Krankenhaus im Krieg  Eine der Stimmen von Mariupol: Der OP-Arzt Oleksandr

Eine der Stimmen von Mariupol: Der OP-Arzt Oleksandr Illustration: © Marjana Mykytjuk

In der Serie „Hört die Stimme von Mariupol!“ des Magazins „Ukraїner“ erzählen Menschen, die es geschafft haben, die belagerte Stadt Mariupol zu verlassen, ihre Geschichten. So auch Oleksandr, der im Operationssaal des Krankenhauses in Mariupol arbeitete und das Leben vieler Zivilisten und Militärangehöriger rettete, die während des ständigen Beschusses der Stadt durch russische Truppen verwundet worden waren.

Ukraїner-Logo Mit freundlicher Genehmigung übernommen von der Webseite des Magazins Ukraїner. An der Entstehung dieses Artikels waren 14 Freiwillige beteiligt.

Weitere Geschichten aus der Serie „Hört die Stimme von Mariupol!“ gibt es auf Ukrainisch, Englisch und weiteren Sprachen hier.

Oleksandr arbeitet seit elf Jahren als Facharzt für Anästhesie. Er lebte immer in seiner Geburtsstadt Mariupol. Dort hatte er ein Zuhause, eine Familie und einen Lieblingsjob. Er plante auch, sein ganzes Leben dort zu verbringen. Nach dem Einmarsch russischer Truppen dauerte seine Arbeitsschicht im Krankenhaus mehr als zwei Wochen – Tag und Nacht arbeitete er im Operationssaal. Unter den von Oleksandr betreuten Verwundeten waren auch schwangere Frauen, die am 9. März verletzt wurden, als russische Bomben auf die Geburtsklinik von Mariupol fielen.


Am 24. Februar waren ich und meine Frau im Skikurort Bukowel im Westen der Ukraine. Nachdem wir die Nachrichten lasen, beschlossen wir sofort, nach Mariupol zurückzukehren, weil wir dort unsere Arbeit, unser Krankenhaus und Verwandte hatten. Am 25. Februar um 2 Uhr nachmittags waren wir schon zu Hause. Am nächsten Tag ging ich ins Krankenhaus, wo ich bis zum 15. März fast pausenlos Tag und Nacht anwesend war.

Meine Arbeit verlief eigentlich zunächst in einem mehr oder weniger normalen Modus, abgesehen von der extrem großen Zahl von Verwundeten, sowohl Zivilisten als auch Militärangehörigen, die zu uns gebracht wurden. Wir hatten Strom, denn die Krankenhäuser besitzen in der Regel Dieselgeneratoren. Daher funktionierten alle Geräte im Operationssaal. Das größte Problem war anfangs das kalte Wetter. Die meisten Fenster waren kaputt, wir haben sie mit Folie und Pappe verklebt. Es war sehr kalt, es gab keine Heizung im Krankenhaus. Am 2. März, als das Mobilfunknetz lahmgelegt wurde, wurde es besonders schlimm. Abgesehen davon, dass es nicht möglich war, mit der eigenen Familie Kontakt aufzunehmen und herauszufinden, ob es ihnen gut ging, gab es auch Probleme mit der Funkverbindung zu Krankenwagen. Die Leute konnten uns nicht anrufen, also wurde die Stadt in Sektoren geteilt und die Krankenwagen patrouillierten in dem ihnen zugeteilten Sektor auf der Suche nach Verwundeten oder Kranken.

Während ich im Krankenhaus war, hatte ich sehr wenig Kontakt mit meiner Frau und meinem Kind. Einmal alle drei oder vier Tage, wenn der Beschuss etwas nachließ, ging ich schnell nach Hause. Ich wohne etwa anderthalb Kilometer vom Krankenhaus entfernt. Ich kam, umarmte die beiden und ging schnell zurück.
 

