Jenseits der Parolen  Von Idioten und anderen Heiligen

Von Idioten und anderen Heiligen © Ricardo Roa

Blödsinn als Strategie eines absoluten, unnachgiebigen Widerstandes gegen gesellschaftliche Missstände, eines kompromisslosen Protests? Das ist nicht neu: Über die revolutionären Strategien historischer Quatschköpfe.

Man stelle sich vor: Ein nackter, verwahrloster Mann läuft am helllichten Tag die 5th Avenue hinunter (oder den Kurfürstendamm) und schleift hinter sich den Kadaver eines Hundes her, reißt sich vor dem Kranzlereck (oder vor Tiffany‘s) die Klamotten vom Leib, kackt auf die Straße, geht ins nächstbeste Kaufhaus, zerschlägt die Vitrinen der Auslegeware, schnappt sich eine Taschenlampe, mit der er laut lachend herumfummelt, und wenn ihn Passanten entsetzt fragen, was mit ihm denn los sei (während die Polizei anrückt), ruft er verzweifelt: „Ich suche einen Menschen.“

Diese Figur ist keine historisch überlieferte, sondern eine Kombination verschiedener Typen, die in der griechischen Antike und im byzantinischen und ostkirchlichen Raum als Außenseiter und unversöhnliche Kritiker gesellschaftlicher Zustände fungierten: die Saloi und Jurodivyj (in der Ostkirche) und die Kyniker im antiken Griechenland, unter denen Diogenes von Sinopie (der Mann im Fass, der Alexander dem Großen befahl, ihm aus der Sonne zu gehen) der bekannteste ist.
Der griechische Philosoph Diogenes (404-323 v. Chr.) sitzt in seiner Behausung, einem Pithos, in der Metroon, Athen. Seine Begleiter waren Hunde, die auch als Symbole seiner "Zyniker" (Griechisch: "Kynikos," Hundeähnliche) Philosophie dienten.

Der griechische Philosoph Diogenes (404-323 v. Chr.) sitzt in seiner Behausung, einem Pithos, in der Metroon, Athen. Seine Begleiter waren Hunde, die auch als Symbole seiner "Zyniker" (Griechisch: "Kynikos," Hundeähnliche) Philosophie dienten. | © Jean-Léon Gérôme, Public domain, via Wikimedia Commons

Ein Typus des absoluten, unnachgiebigen Widerstandes

Auch wenn sie zu mythischen Figuren verschwimmen, es gab sie wirklich: Simeon von Emesa (6. Jh.) und Andreas von Byzanz (10. Jh.); den Asketen Basil (1468-1552/57), der nackt in den Straßen Moskaus predigte und gegen Ivan den Schrecklichen aufbegehrte (ihm ist die am Roten Platz gelegene Basilius-Kathedrale gewidmet); Xenia von Petersburg, (1719/1730-1803), die nur in Männerkleidern auftrat und sich ausschließlich mit dem Namen ihres verstorbenen Mannes ansprechen ließ; Griša von Kočetovka (1851-1906), der, mit Kinderspielzeug behängt, sich als Bräutigam Christi verstand. Sie boten den Mächtigen Paroli, verhöhnten Könige und Zaren und sprachen die Wahrheit über faule, trunksüchtige Kleriker und korrupte, blutrünstige Herrscher aus. In einer verkehrten Welt stellte der Irrsinn, den sie praktizierten — mit den Hunden essen, aus Pfützen trinken, sich katatonisch zuckend auf dem Boden wälzen, lallen, schreien, nackt in der Öffentlichkeit tanzen — als Verkehrung einer fehlgeleiteten Vernunft die Erinnerung an eine richtige, eine gute, eine wahrhaft vernünftige Welt wieder her. Saloi, Jurodvij und Kyniker stellen gemeinsam mit der (westlichen) Figur des idiotā, wie sie Franz von Assisi personifiziert, einen Typus des absoluten, unnachgiebigen Widerstandes gegen gesellschaftliche Missstände, eines kompromisslosen Protests dar. Dies unterscheidet sie von den Narren, die jeweils für begrenzte Zeit (Karneval, Fasching) und oft im Dienst eines Herrschers verkehrte Welt spielen und dabei doch nur zur Belustigung ihrer Herren beitragen. Nichts aber liegt dem Salos oder dem Kyniker ferner als Spaß, Humor oder Ironie; ihm geht es ums Ganze, immer, und hierbei kennt er weder mit sich noch mit seinen Mitmenschen Pardon.

