Wirtschaftssystem  Die Donut-Ökonomie darf nicht auf Papier bleiben

Donut-Ökonomie Foto: Elisa Kerschbaumer via unsplash | CC0 1.0

Das gegenwärtige Wirtschaftssystem ist so etwas wie eine schlecht gealterte Geschichte, eine Legende, die nicht nur heute nicht funktioniere, sondern noch nie funktioniert habe, raunt man sich überall auf der Welt zu. Eine solche Vermutung kommt nicht überraschend. Hat eine zeitgemäße Erzählung die Form eines Donuts?

Die Wirtschaft und die wirtschaftlichen Institutionen haben eine so große Macht, dass nur wenige von uns sie wirklich verstehen. Wir beurteilen alles nach dem BIP, wir analysieren alles nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten (und werden gezwungen, dies zu tun). Und das alles zu einer Zeit, in der wir mit einer Krise nach der anderen konfrontiert sind. Mit einer pandemischen Krise, die zeigt, wie fragil das System des globalen Kapitalismus ist, einer Krise der Demokratie, sozialen Krisen und einer ökologischen Krise. Kein Wunder, dass nur noch wenige Menschen an das überholte neoklassische Märchen glauben. Und es ist kein Wunder, dass viele von uns nach einer anderen Geschichte schreien. Die englische Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth versucht in ihrem Buch Doughnut Economics (2017, deutsche Übersetzung 2018: Die Donut-Ökonomie) eine solche Geschichte zu erzählen. Es ist ein ziemlich einzigartiger Versuch, eine kohärente Wirtschaftsgeschichte zu erzählen, die den Realitäten und Bedürfnissen des 21. Jahrhunderts entspricht.

Das 21. Jahrhundert wird in Raworths Buch im Übrigen recht häufig erwähnt. In Anbetracht der fortschreitenden Entwicklung der oben genannten Probleme ist es vielleicht angebracht zu fragen, ob die Rufe nach einer neuen „Geschichte“, einer neuen Erzählung, ein Bedürfnis der Gegenwart artikulieren, oder ob sie schon längst überfällig ist. Wenn wir einen Blick in die Geschichte der alternativen Ökonomie werfen, stellen wir fest, dass der Weg für eine solche Erzählung schon lange bereitet war. Vielleicht so lange wie die Ökonomie selbst. Schließlich würden selbst die vernachlässigten Teile im Werk von Adam Smith im Kontext des heutigen Mainstreams als alternativ gelten.

Kate Raworth ist sich dessen bewusst. Die Donut-Ökonomie ist nicht auf der grünen Wiese entstanden – sie basiert in erster Linie auf einem tiefen Verständnis der ökonomischen Theorien und ihrer Kritik, auf einem tiefen Verständnis der bestehenden Schlussfolgerungen und Ansätze der ökologischen Ökonomie und auf einem tiefen Verständnis anderer Disziplinen. Daher würde ich die Donut-Ökonomie nicht als etwas Neues unter der Sonne bezeichnen, sondern eher als einen großen Wurf in der sich seit langem formierenden ökologischen Ökonomie. So schrieb Raworth auf Twitter, dass sie in vielerlei Hinsicht vom Tortenmodell der Ökonomin Hazel Handerson inspiriert wurde, das sie schon lange über ihrem Schreibtisch hängen hat.

Als Student der Wirtschaftswissenschaften habe ich zwei wichtige Dinge festgestellt. Erstens: Die Mainstream-Ökonomie bildet ein systematisches Ganzes. Zweitens verschafft dieses Ganze den Wirtschaftswissenschaftlern das nötige Selbstvertrauen, alles zu rechtfertigen, was ihre Systeme und Modelle für die breite Öffentlichkeit und die Verantwortlichen leicht verdaulich macht. Ich habe mich von Anfang an gefragt, womit diese Systematik ersetzt werden könnte. In vielen Büchern findet man verschiedene kleine Schritte – verbunden mit der Kritik an einem Teilbereich der Ökonomie, seien es Annahmen oder bestimmte Konzepte, oder verbunden mit der Vorstellung einer Alternative zu einem solchen Konzept. Ich denke, dass Die Donut-Ökonomie ein großer Schritt in Richtung eines systematischen Verständnisses eines neuen Wirtschaftssystems sein kann.