Wir alle wussten, dass den Menschen niemand anderer helfen konnte, wenn wir es nicht getan hätten.“

Ständig kamen Menschen aus zerstörten Gebäuden zu uns, um ein Versteck vor dem Beschuss zu haben. Sie konnten Wasser und Lebensmittel nutzen, die uns in der Anfangszeit die freiwilligen Helfer*innen ins Krankenhaus brachten. Zuerst war die Anzahl dieser Menschen eher gering, circa 50 bis 60 Personen. Aber im Laufe der Zeit, als der Beschuss der Stadt intensiver wurde und die Zahl der zerstörten Häuser täglich anstieg, nahm die Anzahl der Menschen, die zu uns kamen, immens zu.

Jeden Tag wurden mindestens 20 Verwundete operiert. Es gab auch Tage, an denen bis zu 30 Operationen durchgeführt wurden. Dies war nur ein kleiner Teil der Verwundeten, nur diejenigen, die eine Anästhesie brauchten. In der Aufnahmeabteilung und in kleinen Operationssälen ohne Anästhesist*innen wurden deutlich mehr Menschen medizinisch betreut.

In diesen Tagen arbeiteten im Krankenhaus Chirurg*innen, Fachärzt*innen für Traumatologie, Gynäkologie, Urologie, Radiologie sowie Labortechniker*innen. Ich denke, es waren etwa 70 bis 80 medizinische Mitarbeitende, vielleicht sogar mehr. Wir alle verstanden, dass der Krieg tobt und dass wir den Menschen helfen müssen. Wir hatten keine anderen Aufgaben. Wir alle wussten, dass den Menschen niemand anderer helfen konnte, wenn wir es nicht getan hätten.
 


Sehr schockierend war der Beschuss einer Geburtsklinik. Mehrere verwundete schwangere Frauen wurden bei uns eingeliefert. Unter ihnen gab es die eine Frau, deren Foto in allen Medien zu sehen war. Leider starb sie mitsamt Kind. Wir versuchten ihr zu helfen, sie hatte ein komplett zerschmettertes Becken, ein amputiertes rechtes Bein und eine Wunde im Unterbauch. Ich führte eine Anästhesie durch und die Chirurgen machten einen Kaiserschnitt. Laut medizinischem Protokoll müssen wir das als Erstes tun, um das Kind zu retten, aber nach dem Kaiserschnitt gab das Neugeborene keine Lebenszeichen von sich. Nach der Einlieferung dieser Frau ins Krankenhaus vergingen etwa zwei bis drei Stunden, bevor sie für tot erklärt wurde. Leider weiß ich nicht ihren Namen. Sie war in einem sehr schweren Zustand. Sie konnte ihren Namen nicht sagen, und es waren keine Verwandte oder Bekannte da, die es wussten. Daher wurde sie auch entsprechend registriert: eine unbekannte Frau im Alter von circa 35 Jahren.

Es gab noch eine andere Geschichte. Eine Frau in den 70ern. Sie geriet unter Beschuss und erlitt eine Verletzung am Bein. Sie musste in der Kälte auf der Strasse ein paar Kilometer bis zu der nächsten Ortschaft kriechen. Dort wurde sie mitten in der Nacht vom ukrainischen Militär aufgegriffen und in unser Krankenhaus gebracht. Sie war ganz nass und es war ihr sehr kalt. Das Bein konnte nicht mehr gerettet werden, es wurde amputiert. Diese Frau überlebte, aber sie verlor ihr Zuhause und ihr Bein.

Am 12. März wurde unser Krankenhaus vom russischen Militär eingenommen. Zu dem Zeitpunkt war ich im Operationssaal und machte einen Kaiserschnitt. Meine Kollegen kamen herein und sagten, dass das russische Militär im Krankenhaus sei. Sie sagten, dass sich alle – sowohl Mitarbeiter*innen, als auch Patient*innen – an die Wand stellen mussten und gezwungen wurden, sich auszuziehen, weil die Russen nach Tätowierungen und Spuren des Abfeuerns von Schusswaffen, wie etwa Schulterprellungen suchten. Von da an bis zum 15. März war ich sozusagen ein Geisel. Wir haben das russische Militär jeden Tag gefragt: „Können wir nach Hause gehen?“, worauf wir die Antwort bekamen: „Ja, natürlich könnt ihr das tun, aber es gibt keine Garantie, dass ihr unterwegs nicht erschossen werdet.“
 


