In den 1980er Jahren entwickelte sich in Deutschland eine neue Form des Journalismus: der Popjournalismus. Er etablierte sich besonders in Magazinen wie „Sounds“ (1966-1983) und „Spex“ (1980-2018). Anders als im musikwissenschaftlichen Diskurs oder im klassischen Journalismus oszilliert das popjournalistische Schreiben zwischen Rationalität, sinnlicher Wahrnehmung, Affekt und Experiment.
Geprägt vom Poststrukturalismus aus Frankreich und den Cultural Studies aus Großbritannien entstand eine alternative Gegenöffentlichkeit. Kultur wurde nicht auf Ästhetik im engeren Sinn (Musik, Kunst, Theater, Literatur etc.) oder eine privilegierte Gruppe (‚Hochkultur‘) beschränkt, sondern als „Culture as a whole way of life“ (Raymond Williams) verstanden. Dieses weite Verständnis ermöglichte die Verhandlung von Themen, die in klassischen Medien kaum vorkamen: Popmusik, Popliteratur, Film, Rave, Theorie, Szenen und Milieus, Rassismus und Feminismus. Prinzipiell konnte alles Eingang finden, solange es popkulturell interessant war.Eine Mischung aus Engagement und Kalkül
Der Popjournalismus wurde auch vom New Journalism der 1960er Jahre beeinflusst, wie ihn Hunter S. Thompson, Truman Capote oder Tom Wolfe in den USA prägten. Dieser versprach neue Möglichkeiten der Gegenwartsbeschreibung: Wirklichkeit genau beobachten und mit literarischen Mitteln möglichst präzise darstellen – ähnlich einem „realistischen Roman“. Zwischen Tagebuch, Reportage, Essay, Glosse und Plattenkritik wurde die Spex – Musik zur Zeit (später: Magazin für Pop-Kultur) zu einer Plattform, die nicht nur informierte, sondern auch mit neuen Formaten experimentierte. Die in Köln gegründete Musikzeitschrift veränderte das popjournalistische Schreiben maßgeblich: „Die Autorinnen und Autoren der Spex haben seit 1980 eine neue Sprache erfunden, eine Sprache innerhalb der Sprache, die nicht nur den Journalismus, sondern die Art und Weise, wie heute über Pop und Kultur diskutiert wird, erst möglich machte.“ (Spex: Das Buch. 33 1/3 Jahre Pop). Das Schreiben über Pop war eine Mischung aus Engagement und Kalkül verbunden mit der Leidenschaft zum Erkenntnisgewinn – ein intellektueller Protest gegen gesellschaftliche Verhältnisse und ein Akt der Subversion. Diedrich Diederichsen, von 1985 bis 1990 Chefredakteur der Spex, schreibt:Wir wollen Popmusik so verhandelt wissen wie die anderen kulturellen und politischen Gegenstände, mit denen wir uns beschäftigen. Voraussetzungsreich, komplex, ja und geradezu verbissen ernst.
Es gab eine Öffentlichkeit, Austausch, Debatten und Diskursivität, die nichts mit der offiziellen zu tun hatte, obwohl dort doch angeblich jeder zu Wort kam.
Die Aufwertung der Popkultur
Die „Poplinke“ identifizierte sich weder mit der bürgerlichen Kultur noch mit der Neuen Linken der 68er und ihrer Konsumkritik. Pop-Art und Andy Warhol, Neue Musik und John Cage, Post-Punk und New Wave waren die Leitdiskurse. Das „Künstliche“ und das „Nicht-Authentische“ waren die Motive einer Gegenbewegung, die von der „Intensität des gelebten Augenblicks, um Musik, um ein empathisches Daseinsgefühl“ ¹ bestimmt war. „Alles was knallt“, schreibt der - und Spex-Autor Rainald Goetz im Jahr 1992. ²Das ernsthafte Schreiben über Popmusik hat zu einer Aufwertung der Pop- und Populärkultur beigetragen und ihr einen künstlerischen Stellenwert verschafft. Heute schreiben Popjournalist*innen im etablierten Feuilleton überregionaler Zeitungen – etwa Diedrich Diederichsen in der Süddeutsche Zeitung oder Dietmar Dath in der Frankfurter Allgemeine Zeitung. Auch die Themen haben sich erweitert: Pop, Film, Comic und Science Fiction, Feminismus, Gender, Lifestyle und Zeitdiagnosen sind mittlerweile feste Bestandteile der kulturellen Medienlandschaft.