Donut-Ökonomie © Hanser Verlag

Soziale Basis und ökologische Obergrenze

Kommen wir also endlich auf den Donut zu sprechen. Geometrisch gesehen könnte man von zwei konzentrischen Kreisen sprechen. Der Donut versucht bildlich, eine Vorstellung über die Funktionsweise der Welt darzustellen, die vielen sozialen und ökologischen Bewegungen in der Welt nahe steht. Die beiden Kreise stehen für die imaginären Grenzen, die unser Handeln begrenzen sollten.

Die erste dieser Grenzen ist die soziale Basis unserer Gesellschaft. Sie steht für alles, was für ein menschenwürdiges Leben notwendig ist: materielle Sicherheit in Form von Wasser, Nahrung, Energie oder Unterkunft und nicht-materielle Bedürfnisse wie politische Mitsprache, Bildung oder die Einbindung in eine Gemeinschaft.

Die zweite Grenze ist die ökologische Grenze, sie markiert die Limitierung des Planeten, also all dessen, was wir brauchen, um eine stabile Umwelt um uns herum zu erhalten – sowohl für die Umwelt selbst als auch für unsere Existenz. Raworth definiert hier die kritischen Schwellenwerte, die die Menschheit überschreitet – sei es die Stabilität der biologischen Vielfalt, die Luftverschmutzung oder der Wassermangel.

Wir haben also zwei Grenzen, die wir Menschen mit unseren Aktivitäten nicht überschreiten sollten. Wie das BIP impliziert auch der Donut ein Ziel: Die Menschheit und ihr Verhalten sollten „innerhalb des Donuts“ bleiben – es sollte uns allen gut gehen, aber wir sollten zur Erhaltung unseres Wohlstands nicht die Belastungsgrenzen des Planeten überschreiten. Ich halte den Donut für einen einzigartigen Indikator. Einzigartig vor allem deshalb, weil er versucht, einen komplexen Maßstab und eine Methodik für die Bewertung des Zustands der Gesellschaft und des Planeten festzulegen.

Wir neigen nämlich oft dazu, einzelne Phänomene in der Gesellschaft voneinander zu trennen. Der gesellschaftliche Diskurs und die öffentliche Debatte drehen sich hier um den Rückgang der biologischen Vielfalt, da um den Mangel an bezahlbarem Wohnraum und dort um den Klimawandel. Jedes dieser Phänomene nennen wir dann eine Krise. Berichte über den Zustand der Donuts verschiedener Länder weltweit sind im Internet abrufbar. Sie belegen, dass zahlreiche Länder so viele kritische Schwellen (sprich: Grenzen des Donuts) überschreiten (sei es nach innen oder nach außen), dass man nicht nur von einer einzigen Krise sprechen kann, sondern von einer ganzheitlichen Krise. Es ist also kein Zufall, dass diese Krisen oft dieselbe Ursache haben, nämlich das falsche Paradigma und den neoliberalen Ansatz, über den wir in Debatten wie diesen so auffällig schweigen.

Aber warum brauchen wir einen Donut, um zu erkennen, dass wir in der Sch***e stecken? Wie andere Bilder, Zeichnungen und Diagramme hilft uns auch das Donut-Modell, etwas zu verstehen. Es gibt Modelle und Abbildungen, die vereinfachen oder nur einen Teil zeigen. Wir brauchen den Donut, um zu erkennen, dass es nicht nur ein Problem gibt, sondern viele Probleme. Dass wir in jeder Hinsicht in der Sch***e stecken, wissen wir vielleicht – aber der Donut kann es auch denjenigen vermitteln, die bisher noch Scheuklappen aufhatten.

