Ausgesprochen ... integriert  Ahlan wa sahlan deutscher Winter!

Sternenlichter, die in einem Baum hängen Foto (Detail): © picture alliance / Westend61 | Gaby Wojciech

An der kalten Jahreszeit scheiden sich die Geister. Sineb El Masrar heißt in ihrer Kolumne den deutschen Winter willkommen und erklärt, warum er sie an ihre Wurzeln erinnert.
 

Es gibt Stimmen, die meinen, den Winter braucht kein Mensch. Dunkel, kalt und ereignislos. Das sehe ich anders. Für mich ist das eine kuschelige Saison, die gleichermaßen eine Ankündigungszeit wie Innehaltenzeit ist. Und voller Erinnerungen. Vor allem in meiner Kindheit und Jugend begannen sich meine Assoziationen zum Winter zu formen. Es war die Zeit, die Weihnachten ankündigte. Als Muslimin gehört Weihnachten zwar nicht zu meinen religiösen Feiertagen, doch das bedeutet nicht, dass hierzulande und rund um den Globus diese festliche Zeit nicht für Andersgläubige für Begeisterung sorgt.

In den Wintern meiner Kindheit in Deutschland wurden die Straßen, sei es in der Stadt oder auf dem Land, festlich geschmückt. Überall, ob an Häuserfassaden, Bäumen oder Schaufenstern. Überall hingen Lichterketten und leuchtende Stern-, Mond- oder Glockendeko, und bärtige Männer tummelten sich in fast jedem Geschäft. Manche waren real, andere waren gut ausgestopfte und lebensgroße Puppen. Wir kennen sie unter dem Namen Weihnachtsmann. Als Kind lernten wir, dass es eigentlich nur einen gibt, aber offenbar gehörte er einer Großfamilie mit vielen bärtigen Onkeln, Cousins und Brüdern an.

Hinzu kommen bis heute die Düfte und Aromen. Zimt, Kardamom, Sternanis. Alles Gewürze, die bei uns Marokkostämmigen ganzjährig in der Küche oder Backstube Verwendung finden. Lange bevor Reformmärkte und Feinkostläden die teuren und alleinigen Anbieter für solch exotische Zutaten waren, brachten wir aus dem jährlichen Sommerurlaub in Marokko kiloweise verschiedene Gewürze zurück nach Deutschland. Sie sollten für das ganze Jahr halten. Bis wir ein Jahr später wieder im Basar beim Gewürzhändler standen und ihm unsere Einkaufsliste durchgaben. Heute ist nichts mehr exotisch in Deutschland. Ob Discounter, Bioladen oder Drogerie, heute bekommt jede*r alles, was sein*ihr Gewürzherz begehrt. 

Der Winter ist auch die Zeit der Weihnachtsmärkte. Durch sie hindurch zu schlendern, liebte ich in meiner Jugend. Ich liebte die Handwerkskunst, die Düfte von Gebackenem und Frittiertem und den Zimtgeruch, der sich mit dem karamellisierten Duft des Zuckers vereinte, und den ich glücklich in Form von gebrannten Mandeln naschte. Ich liebte diese Zeit und diese Orte und Momente, weil sie mich in der deutschen Provinz der 1980er und 1990er an den Orient erinnerten. An den Teil meiner Wurzeln, den man selten mit dem Westen und Deutschland als Teil voneinander in Zusammenhang bringt. Nichts spiegelt das sogenannte Morgenland im Abendland so gut wieder, wie die Weihnachtszeit und seine Bräuche, Düfte und Aromen. Der Weihnachtsmarkt ist der Basar Deutschlands. Händler*innen preisen unter musikalischer Dauerbeschallung manchmal genauso aufdringlich und laut ihre Waren an wie auf einem Basar in Tunesien, der Türkei oder Ägypten. Getoppt wird es allenfalls von Marktschreiern auf einem norddeutschen Fischmarkt.

Und so halte ich nach einem eiskalten Tag Ausschau, an dem mir die Finger drohen abzufallen, aber an dem ich Rettung bei einem aromatischen Weihnachtspunsch finde. Der mir die Hand und das Herz wärmt, während er mir heiß die Kehle herunterläuft und ein warmes Gefühl im Bauch zaubert. Ahlan wa sahlan deutscher Winter! Willkommen!
 

„AUSGESPROCHEN …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Sineb El Masrar, Susi Bumms und Maximilian Buddenbohm. El Masrar schreibt über Einwanderung und die Multi‑Kulti‑Gesellschaft in Deutschland: Was fällt ihr auf, was ist fremd, wo ergeben sich interessante Einsichten?