Popkultur ist institutionalisiert: Sie ist an Universitäten und in Konferenzen zu finden, in Bibliotheken und im Schulunterricht, im Museum und im Konzertsaal, im Theater und der Oper. Heute sind Kulturinteressierte „Allesfresser“: Sie hören klassische und elektronische Musik, besuchen Happenings und interessieren sich für moderne Kunst. Die Grenze zwischen der „guten Hochkultur“ und der „trivialen Populärkultur“ ist aufgeweicht. Gleichzeitig hat der Popjournalismus bzw. der Popdiskurs – das öffentliche Gespräch über Pop – an Bedeutung verloren. Zwar findet sich der intellektuelle Stil zwischen Pop und Politik noch in Magazinen wie dem popfeministischen Missy Magazine oder auf der Online-Plattform Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop. In Amerika ist er in Magazinen wie Rolling Stone, Fader, Noisey, The Ringer, NPR Music & Pop zu finden. Eingestellt wurden dort allerdings Spin und Pitchfork. Auch in Deutschland gibt es traditionelle Musikmagazine wie Intro, Groove, Visions oder Spex nicht mehr.
Gatekeepers
Mit dem Ende der Spex im Jahr 2018 stellte Daniel Gerhardt, ihr letzter Chefredakteur, fest:Jahrzehntelang kümmerte sich der Pop-Journalismus nicht zuletzt darum, seinen Leser*innen einen Überblick über eine kaum zu fassende Menge an neuen Alben, Büchern, Filmen, Serien und Ausstellungen zu verschaffen. Heute sind beinahe alle Platten der Welt für beinahe alle Menschen gleichzeitig verfügbar. Die sogenannte Gatekeeperfunktion von Pop-Journalist*innen hat sich weitgehend erledigt.
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¹ Böttinger, Helmut (2004): „Nach dem Pop. Hält Literatur nicht mehr über den Tag hinaus? Ist alles seicht und bald vorbei?“, in: Die Zeit 4 vom 15.1.2004.
² Goetz, Rainald (1992): „Alles was knallt“, in: Der Spiegel 2 vom 5.1.1992, S. 143-147.).
Literatur
- Bonz, Jochen; Büscher, Michael & Springer, Johannes (Hg.) (2005): Pop Journalismus. Mainz: Ventil Verlag.
- Jones, S. (Hg.) (2002): Pop music and the press. Philadelphia: Temple University Press.
- Dax, Max; Waak Anne (Hg.) (2013): Spex- 33 1/3 Jahre Pop. Berlin: Metreolit.
- Diederichsen, Diedrich (1989): 1.500 Schallplatten. 1979–1989. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
- Legath, Jürgen (Hg.) (1979): Sounds – Platten 66-77. 1827 Kritiken. Hamburg: Zweitausendeins.
- Thomalla, Erika (2025) (Hg.): Die Wahrheit über Kid P. Wie ein Hamburger Punk den deutschen Pop-Journalismus erfand. Hamburg: Junius.
- Werth, Gabriele (Hg.) (2021): Ingeborg Schober: die Zukunft war gestern. Braunschweig: Andreas Reiffer.
- Wolfe, Tom (1973): The New Journalism. With an Anthology edited by Tom Wolfe and E. W. Johnson. New York: Harper & Row.