Pine Ridge Reservation  Indian Land: Kunst ist Überleben

Eine Collage, bestehend aus einem Mann mit geflochtenen Haaren und der Aufschrift „Wir sind das Volk“ in seinem Gesicht. Ein blauer Kreis und ein Bild eines Straßenschildes im Hintergrund © Ricardo Roa/Tatjana Brode

Die Pine Ridge Reservation ist ein Ort des Mangels und gleichzeitig das Herz kultureller Identität der Oglala Lakota. Die Menschen hier kämpfen um die Zukunft ihrer Erinnerungen, Traditionen und gemeinschaftlichen Werte.

Früh am Morgen, die Sonne scheint eben erst über die hellbraun behaarte Landschaft der Prairie. Aus allen Richtungen weht der perlende Gesang der Wiesenlerchen, in den alten Geschichten heißt es, sie erinnern uns an das Schöne im Leben. Dann das anschwellende Tosen eines sich nähernden Fahrzeugs, ein einziges auf der Straße, weithin hörbar über die Grashügel. Fast unvorstellbar der Lärm einer Großstadt.

Die Straße führt nach Pine Ridge, Reservation des Oglala Sioux Tribes in South Dakota. Sioux ist eine Bezeichnung mit kolonialen Wurzeln, abgeleitet von der französischen Schreibweise eines Wortes, das Schlange oder Feind bedeutet. Es trägt jahrhundertealte Furcht und Vorurteile in sich. Die Einwohner von Pine Ridge bevorzugt das Wort Lakota, gleichwohl wird Sioux offiziell verwendet. Ähnlich ist es mit den Namen der Menschen: Diese wurden von den Euro-Amerikanern anglisiert und als Nachnamen verkürzt, manche ganz verändert: Spotted Elk beispielsweise war ein angesehener “Großvater”, Häuptling seines Clans. Amerikanische Soldaten nannten ihn abfällig Big Foot, vermutlich hatte er einen Klumpfuß. Er wurde am 29. Dezember 1890 am Wounded Knee Creek zusammen mit über 300 weiteren wehrlosen Menschen von der 7. US-Kavallierie niedergeschossen. Heute heißt eine Straße nach ihm: „Big Foot Memorial Highway, in honor of all chiefs“, teilt ein ramponiertes Schild mit, Spotted Elk steht nicht dahinter, ebensowenig sein Name in seiner Muttersprache, Uŋpȟáŋ Glešká. 
Hinweisschild Bigfood Memorial Highway

Hinweisschild Bigfood Memorial Highway | © Tatjana Brode

Durch Eis und Kälte hatten sich die Männer, Frauen und Kinder kurz vor dem Jahreswechsel 1890 geschleppt, vorangetrieben von der Hoffnung, in Pine Ridge einen sicheren Ort zu finden. Vierzehn Tage vorher, am 15. Dezember 1890, erschossen zwei indianische Polizisten Häuptling Sitting Bull, Tȟatȟáŋka Íyotake, den sie auf Befehl eines US-Beamten festnehmen sollten, vor seiner Hütte in der Standing Rock Reservation. Ein Teil seines Clans, etwa 40 Menschen, schloss sich daraufhin dem Zug von Spotted Elk an - und wurde mit diesem am Wounded Knee ermordet.

Der Ort des Massakers ist nun Friedhof und Gedenkstätte, auf einem Hügel gelegen, in der Mitte das lange Rechteck des Massengrabs, über dem gewölbten Eingangstor ein christliches Kreuz, davor ein unbefestigter Parkplatz. In seiner traurigen Berühmtheit ist dieser Ort wohl der unter Touristen bekannteste der Reservation, was ihn wiederum für eine Art Straßenhandel prädestiniert. So werden kleine Touren zur Geschichte oder selbstgestaltete Traumfänger zum Verkauf angeboten, sobald ein fremdes Auto stoppt. Kultur und Kunst sind hier Teil des Überlebenskampfes, eine der wenigen Einnahmequellen. Die meisten Bewohner von Pine Ridge leben unter der Armutsgrenze, 60 Prozent Arbeitslosigkeit, schlechte medizinische Versorgung, Suchterkrankungen. Männer haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von weniger als 50 Jahren. 

Meet me at Whiteclay

Am südlichen Ende der Reservation, direkt hinter der Grenze zu Nebraska, liegt ein Ort des Neuanfangs, der bis vor kurzem Brennpunkt war: Whiteclay, damals 12 Einwohnende und 4 Alkoholläden mit Millionenumsätzen, Drogen, Schießereien. Die Lakota-Rez-Polizei war machtlos – Whiteclay liegt hinter der County-Grenze, die nächste Polizeistation in Nebraska wiederum 25 Meilen entfernt. „Meet me at Whiteclay“ galt als eine Art Aufforderung zum Duell im fast rechtlosen Raum. Im Jahr 2017 gelang es nach jahrelangen Protesten der Lakota, den Liquor Stores die Lizenzen entziehen. Heute gibt es hier zwei Geschäfte für Lebensmittel und Alltagsdinge, ein Restaurant und einen Raum für Kunst. Der Ort, der von Traurigkeit und Tragödien geprägt war, hat sich in einen der Hoffnung und Resilienz verwandelt, der eine bessere Zukunft verspricht.
Haus für Künstler von Holly Albers und Evans Flammond in Whiteclay

Haus für Künstler von Holly Albers und Evans Flammond in Whiteclay | © Tatjana Brode

Holly Albers und Evans Flammond, ein bekannter Lakota-Künstler, eröffneten hier 2023 das Haus für Kunstschaffende. In ihren Räumen stehen beispielsweise Nähmaschinen bereit, um die Starquilts, Decken aus kleinen Stoffstücken mit typischem Sternenmuster, zu fertigen, eine Tradition, die aus Armut entstand und Kunsthandwerk wurde. Sie unterstützen Künstler, die sich keine eigenen Maschinen oder Werkzeuge leisten können. Holly: „Die Armuts- und Arbeitslosenquote hier im Reservat ist sehr hoch. Deshalb ist für uns Kunst eine Möglichkeit, über die Runden zu kommen, Rechnungen zu bezahlen und Dinge zu kaufen, die wir brauchen, wie Lebensmittel, Windeln und Milch für unsere Babys.”