Die schonungslose hässliche Wahrheit

Man kann in der Figur des Punks (und seinen Vorläufern im Dadaismus) den Nachhall dieser Figur des Protests sehen; dem Punk geht es nicht mehr um „konstruktive Kritik“, die engagierte Mitmenschen gerne verlangen, wenn sie meinen, man flicke ihnen zu Unrecht am Zeug; ihm geht es um die schonungslose hässliche Wahrheit über eine hässliche und verirrte Welt. Der Lärm und der Schrei sind seine Artikulation eines „Wahrsprechens“ (parrhesia), wie man das unverblümte Aussprechen unangenehmer Wahrheiten nannte, durch die sich der oben erwähnte Diogenes hervortat. Und wie der Salos und Kyniker ist der Punk ein durchaus unangenehmer Zeitgenosse: er pflegt einen Kult des Hässlichen, der Provokation und abstoßenden Unnahbarkeit, die dem Bürger als widerliche Perversion erscheint, dem Punk aber lediglich Spiegelbild einer pervertierten Gesellschaft ist.

Im nachsowjetischen Russland gab es eine Reihe von Künstler*innen wie Aleksandr Brener und Oleg Kulik, die in der Tradition der Jurodivyj gegen den sich formierenden Oligarchenstart protestierten. Am klarsten aber stehen die Künstlerinnen von Pussy Riot in dieser Tradition: Nadeschda Andrejewna Tolokonnikowa, eine der Musikerinnen von Pussy Riot, die nach ihrem „Punk Gebet“ in der Moskauer Erlöser-Kathedrale (21.2.2012) verhaftet, angeklagt und zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt werden, bezieht sich während des Prozesses, der zu ihrer Verurteilung führt, explizit auf die Figur des Jurodivyj. Sie stellt sich somit in eine spezifisch russische Tradition des Widerstands und des Protests ein, die Zar Iwan gleichermaßen verhasst war wie den heutigen Machthabern und Patriarchen.

Trete nie nach unten

Die abstoßenden Abstrusitäten und skatologischen Kapriolen der Saloi, Jurodivyj und Kyniker sind, das muss man zugeben, nicht wirklich lustig. Ihre „Umwertung der Werte“ (nicht umsonst befasste sich Nietzsche ausgiebig mit den Figuren des Kynikers und des Idioten) ist todernst gemeint. Das Groteske ist Fassade, hinter der sich beinharte Kompromisslosigkeit verbirgt. Doch was ihnen – von Simon von Emesa bis Pussy Riot – nie fehlt, auch wenn ihnen Humor abgeht, ist Empathie. Die Umwertung der Werte korrigiert das aus den Fugen geratene moralische System: Die Ersten werden die Letzten sein. Oder: trete nie nach unten.

Einführende Literatur:

  • Christoph Münch, In Christo närrisches Russland. Zur Deutung und Bedeutung des jurodstvo im kulturellen und sozialen Kontext des Zarenreiches, Göttingen 2017.
  • Heinrich Niehues-Pröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, Frankfurt am Main, 1979.
  • Michel Foucault, Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II, Vorlesungen am Collège de France 1983 / 1984, Berlin 2010.
  • Thomas Lau, Die heiligen Narren. Punk 1976-1986. Berlin/New York 1992.

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