Auszug aus den  Aufzeichnungen der Zeitreisenden Alyx V

Messer in den Wolken mit der Aufschrift "Simple and Honest"
Zeitreisen © Maria Krafft

Überfluss, aber auch Mangel prägen die Abenteuer einiger zeitreisender Nachfahrinnen der Alyx, einer Figur aus den Romanen der US-amerikanischen Schriftstellerin Joanna Russ, entdeckt im transtemporalen Stream. Ein Auszug aus den vollständigen Aufzeichnungen.
 

Aufzeichnungen der Zeitreisenden Alyx V, Nachfahrin der Alyx (der Joanna) oder: Eine Ideengeschichte 


Vor 10 418 Jahren
Eine Riesin im Chiton erscheint in einem Seitenarm des Euphrat. Die Riesin heißt Alyx IV.

Vor 10 417 Jahren
Alyx IV bringt Alyx V zur Welt.

Vor 10 402 Jahren
Erster großer Streit zwischen Alyx IV und Alyx V
Alyx V verlässt die Gemeinschaft, bewaffnet nur mit ihrem Messer Feuerstein und Horn. Drei Wochen verbringt sie allein im Wald, wo sie von Fast Gar Nichts lebt.

Vor 10 400 Jahren
Abholung Alyx V durch die Transtemporale Behörde

Vor ca. 500 Jahren
Beginn anthropogener Klimawandel

Vor 450 Jahren – Vor 447 Jahren
Die US-amerikanische Autorin Joanna Russ schreibt Alyx V’s Vorfahrinnen Alyx I bis III.

Vor ca. 300 Jahren
Abschmelzen des arktischen Eisschildes, Anstieg des Meeresspiegels um 70cm, Miami, New York, Venedig, London, Honk Kong, Mumbai unter Wasser

Vor 42 Jahren
Geburt Alyx IV, Beruf: Zeitreisende für TransTemp

Vor 19 Jahren
Alyx IV hat „die Schnauze voll“, Reise ins Mesolithikum

Vor 3 Jahren
TransTemp entwickelt die Idee des transtemporalen Schülyaustauschs als Mittel gegen Zukunftslosigkeit. Man hat vorher schon „alles Mögliche“ versucht gegen die Zukunftslosigkeit. Zum Beispiel haben sie versucht, andere Wörter zu benutzen. Statt von „Verzicht“ zu sprechen, haben sie zum Beispiel von „anderen Konsummustern“ gesprochen. Das hat alles nichts gebracht.

Nun wollen sie die Sache anders angehen: Es fehlt nicht am Wissen, sagt TransTemp. Es fehlt uns an einer gemeinsamen Utopie, am Unmöglichen. Weniger muss cool werden. Und kann man sich eine bessere Utopie denken als die verklärte Vorstellung vom ursprünglich menschlichen Zusammenleben in egalitären Gemeinschaften der Urzeit? Nein.

Und wer könnte die Utopie besser vermitteln als jene, die sich an sie als Heimat erinnern, in welche sie nicht zurückwollen? (Nostalgie)

Und wer ist cooler als rebellische Teenagys?

Vor 2 Jahren
Launch des Pilotprojektes TransTemp for Utopia

Vor 1 Jahr
Alyx IV (ab jetzt nur noch Alyx) kommt in eine Familie aus drei Erwachsenen und zwei Kindern. Beim ersten gemeinsamen Abendessen erklärt Mom den Kindern: Alyx wird jetzt ein Jahr lang bei uns wohnen. Habt ein bisschen Geduld mit ihr, wir haben das besprochen, sie wird am Anfang vieles nicht begreifen, weil sie aus einer anderen Zeit kommt. Sie ist perfekt angepasst an ein ehrliches und einfaches Leben. Sie kommt mit allem klar, auch mit Fast Gar Nichts. Sie hat „einzigartige und sonderbare Fähigkeiten“, zu denen auch gehört: Hoffnung. Sie soll uns beibringen, was sie kann und weiß und hofft, ok? Damit wir unsere Welt retten können. Die Kinder CD und Rom schauen Alyx an. Alyx beißt von ihrer dritten Hähnchenkeule ab. Hähnchen ist mein Lieblingsessen, sagt sie mit vollem Mund.

