Ausgesprochen ... posthuman  Ein neuer Blick auf die Kernenergie

Ein neuer Blick auf die Kernenergie
Wie werden Kernkraftwerke sicher? Foto (Detail): Jakob Madsen © Unsplash

Ein vergeudetes Jahrzehnt des Umweltschutzes, dann Klimanotstand als Wort des Jahres und nun ausgerechnet Atomkraftwerke als Lösung, fragt sich Liwen Qin. 

Es ist an der Zeit, unsere Optionen und Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel zu überdenken. Der jüngste UN-Bericht konstatiert, dass die Treibhausgasemissionen nach wie vor gefährlich ansteigen. Oxford Dictionary hat „Klimanotstand“ zum Wort des Jahres 2019 erklärt. Wissenschaftler*innen und Unternehmer*innen suchen seit geraumer Zeit nach effektiveren und praktikableren Maßnahmen, um die globale Erwärmung zu verlangsamen. Eine davon könnte möglicherweise die Entwicklung sicherer Kerntechnik sein.

Warum haben andere alternative Energien den Planeten noch nicht retten können? Weil sie mehrere Nachteile haben: Sie sind auf unkontrollierbare Wetterbedingungen angewiesen; die Energieerzeugung ist nicht so effizient, wie sie sein sollte; die Herstellung, der Transport und die Wartung der Anlagen produzieren neue Verschmutzung und Kohlenstoffemissionen; und zu guter Letzt sind sie nach wie vor zu teuer, um in vielen Ländern breite Anwendung zu finden.

Fehlschläge statt Erfolge

Im vergeudeten Jahrzehnt des Umweltschutzes wurden zudem zahlreiche Versuche unternommen, die Umweltkosten bei der Verbrennung fossiler Brennstoffe zu regeln, die jedoch fehlschlugen. Kohle allein ist weiterhin jährlich für den Tod von 800.000 Menschen verantwortlich und auf den Weltmeeren ereignen sich nach wie vor regelmäßig verheerende Ölkatastrophen.

Aufgrund der berüchtigten Unfälle in der Geschichte der Kernenergie: Three Mile Island (1979), Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) herrschen in vielen Ländern verständliches Misstrauen und Widerstand gegen die Kernenergie. Trotz tausender Forschungsinitiativen, die zu neuen Ideen geführt haben, haben Regierungen wegen des steigenden öffentlichen Drucks beinahe ein Vierteljahrhundert lang nicht in die grundsätzliche Verbesserung von Kernkraftwerken investiert. Die meisten heutigen Kernkraftwerke sind nicht auf Computersteuerung ausgelegt. Das Kraftwerk in Tschernobyl wurde in den späten 1940er-Jahren entworfen und das Design der heutigen Kraftwerke in den USA stammt aus den 1960er- und 1970er-Jahren.

Ein guter Anfang

Im vergangenen Jahrzehnt hat die von Bill Gates gegründete Firma Tera Power versucht, sicherere Kernkraftwerke zu entwerfen. Als erstes übernahm sie eine Idee des Erfinders Lowell Wood: Statt angereichertem Uran benutzt sie abgereichertes, aus dem sich keine Atombomben bauen lassen. Das ist ein guter Anfang, denn so könnten die 700 Tonnen Atommüll aus den alten Atomkraftwerken auf der Welt zur Energieerzeugung wiederverwendet werden.
 
Zudem kann eine komplizierte Computersimulation dabei helfen, menschliche Fehler im Betrieb zu minimieren. Zur Reaktorkühlung wird Flüssigmetall benutzt, dessen Siedepunkt um einiges höher ist als der von Wasser, sodass der Reaktor im Fall einer Systemstörung rechtzeitig zum Stillstand kommen kann.

Weitere Alternativen in Sicht

Es gibt auch noch andere Wege, sicherere Kernkraftwerke zu bauen, wenn wir auf die Wissenschaft hören. In einem kürzlich – nach 30 bis 40 Jahren Zusammenarbeit –veröffentlichten Artikel eines Forschungsteams schlugen Francesco D’Auria (Universität Pisa, Italien), Nenad Debrecin (Universität Zagreb, Kroatien) und Horst Glaeser (Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, Deutschland) eine neue Sicherheitsbarriere vor, die in großen Leichtwasserreaktoren implementiert werden soll. Diese Barriere soll die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze auf die des Einschlags eines großen Meteoriten reduzieren.
 
Leider wurden die Bemühungen von Tera Power, in China ein Pilotprojekt einzurichten, durch den Handelskrieg zwischen den USA und China blockiert. China war das einzige Land, das sowohl willens als auch in der Lage war, das Projekt durchzuführen. Nun ist unklar, ob das Projekt anderswo umgesetzt werden kann. In der Zwischenzeit können wir nur hoffen, dass die Menschheit einen Weg findet, Atommüll außerhalb der Erde zu entsorgen und so auch das letzte Problem in der Nutzung der Kernenergie zu lösen.
 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Liwen Qin, Maximilian Buddenbohm, Dominic Otiang’a und Gerasimos Bekas. Liwen Qin beobachtet in „Ausgesprochen … posthuman“ den technischen Fortschritt und wie er unser Leben und unsere Gesellschaft beeinflusst: im Auto, im Büro und an der Supermarktkasse.