Während dieser Zeit schossen die Russen mit den im Hof unserer Klinik abgestellten Panzern und anderen Waffen auf Wohnhäuser. Auf die Frage „Warum macht ihr das?“ antworteten sie: „Dort könnten Positionen des ukrainischen Militärs sein, so beseitigen wir diese.“ Sie benutzten das Gelände des Krankenhauses als eine Zuflucht, weil sie wussten, dass das ukrainische Militär darauf nicht schießen würde. Ab dem 13. März brachten sie alle Menschen aus den Kellern der umliegenden zerstörten Gebäude ins Krankenhaus. Es waren Hunderte. Alle Stockwerke unseres achtstöckigen Gebäudes waren voller Zivilist*innen, von denen viele verletzt waren. Diese Leute fragten die Soldaten: „Warum tut ihr das?“, worauf sie mit auswendig gelernten Phrasen antworteten: „Wir erlösen euch von den Nazis.“

Unter allen russischen Soldaten, die sich in unserem Krankenhaus aufhielten (es waren circa 50 bis 60 Personen tagsüber und etwa 200 bis 300 nachts), waren meiner Meinung nach nicht mehr als 10 bis 15 Prozent Militärangehörige, der Rest waren nicht ausgebildete junge Männer oder alte Männer. Wir hatten ein kurzes Gespräch mit einem 19-jährigen Soldaten. Er stammte aus einer Kleinstadt in der Nähe von Donezk. Er sagte, er ging Brot kaufen, als plötzlich ein Auto neben ihm hielt und die Insassen ihn aufforderten, mitzukommen. Man gab ihm Uniform und Waffe und sagte: „Ab nach Mariupol!“ Er erhielt den Befehl, eine der Krankenhausabteilungen zu bewachen. Auch ein älterer Mann aus der sogenannten „Donetzker Volksrepublik“ war da. Er war Klempner. Seine Geschichte war sehr ähnlich: Man verhaftete ihn auf der Strasse, gab ihm Uniform und Waffe und schickte ihn an die Front.
 


Am Morgen des 15. März untersuchte ich die Kinder der Zivilisten, die in unserem Krankenhaus Schutz fanden. Zu diesem Zeitpunkt hatten ich und andere Ärzt*innen bereits die feste Entscheidung getroffen, dass wir wegfahren sollten. In den ersten Tagen gab es circa 20 bis 30 Operationen täglich, aber seit dem 12. März waren es nur drei bis maximal sieben Operationen pro Tag. So verstanden wir, dass es für uns Ärzt*innen fast keinen Sinn mehr ergab, im Krankenhaus zu bleiben. Ungeachtet aller Umstände, beschlossen wir zu fliehen, obwohl das russische Militär uns drohte. Am 15. März warteten wir darauf, bis um etwa 11 oder 12 Uhr ein Fahrzeug mit Wasser und eins mit Lebensmitteln im Hof des Krankenhauses ankamen. In diesem Moment herrschte immer viel Aufregung, denn viele Zivilist*innen holten  sich Wasser und Essen. So verließen wir genau zu diesem Zeitpunkt das Krankenhaus und gingen schnell nach Hause. Wir waren zu siebt. Wir teilten uns in zwei Gruppen auf. Als Erstes verliessen zwei Ärzte das Krankenhaus. Dahinter ging die Mutter eines von ihnen, die ebenfalls im Krankenhaus war, und der Bruder desselben Arztes, der sich ehrenamtlich engagierte und immer dort half, wo Bedarf war. Nach 15 bis 20 Minuten startete die zweite Gruppe: ich, noch ein Neurochirurg und eine Krankenschwester. Unterwegs sahen wir viele Gräber in den Höfen sowie viele verbrannte Panzer mit dem Buchstaben „Z“.
 