Vor ca. 5,5 Monaten
Alyx isst zum ersten Mal raffinierten Zucker. Ihre Gasteltern haben ihr geraten, keinen raffinierten Zucker zu essen, aber Alyx ist neugierig und rebellisch. Der raffinierte Zucker knallt richtig rein. Sie denkt: Zucker ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Zucker ist mein Lieblingsessen.

Vor 5,4 Monaten
CD spielt mit einer Elektro-Katze. Einmal habe ich einen gefährlichen Tiger im Sprung erstochen mit einem angespitzten Ast, sagt Alyx. CD ist erst elf Jahre alt und beeindruckt. Rom kämmt sich gerade mit ihren Freundys Veron und Laika Laika das meterlange Haar, in welchem kleine, glänzende, fischartige Wesen schwimmen. Das glaube ich nicht, sagt sie. Ich habe eine gute Menschenkenntnis, das weiß ich schon, seit ich fünf bin, deswegen spür ich, dass du lügst.

Vor 5,3 Monaten
Alyx kauft sich von dem Geld ihrer Gasteltern drei Kilo Mäusespeck der Marke Mäusespeck.

Vor 5,2 Monaten
Alyx entdeckt die Schwerelosigkeits-Funktion im Bad. Die Schwerelosigkeitsfunktion verbraucht sehr viel Energie, das weiß sie aus der Schule. Sie nimmt zum ersten Mal ein Bad in einer Wasserblase.

Vor 5,1 Monaten
Alyx geht mit Rom auf eine Party.
Auf der Party gibt es Vine. Vine ist ein buttrig gelbes alkoholisches Gesöff, das mit einem Alkaloid der Ballerblätter vom Ballerbusch vom Planeten Baller versetzt ist. Das Zeug knallt richtig rein.

Alyx lernt Hund kennen. Hund ist ein Jugendlicher, der sich Hund nennt. Hund erzählt Alyx, dass er früher Kommunist war. Jetzt ist er desillusioniert. Sein Name ist Hund, sagt er, weil er immer die ganze Hand nimmt, wenn ihm jemand den kleinen Finger reicht. Er trägt Patches aus Fell überall am Körper und hat eine immer feuchte Hundenase. Hund hat einen melancholischen Blick drauf, wie jemand, der alles weiß und nichts wissen will. Das gefällt Alyx.

Hund läuft ihr hinterher und tut alles, was Alyx ihm befiehlt. Wenn sie ihm befiehlt, ihr ein Glas Vine einzuschenken, schenkt er ihr ein Glas Vine ein. Als sie ihm befiehlt, ihr den Nacken zu massieren, massiert er ihr den Nacken, und als sie ihm befiehlt, sie zu küssen, küsst er sie. Sie hat schon einmal jemanden geküsst, das ist 10 400 Jahre her.

Später wacht sie in ihrem Bett auf. Vor ihrem Bett liegt Hund. Was ist los, fragt sie und kichert. Du warst betrunken. Ich hab dir Suffweg gegeben, sagt Hund und leckt ihre Hand ab, die vom Bett hängt.

Vor 4,8 Monaten
Alyx entdeckt die orangenen Pillen.  

Vor 4 Monaten
Alyx muss zum Arzt. Der Arzt zieht ihr alle Zähne, weil sie kaputt sind oder bald kaputt gehen würden. Sie darf sich neue aussuchen und nimmt welche, die bläulich transparent sind.

Vor 3,6 Monaten
Alyx lernt über ihren Dealer Hanky kennen. Hanky ist sechzig und wohnungslos. Er lebt in einem zwei mal drei Meter großen Karton hinter einer Oberflächenfarbenfabrik.