Im Kapitel Das Gesamtbild erfassen – Vom eigenständigen Markt zur Eingebetteten Ökonomie (See the big picture – From self-contained market to embedded economy) widmet sich Raworth dem neoklassischen Paradigma des Wirtschaftskreislaufs und dem Montpèlerinschen Programm der neoliberalen Ökonomie, das heißt, der Vorstellung, dass die Wirtschaft aus Haushalten, Unternehmen und anderen Akteuren (zum Beispiel Banken und Regierungen) besteht, zwischen denen Finanzströme stattfinden. Als Alternative für das 21. Jahrhundert stellt die Autorin ihre Skizze einer „eingebetteten Wirtschaft“ vor, wie sie der ökologische Ökonom Herman Daly formuliert hatte [bei Daly: „steady-state economy“, also „stationäre Wirtschaft“, Anm.d.Red.]. Dabei werden die von der neoklassischen Ökonomie vernachlässigten Ströme von Energie und Ressourcen hervorgehoben, und die Wirtschaft spielt sich ab innerhalb der Grenzen der Gesellschaft, die das Wirtschaften betreibt, sowie innerhalb der Grenzen unseres Planeten, die all unseren Aktivitäten die Limits setzen.

In ihrer Skizzierung dieses altneuen Paradigmas spricht Raworth unter anderem über die Ausgewogenheit der Wirtschaftstätigkeit in vier von ihr definierten Bereichen: Haushalte, Märkte, Commons und Staat. Dies ermögliche Raworth zufolge „wechselnde soziale und wirtschaftliche Identitäten“, das heißt den Wechsel von einer Rolle zur anderen – von der der Familienmitglieder und Nachbarn zu der der Bürger oder Produzenten.

Die Autorin schafft damit, ebenso wie die Mainstream-Ökonomie, eine Art Schizophrenie im menschlichen Handeln, die dazu führen kann, dass man die Verantwortung für einen Bereich aufgibt, während man einem anderen nachgeht.

Kate Raworth Kate Raworth 2018 auf einer TED Conference in Vancouver | Foto: Bret Hartman | TED Conference | CC BY-NC-ND 2.0

Die blinden Flecken des Donuts

Während Die Donut-Ökonomie meiner Meinung nach eine belastbare Grundlage für ein ökonomisches Paradigma des 21. Jahrhunderts darstellt, ist es aus der Perspektive der ökologischen Ökonomie unmöglich, nicht zu bemerken, was in dem Buch fehlt. Raworth kritisiert zwar das Konzept des internationalen Handels und des komparativen Vorteils wegen seiner wirtschaftlichen Instabilität, seiner Schwankungen und des daraus resultierenden Mangels. Sie lässt jedoch die Aspekte aus, die für die Kritik an der althergebrachten Denkweise am wichtigsten sind, nämlich die Tatsache, dass der internationale Handel die Verknüpfungen der lokalen Produktion und den gegenseitigen Nutzen verschiedener Prozesse, den die Autorinnen Desai und Riddlestone als „bioregionalen Vorteil“ bezeichnet haben, zunichte macht.

Raworth fordert keine grundlegende Umkehrung der menschlichen Werte. Sie fordert eine Rückkehr zu natürlichen Werten. Vielleicht ist das der Grund, warum ich den Eindruck habe, dass das Buch im Großen und Ganzen nichts Neues sagt, sondern nur etwas beschreibt, was schon lange in uns steckt. Das bringt sie natürlich dazu, den „homo oeconomicus“ und die Denke der Mainstream-Ökonomie zu kritisieren, die versucht, alles zu quantifizieren und in Zahlen zu übertragen. Die Mainstream-Ökonomie aber begnügt sich eben nicht nur mit dem Zählen, sondern sie versucht, sämtliche Gegenseitigkeiten in die Grenzen einer Marktmechanik zu zwängen. Raworth weist aber darauf hin, dass es menschliche Werte, Gefühle und Motive gibt, die sich nicht durch Geld ersetzen lassen. Das Bemühen, es doch zu versuchen, führe ihr zufolge (und dabei stützt sie sich auf zahlreiche wirtschaftliche Experimente), dann zur Verdrängung natürlicher Motivationen. „Sei vorsichtig, bevor du ein Streichholz anzündest oder einen Markt eröffnest, du weißt nicht, welche Reichtümer du zu Asche verbrennen wirst.“ Bevor wir Marktprinzipien einführen, so Raworth, sollten wir uns fragen, welche Kräfte in der Gesellschaft bereits vorhanden sind, anstatt blind den Markt auf sie loszulassen.

