösen?

Michaela Sambanis: Das Gehirn ist wandelbar und man muss viel Positives entgegensetzen, um umzulernen. Also: Ganz viele Chancen schaffen, durch die ich merke: “Oh, ich kann doch!” Mit kleinen Schritten, Beispielen, positiven Vorbildern kann das Gehirn umlernen. Aber man braucht Geduld, denn im Gehirn hat sich ein Netzwerk aufgebaut, in dem diese Aversion gegen die Sprache verankert ist. Das ist hoch emotional aufgeladen. Man muss dieses Netzwerk im Prinzip rückbauen und ein neues aufbauen. Wenn erstmal ein Netzwerk da war, das man ersetzen oder kompensieren will, dann muss das neue noch stärker sein als das alte Netzwerk. Erfolgserlebnisse und positive Eindrücke und Erfahrungen helfen dabei, solche Teufelskreise zu durchbrechen.

INTERVIEWPARTNER:

Heiner Böttger ist Professor für Englischdidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sein Forschungsinteresse konzentriert sich aktuell auf Mehrsprachigkeit und die Language educational neurosciences.

​INTERVIEWPARTNERIN:

Univ.-Prof. Dr.Michaela Sambanis ist Lehrstuhlinhaberin für die Didaktik des Englischen an der Freien Universität Berlin. Sie verbindet Neurowissenschaften mit Didaktik und schlüsselt Wissensbestände für die Praxisanwendung auf.

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