Vor 2,5 Monaten
Alyx macht mit ihrer Gastfamilie einen Ausflug.
Weißt du, wir sind alle „noch nie ohne Ärzte und Wächter und Helfer und Fahrzeuge und Kameras gewesen“, sagt Pops, schaut sich um und kichert. Hanky kichert auch. Alyx hat gefragt, ob er mitkommen darf. Die anderen waren nicht begeistert, aber es war Alyx egal. Allein einen Feldweg entlangzugehen, ist schon ein Abenteuer für uns, was dir, wie ich mir vorstellen kann, denn ich bin, sagt man mir, ein empathischer Mensch, höchstens ein müdes Lächeln abringen kann, oder?

Bei uns gibt es keine Felder, ergo auch keine Feldwege, sagt Alyx müde. Als sie Pops‘ Gesicht sieht, sagt sie: Aber ja. Du hast Recht.

Es ist Pops‘ Ich-Feiertag. Und er hat sich einen Ausflug gewünscht, eine kleine Wanderung, um auf einer Wiese ein Picknick zu machen und dann an einem See zu schlafen. Alles draußen. Alyx soll ihnen ihre Survival Skills beibringen, aber bisher sind überhaupt keine Skills nötig gewesen, außer einen Fuß vor den anderen zu setzen und ein paar Kilo im Rucksack zu tragen, was den anderen außer Hanky allerdings schon Probleme zu bereiten scheint. Sie schwitzen und stolpern, Rom murrt, und Mom würde auch gerne murren. Rom trägt ihre Haare um den Hals gewickelt. Darunter schwitzt sie. CD, hast du Lust, meine Haare zu tragen, fragt sie süßlich. CD schüttelt den Kopf. Hanky? Hanky, hast du Lust, meine Haare zu tragen, fragt sie Hanky. Hanky betrachtet ihre Haare mit den Fischies drin. So schön, sagt er und streckt eine Hand danach aus. Alyx dreht sich um und winkt ihm zu. Hanky? Hanky komm mal her, ich will dir was sagen. Rom schaut Alyx böse an. Und wir müssen das alles auch wieder zurück, sagt sie zu CD.

Upsi, sagt Pops. Ihm ist ein Ast ins Gesicht geschnippt. Upsi sagt Hanky und grinst. Er hat keine Zähne – weder echte noch unechte. Die Sonne knallt, es ist sau heiß. Pops, der ungewöhnlich weiß für die Zukunft ist, hat schon einen leichten Sonnenbrand auf der Nase, trotz Sonnenschutz.

Plötzlich heult Rom auf, sie ist über ihre Haare gestolpert und hat sich das Knie aufgeschlagen. Sie schreit.

Mom und Mam und Pops rennen zu ihr und ringen hilflos mit den Händen. Pops weint. Sie schauen Alyx an. Alyx betrachtet die Wunde, und sagt: Halb so wild. Spuck drauf.

Was?

Spuck drauf! Mach schon. Das ist gut für die Heilung und gegen den Schmerz.

Hanky spuckt sich auf den Finger und will damit Roms Wunde berühren. Rom schubst seine Hand weg und spuckt selbst auf ihre Wunde.

Und schneid dir endlich die Haare, sagt Alyx und geht weiter.

Alyx holt die Schachtel mit den orangenen Pillen aus ihrer Hosentasche und öffnet sie. Pops sagt: Mmm Alyx, vielleicht… ich hab gedacht… vielleicht wäre es besser, wenn du damit aufhören würdest, für dich, mein ich. Zu deinem eigenen Wohl. Nur so ein Gedanke. Er hat Tränen in den Augen.

Wieso, fragt Alyx.

Es schadet einem auf Dauer, es… schadet… es verändert die Psyche, es macht abhängig, und der Magen, der ganze Stoffwechsel… Ich würds dir besser erklären können, wenn ich Zugriff hätte, aber… hier draußen…

Du wirst gaga, sagt Hanky. Pops reagiert nicht. Alyx schließt die Schachtel wieder und steckt sie ein. Ihr könnt doch eh alles reparieren, den Magen, den Kopf, die Zähne.

Nicht alles, sagt Pops. Und wir können nicht Abhängigkeiten kurieren.

Alyx lässt sich etwas zurückfallen, bis sie neben CD läuft. Alyx lächelt CD an, zieht lächelnd die Schachtel aus der Hosentasche und lässt sich lächeln den gesamten Inhalt auf die Zunge fallen.

