Warum? Wann? Was? Bettina Wilperts Töchter entdecken gerade fragend die Welt – und die Eigenheiten der deutschen Sprache. Äußerst anregend für Eltern – und manchmal anstrengend, denn nicht jede Erklärung gelingt leichtfüßig.
Meine einjährige kleine Tochter lernt gerade zu sprechen. Als feministische Mutter könnte ich nicht stolzer sein, war ihr erstes Wort doch „Nein“. Das benutzt sie vor allem, wenn ich ihr gesundes Essen anbiete. Bis auf Banane kommt kein Obst oder Gemüse auch nur in die Nähe ihres Mundes. Daneben besteht ihr Wortschatz bisher aus den Wörtern „haben“ und „Hallo“. Allen, denen wir auf der Straße begegnen, winkt sie zu und begrüßt sie mit ihrem fröhlichen „allo!“ Wie schön ist es doch, wenn man so offen auf alle Menschen reagiert und noch nichts vom Grauen der Welt weiß.Neugierig und erfinderisch
Die deutsche Sprache ist selbst für Muttersprachler*innen nicht einfach zu lernen: Meine vierjährige Tochter hat verstanden, wie Vergangenheitsformen gebildet werden: Ich habe gespielt, ich habe Mittagsschlaf gemacht, ich habe Peppa Wutz geguckt, ich bin in die Kita gelauft – ach, ja, unregelmäßige Verben, da war doch was.Ab und zu erfindet sie neue Wörter: „Der Strauch dornt ganz schön.“ Und im Rollenspiel tauchen interessante Wesen auf: „Ich bin das Schulkindeinhorn und du die Mama.“ „Mmhh, okay.“ Schließlich habe ich mir selbst gewünscht, weniger Vater-Mutter-Kind mit ihr spielen zu müssen.
Durch meine Kinder bin ich immer wieder gezwungen, meine Sicht auf die Welt zu hinterfragen. Vor etwa einem Jahr war meine Tochter in der Warum-Phase. „Warum regnet es?“ „Weil die Bäume Durst haben.“ „Warum musst du in die Arbeit?“ „Weil ich Geld verdienen muss.“ „Warum steht das Kind da?“ „Keine Ahnung.“
Auch das Schlimmste erklären müssen
Nicht alle Fragen lassen sich einfach beantworten. Jeden Morgen auf dem Weg in die Kita gehen wir an drei Stolpersteinen vorüber. Erst, als am internationalen Holocaustgedenktag Blumen und Kerzen dort standen, fielen sie meiner Tochter auf. Sie fragte nach, was das sei. Ich erklärte, dass dort Menschen gelebt hatten, die gestorben waren. „Warum?“ „Weil früher hier sehr böse Menschen, andere Menschen, die sie nicht mochten, getötet haben.“ Moment, noch Mal von vorn: „Sehr böse waren sie eigentlich gar nicht, eigentlich waren sie ganz normal, deine Großeltern waren auch welche und naja, jedenfalls sollte man niemanden umbringen!“ Wie erklärt man einem Kleinkind den Holocaust?Wann wird die Zukunft zur Gegenwart?
Ein Thema, das meine Tochter gerade sehr interessiert, ist Zeit. Sie hat bereits ein Gefühl dafür. Jeden Morgen wacht sie auf und fragt: „Was machen wir heute? Wer bringt mich in die Kita? Wer holt mich ab?“ Und abends: „Wer bringt mich heute ins Bett? Was machen wir morgen?“ „Morgen haben wir noch keine Pläne.“ „Und was machen wir übermorgen?“ „Übermorgen treffen wir deine Freundin Alma.“, antworte ich ihr. Ein Gefühl für die Vergangenheit und die Zukunft ist da. Doch wie lange es genau bis morgen dauert, weiß sie noch nicht. Morgen, übermorgen, am Wochenende, in den Ferien – alles liegt diffus in der Zukunft.Einmal fragte sie am Morgen wieder: „Was machen wir heute?“ „Heute haben wir noch keine Pläne.“ „Aber ich dachte, wir treffen Alma.“ „Nein, morgen treffen wir Alma.“ „Aber heute ist doch Morgen“, lautete ihre Antwort.
Die Zeit läuft vor und zurück
In der Erzähltheorie unterscheidet man zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Erstere umfasst den Zeitraum, den die Erzählinstanz braucht, um eine Geschichte zu erzählen, bzw. die Zeit, die man in der Realität zum Lesen des Textes benötigt. Die erzählte Zeit bezeichnet den Zeitraum, den der Inhalt der Geschichte umgreift, sie ist nicht an reale Zeiten und Orte gebunden. Deswegen kann es auch in einem Roman den Satz „Morgen war Weihnachten“ geben. Aber war nicht gerade erst Ostern? Vielleicht ist Zeit doch nicht so linear, wie wir sie uns gerne vorstellen.Christiane Rösinger sang einmal: „Jeder lebt in seiner eigenen Welt, aber meine ist die richtige.“ Und in der Welt meines Kindes ist heute eben morgen.
Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
April 2025