Eine dem Makerspace angeschlossene Verkaufsgalerie bietet Werke von Lakota-Künstler an, hier löst der Direktvertrieb aus erster Hand das Konzept der kitschiger Wildwest-Läden mit „Native Art“ aus allen Landesteilen ab. Schülergruppen kommen zu Workshops, dann kocht Holly auch Mittagessen. Das Projekt umfasst außerdem Künstlerresidenzen, Musik- und Theateraufführungen im Sommer, der Anbau ist gerade im Entstehen. Noch viele konkrete Dinge werden gebraucht, Spenden sind willkommen, um Künstler und Kunsthandwerkende in die Lage zu versetzen, für sich selbst zu sorgen. Hollys Ziel: „Ein Ort zu sein, an den Touristen kommen, um etwas über unsere Kunst und unsere Kultur zu erfahren. Ein Ort zu sein, an dem Künstler voneinander lernen können. Und auch ein Symbol dafür zu sein, was uns als Lakota-Volk ausmacht - Kunst, Spiritualität und eine tiefe Verbundenheit mit der Natur.“

Traditionen und Identität

Zurück am Wounded Knee. Erinnerungen überlagern sich hier, der Name steht auch für den Kampf um die Rechte der indigenen Bevölkerung der USA. Rund 80 Jahre nach dem Massaker, im Frühling 1973, besetzten Aktivisten des American Indian Movement (AIM) und ihre Unterstützenden das Gelände, um auf Diskriminierung, Ungerechtigkeit und Missstände aufmerksam zu machen. Während dieser 71 Tage dauernden Wounded Knee Occupation kam es zu Konfrontationen mit dem FBI und der US-Nationalgarde, zwei Menschen starben. Infolge nationaler und internationaler Medienberichterstattung drangen die Anliegen der Aktivisten ins öffentliche Bewusstsein. In den folgenden Jahren konnte die indigene Identität einige Fesseln abstreifen und erstarken.
Gedenkstätte und Friedhof am Wounded Knee

Gedenkstätte und Friedhof am Wounded Knee | © Tatjana Brode

Die Lakota belebten ihre Sprache, die Männer flochten ihre Haare wieder zu Zöpfen, die Menschen erhalten seitdem, wenn sie mögen, Namen in traditionellen Zeremonien. Inzwischen gibt es eine App, mit der man die Lakota Sprache lernen kann, einen Radiosender, eine Waldorf Schule, das Oglala Lakota College zeigt eine multimediale Ausstellung der eigenen Geschichte. Um einer souveränen Zukunft willen müssen die kollektiven Wunden der Vergangenheit heilen – nicht durch Vergessen, sondern durch Anerkennung und kulturelle Selbstbestimmung.

Gardening in der Steppe

Folgt man dem Big Foot Trail vom Wounded Knee Creek nach Norden, gelangt man nach Kyle, Phežúta ȟaká – Branched Medicine, knapp 1.000 Einwohner. Hier öffnete 2023 das Community Center des Oyate Teca Project. Die Lakota vergleichen ihre traditionellen Gemeinschaften mit einem Wolfsrudel – im Zentrum stehen die Kinder und Älteren, beschützt und getragen von den Stärkeren. Diesem Prinzip radikaler Solidarität folgt das Projekt, es unterstützt vor allem Kinder und Jugendliche mit Sportangeboten, Kochkursen, Gartenbau. Die Gegend gilt als Food Desert, frisches Obst und Gemüse sind rar. „Es war ein langer Weg bis zur Eröffnung“, sagt Dave, der hier arbeitet. „Wir tun alles, um die Gemeinschaft zu stärken.“ Die jungen Menschen lernen, wie man sich selbst versorgt, wie man in der Gemeinschaft verwurzelt bleibt, wie man überlebt.
Graffito in Pine Ridge von John Trudeu

Graffiti von John Trudeu in Pine Ridge | © Tatjana Brode

Epilog

Abendstimmung in Rapid City, einer Westernstadt 70 Meilen entfernt von der Pine Ridge Reservation. An der Hauptstraße gelegen verkauft der „Prairie Edge“-Laden Lakota Kunst und versorgt Künstler mit Material. Davor parkt ein Polizeiwagen mit einem Aufdruck im Stil indianischer Pferdezeichnungen, dazu der Text „Dedicated to the People, Traditions and Diversity of our City“. Ein Polizist ist gerade dabei, einen Lakota zu verhaften. Er schließt die Handschellen hinter dem Rücken, betastet den Rucksack. „Ich habe doch niemanden erstochen“, protestiert der Gefesselte, “Ich hab nur meine Schnapsflasche nicht eingewickelt.“ „Hey, drei Mahlzeiten und ein kostenloser Arztbesuch im Gefängnis sind doch nicht schlecht“, sagt der Polizist. Die Geschichte ist nicht zu Ende.


Dieser Text ist inspiriert und bereichert von den Erzählungen von Kathryn, mit der die Autorin durch die Pine Ridge Reservation gestreift ist. Danke dafür.
 

 

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