Hmmm, sagt sie. CD schaut sie irritiert an. Er öffnet den Mund, sie legt ihm einen Finger auf die Lippen.

Alyx? Alyx, fragt Pops. Alyx steht vor einem Baum und kommt nicht weiter. Der Baum ist im Weg. Alyx? Was ist los mit ihr?

Sie hat alle genommen, flüstert CD. Alyx versucht, den Baum freundlich aus dem Weg zu schieben. Dürfte ich wohl mal… Meine Familie möchte hier lang, sagt sie. CD lacht, dann fängt er an zu weinen. Mom nimmt ihn auf den Arm. Wir sind gleich da, sagt Pops mit unsicherer Stimme. Was sollen wir jetzt machen, fragt CD. Pops und Mam stehen neben Alyx und reden auf sie ein. Moment, sagt Hanky. Er legt Alyx eine Hand in den Nacken und zieht sie ein Stück zurück, Alyx geht ein paar Schritte rückwärts, dann führt Hanky sie am Nacken an dem Baum vorbei und weiter vorwärts. Alyx läuft, über ihr blutet der Himmel, und die Sonne schreit, schreit, als wäre sie erleichtert, endlich schreien zu dürfen. Als sie den Horizont berührt, seufzt sie.

Plötzlich sitzt sie auf einem Baumstumpf, Pops kniet vor ihr. Alyx, du musst uns zeigen, wie man Feuer macht, aus Holz und dieses Messer benutzt. Alyx, bitte. Wir haben keine Ahnung, wir sind aufgeschmissen hier draußen ohne dich. Alyx sagt: Schööööön. So schön. Sie streichelt ihm über das Gesicht. So weich, sagt sie. Feuer. Pops fängt wieder an zu heulen. Oh nein, sagt Alyx und hebt die Arme. Nein, oh nein.

Schon gut, sagt Hanky zu ihr oder zu Pops. Er sammelt irgendwelchen Trash zusammen, der herum liegt, irgendwelches brennbares Zeug, schichtet es übereinander und macht ein Feuer. Pops, Mam, Mom, Rom und CD setzen sich ans Feuer und schauen in die Flammen. Hanky hilft ihnen, ihr Abendbrot über dem Feuer zuzubereiten. Sie schweigen. Alyx denkt an Alyx I. Sie bewegen sich auf der Erde wie Tourys. Sie sind so weich, denkt Alyx. Sonderbar eigentlich, dass sie keine blauen Flecken bekommen, wenn man sie grob anredet.

Hanky bleibt fast die ganze Nacht wach, während die anderen in ihren Schutzsäcken schlafen. Nur einmal kurz döst er ein, für ein paar Minuten. Ab und zu sieht er nach Alyx, ob es ihr noch gut geht, gibt ihr ein bisschen Wasser und ein paar Krümel von seinem Müsliriegel.

Hanky und Alyx bereiten das Frühstück vor. Nacheinander wachen alle auf, sie schweigen. Rom verschwindet irgendwo im Feld. Nach dem Frühstück packen sie alles zusammen und wollen sich auf den Rückweg machen. Rom, ruft Pops. Rom, wir wollen los.

Rom kommt aus dem Gebüsch, mit zusammengebissenen Zähnen. Ihr Zopf hängt aus ihrem Rucksack. Ihr kurzes Haar weht leicht ihr um die Ohren, die Fischies haben sich auf ihrem Scheitel gesammelt. Alyx hat das Gefühl, etwas Großes, Trockenes herunter schlucken zu müssen.
 

Die Vollständigen Aufzeichnungen

Messer in den Wolken mit der Aufschrift "Simple and Honest"

Zeitreisen | © Maria Krafft

Überfluss, aber auch Mangel prägen die Abenteuer einiger zeitreisender Nachfahrinnen der Alyx, einer Figur aus den Romanen der US-amerikanischen Schriftstellerin Joanna Russ, entdeckt im transtemporalen Stream. Die vollständigen Aufzeichnungen.
© Charlotte Krafft/Goethe-Institut


 

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