Am Morgen des 17. März, bevor ich Mariupol verließ, wollte ich meinen Vater besuchen. Er lebte in einem anderen Stadtteil. In seiner Wohnung war noch meine Schwester mit Mann und Kind, und auch die Partnerin meines Vaters. Auf dem Weg schoss das russische Militär auf mein Auto – auf der Motorhaube sah ich später Einschusslöcher. Ich kam zu meinem Vater, er war aber leider nicht zu Hause, sondern im Krankenhaus. Er war chronisch krank und brauchte alle zwei Tage eine Behandlung. Eine Woche später starb mein Vater – das Krankenhaus hatte keinen Zugang mehr zur Dialyse.

Wir sind in Richtung Zaporizhzhya gefahren. Es gab eine lange Autoschlange an der Ausfahrt von Mariupol. Wir standen ungefähr eine Stunde dort. Das russische Militär kontrollierte unsere Pässe, Autopapiere, Gepäck. Aber alles oberflächlich, denn zu dieser Zeit waren viele Journalist*innen am Checkpoint. Daher waren alle sehr höflich. Es gab dort verschiedene Journalist*innen, auch jemand von der Deutschen Welle sowie viele Vertreter russischer Medien. Letztere hatten die Aufschrift „Press“ auf der Brust und ein Abzeichen – entweder aus Russland oder aus der sogenannten „Donetzker Volksrepublik“.
 

Meine Frau und ich haben nie daran gedacht, wegzuziehen, weil wir unsere Stadt sehr lieben. Wir alle wurden dort geboren, auch unsere Tochter. Unser ganzes Leben spielte sich in Mariupol ab.“

An einem der Kontrollpunkte fragte das Militär: „Was habt ihr mit?“ Und ich antwortete, dass ich Seife habe. Dann forderten sie mich auf, ihnen diese zu geben. Also gab ich ihnen Seife, Shampoo und wir fuhren weiter. Das Telefon wurde zum Glück nicht überprüft. Aber natürlich hatte ich alles – alle Photos und alle Chats – gelöscht.

Wir fuhren in drei Autos. Im ersten Auto war ich mit meiner Familie, im zweiten – mein Kollege, ein Neurochirurg mit seiner Frau, außerdem eine Ärztin und deren Kinder. Im dritten Auto waren die Schwiegereltern des Neurochirurgen. Wir machten uns Sorgen, dass wir nicht durchgelassen werden, da wir Ärzt*innen sind. Aber wir beschlossen, nicht zu lügen und die Wahrheit zu sagen: Sollten wir gefragt werden, wer wir sind, antworten wir ehrlich. Denn jeder wusste, wozu eine Lüge führen konnte. Sollten sie es herausfinden, würde es größere Probleme geben.

Meine Mutter war Ärztin, eine Therapeutin, und mein Vater war Anästhesist. Daher war mir seit meiner Kindheit klar, dass auch ich Medizin studieren werde. 2009 habe ich mein Studium abgeschlossen, zwei Jahre Praktikum absolviert und bin seit 2011 ein zertifizierter Anästhesist. Ich war mir nicht bewusst, dass ich diesen Beruf schon seit 11 Jahren ausübe. Die ganze Zeit lebte und arbeitete ich in meiner Heimatstadt Mariupol. Meine Frau und ich haben nie daran gedacht, wegzuziehen, weil wir unsere Stadt sehr lieben. Wir alle wurden dort geboren, auch unsere Tochter. Unser ganzes Leben spielte sich in Mariupol ab.
 

Nach einem kurzen Zwischenstopp in Zaporizhzhya fuhr Oleksandr mit seiner Familie in den Westen der Ukraine, nach Lwiw. Aber wegen Stress und Angst vor ständigem Luftalarm entschieden sie sich, weiter zu ziehen. Zuerst waren sie in Polen, später ging es nach Deutschland. Oleksandr ist aufgrund gesundheitlicher Probleme mit der Wirbelsäule nicht wehrpflichtig. Nun kümmert er sich um seine Familie im Ausland.

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