In Anlehnung an das Tortenmodell von Hazel Handerson könnten wir sagen, dass wir dem Marktsektor keine neuen Schichten hinzufügen müssen. Es reicht einfach darauf zu achten, ob sich identische Schichten in einer der unteren Etagen befinden, wo sie mit den anderen Zutaten einen viel besseren Geschmack ergeben. Wir müssen uns von vereinfachenden Modellen der Mainstream-Ökonomie verabschieden und die Welt als ein vernetztes und komplexes System betrachten, argumentiert Raworth.

Ich war von dieser Idee fasziniert. Als Student der klassischen Wirtschaftswissenschaften stoße ich bei fast allem auf die Anwendung von Marktprinzipien. Wir können alles in Diagramme, Kästchen, Verbrauchs- und Indifferenzkurven packen, wie sehr wir den ökonomischen „Wert“ unserer Freizeit „schätzen“ bis hin zu unserer Bereitschaft, für verschmutzte Luft zu bezahlen. Ökonomisches Denken verleitet dann viele Ökonom*innen zu vereinfachenden und unüberlegten Schlussfolgerungen (zum Beispiel dass Dürre durch die Deregulierung der Abwassergebühren gelöst wird). Es ist, als ob die Wirtschaft die Menschlichkeit verdrängt. Raworth stützt ihre Argumentation auf zahlreiche Studien und Experimente, die diese Verdrängung humaner Werte durch die Einführung des Marktes beobachten.

Wird der Donut die Welt verändern?

Die Donut-Ökonomie bietet uns ein umfassendes Paradigma für die Gegenwart. Um einen umfassenden Wandel des gesellschaftlichen Denkens herbeizuführen, dürfen weder die ökologische Ökonomie noch die Donut-Ökonomie auf dem Papier oder in der Wissenschaft bleiben. Der Donut und die Autorin selbst haben entsprechende Ambitionen. Das Donut-Paradigma wurde beispielsweise von der Amsterdamer Stadtverwaltung übernommen, und Kate Raworth entwickelt die Idee im Rahmen des Doughnut Economics Action Lab weiter, einer Gemeinschaftsplattform, die einen Raum für den Austausch von Erfahrungen und Materialien aus der ganzen Welt schafft. Erwähnenswert ist auch ein Projekt der Universität Leeds, das länderspezifische Donuts entwickelt hat.

Die Ideen und Konzepte der ökologischen Ökonomie stehen im Widerspruch zur Mainstream-Ökonomie. Es ist ein Aufeinanderprallen von Neuem und Altem, ein Aufeinanderprallen von Vereinfachung und der Wahrnehmung von Komplexität, und nicht zuletzt ein Aufeinanderprallen von Werten. Vor allem aber handelt es sich um einen Machtkampf, denn die Ökonomie selbst hat starke Überschneidungen in die politische Sphäre, und die Mainstream-Ökonomie und ihre Protagonisten spielen von Anfang an auch ein Machtspiel. Der Gedanke einer ökologischen Donut-Ökonomie muss auch in das politische Umfeld einfließen. Nur so kann der Donut seine Aufgabe erfüllen. Und wer weiß, vielleicht wird er so die Welt verändern.

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