Gastbeitrag von Hasnain Kazim  In der Sprache Heimat finden

Schafe am Elbdeich in Hollern-Twielenfleth
Elbdeichidylle bei Hollern-Twielenfleth. Hier im Alten Land ist Hasnain Kazim aufgewachsen – und lernte die plattdeutsche Sprache lieben Foto (Detail): © mauritius images / Fritz Mader

Hasnain Kazim hat in vielen Ländern als Korrespondent gearbeitet. Was ihm dort vor allem fehlte? Die deutsche Sprache. Ein Text über die identitätsstiftende Kraft der eigenen Sprache – und die erhaltenswerte Schönheit der Dialekte.
 

Wenn es etwas gibt, das ich vermisse, wenn ich längere Zeit im Ausland bin, dann: die deutsche Sprache.

Als ich einige Jahre in Pakistan lebte und dort als Korrespondent arbeitete, ging ich sehr gerne zum Tatort-Treffen am Sonntagabend. Zwar mag ich diese Krimi-Fernsehserie nicht besonders, aber es zog mich dennoch zu diesen TV-Abenden. Denn anders als sonst bei Empfängen und Feiern wurde hier nicht Englisch oder Urdu gesprochen, sondern Deutsch. Zwar arbeitete ich seinerzeit mit und in der deutschen Sprache und zu Hause verständigten meine Frau, mein Sohn und ich uns auf Deutsch, aber es fehlte mir die Sprache im Alltag.

Etwa, wenn ich Bücher in deutscher Sprache kaufen wollte. In Islamabad, der pakistanischen Hauptstadt, wo wir eine Zeitlang wohnten, gibt es hervorragende Buchhandlungen. Man bekommt dort sogar auf Nachfrage verbotene Literatur, beispielsweise alles von Salman Rushdie. Aber es gibt eben nichts auf Deutsch. So besorgte ich mir erstmals ein E-Book-Lesegerät, um Bücher in deutscher Sprache kaufen und lesen zu können.

Anheimelnde Sprachlandschaften

Seit ich selbst diese Erfahrungen in meinem Leben in der Ferne gemacht habe, verstehe ich besser, warum Menschen in ihrer Muttersprache so etwas wie Heimat sehen. Weshalb zum Beispiel in Deutschland lebende Menschen mit Wurzeln in der Türkei so gerne Türkisch, Menschen aus arabischen Ländern Arabisch, Menschen aus der Ukraine Ukrainisch sprechen und so weiter. Sprache ist Zugehörigkeit. Sie bedeutet, ein Zuhause und eine Identität zu haben. Man kann sich in ihr bewegen wie in einer vertrauten Landschaft. Man entdeckt regionale Besonderheiten. Und manches ist einem dadurch, dass man in einer bestimmten Sprache aufgewachsen ist, sehr nah. Einige Eigenheiten und Worte wecken Erinnerungen. Den einen oder anderen Begriff gibt es nur in dieser einen, der eigenen Sprache, er lässt sich nicht übersetzen.

Dialekt bedeutet Vertrautheit

Ich bin 2023 mit dem Fahrrad kreuz und quer durch Deutschland gefahren und habe nach dem gesucht, was unser Land zusammenhält. Bei dieser Reise habe ich die vielen Dialekte schätzen gelernt, die das Land zu bieten hat. Sobald ich Plattdeutsch höre, was keine Mundart ist, sondern eine eigene Sprache, nämlich das Niederdeutsche, überkommt mich sofort ein Heimatgefühl. So redeten in meiner Kindheit im niedersächsischen Dorf Hollern-Twielenfleth, im Alten Land, viele Erwachsene. Und vun Dörp to Dörp ünnerscheet sik de Spraak (Und von Dorf zu Dorf unterscheidet sich die Sprache). Als ich im Zuge meiner Deutschlandtour durch Mecklenburg-Vorpommern radelte, hörte ich, dass die Menschen hier auch Platt reden – aber anders als in meinem Heimatdorf. Andere Wörter, andere Betonung, andere Schreibweise. Und doch so vertraut.

Ein Band, das verbindet

Im bayerischen Markt Donaustauf angekommen, besuchte ich die Walhalla. Das ist eine Gedenkstätte, die von König Ludwig I. von Bayern in Auftrag gegeben wurde, ein Ehrentempel für „rühmlich ausgezeichnete Teutsche“ und für bedeutende Persönlichkeiten „teutscher Zunge“. Eine Ausstellung marmorner Büsten von als deutsche Helden verehrte Personen. König Ludwig I. formulierte die Kriterien so: „Kein Stand nicht, auch das weibliche Geschlecht nicht, ist ausgeschlossen.“ Aber „teutscher Zunge zu seyn, wird erfordert, um Walhallas Genosse werden zu können“, denn die Sprache sei „das große Band, das verbindet, wäre jedes andere gleich zernichtet; in der Sprache währt geistiger Zusammenhang“.

Ich finde das einleuchtender als alles andere, was ich bisher aus Politik, Kultur, Gesellschaft zu „Leitkultur“ beziehungsweise einigendem Band in Deutschland gelesen und gehört habe: die Sprache als verbindendes Band! Unsere Sprache! Ich glaube ja, sie ist wichtiger, als manchen von uns bewusst ist.

Und doch handhaben es Menschen in Deutschland sehr unterschiedlich, wie ich bei meinen Reisen gelernt habe. Plattdeutsch zum Beispiel verschwindet, weil es als Sprache der Bauern, der Landbevölkerung gilt. Wer auf sich hält, spricht Hochdeutsch. Ich kenne nur sehr wenige junge Leute, die Platt sprechen. Dass Norddeutsche stolz auf ihr Platt wären, kann ich mir kaum vorstellen. Schade eigentlich!

Sprachliche Eigenheiten pflegen

In anderen Regionen haben die Menschen hingegen eine Einstellung, die sich davon unterscheidet. So lautete der Werbespruch der Baden-Württemberger von 1999 bis 2021: „Wir können alles. Außer Hochdeutsch." Fantastisch! Die Werbeagentur, die diesen Spruch ersonnen hatte, wollte ihn zuerst nach Sachsen verkaufen, aber die damalige Landesregierung in Dresden hatte abgelehnt. Was mir dann aufgefallen ist: Nirgendwo auf meiner Radreise sind mir so viele Menschen begegnet, die ihre Sprache derart schleifen, dass man ihnen ihre Herkunft nicht anhört, wie in Sachsen. Auch wenn ich verstehe, dass man Witze über Dialekte und sprachliche Eigenheiten macht, finde ich traurig, wenn Menschen sich genötigt fühlen, ihre Sprache verstecken zu müssen.

Auch in Österreich, wo ich derzeit mit meiner Familie lebe, verschwinden die regionalen Eigenheiten, weil im Fernsehen, im Radio, im Netz vor allem „Deutschländisch“ gesprochen wird. Manche Eltern legen deshalb großen Wert darauf, dass ihre Kinder „Kasten“ statt „Schrank“ sagen und „Polster“ statt „Kissen“. Auch wenn das manchmal seltsam anmuten mag, ich kann das verstehen.

Sprache und insbesondere Dialekte müssen gepflegt werden. Wir sollten alle daran arbeiten. Sonst geht uns etwas Wichtiges – nämlich etwas, das uns Heimat vermittelt – verloren.