Waffenlieferungen  Tut Deutschland genug für die Ukraine?

Tut Deutschland genug für die Ukraine?
Berlin, 27. Februar 2022 Foto: Dea Piratedea via unsplash | CC0 1.0

Viele Tschech*innen verstehen nicht, warum Deutschland so zögerlich ist, der Ukraine schwere Waffen zu liefern. Als Deutsche*r wird man in Prag immer wieder um eine Stellungnahme dazu gebeten. Das ist nicht einfach, wenn sich selbst nicht sicher ist, was richtig und was falsch ist.

Perspective Daily Logo Dieser Text erschien zuerst auf Perspective Daily – „Für einen Journalismus, der fragt: Wie kann es weitergehen?“

Wir bedanken uns für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.

„Auf welcher Seite steht ihr eigentlich?“

Das fragte mich Mitte März der Verkäufer in dem Café, in dem ich mir jeden Morgen auf dem Weg ins Büro einen Kaffee und ein Croissant kaufe. Mit „ihr“ waren „wir Deutsche“ gemeint. Das Café liegt in dem Prager Viertel, in dem ich seit 13 Jahren wohne. Der Verkäufer und ich, wir kennen uns schon fast genauso lange, und während ich diese Zeilen schreibe, wundere ich mich darüber, dass ich nicht mal weiß, wie er heißt. Ich nenne ihn für euch Honza.

Honza befragt mich regelmäßig, was sich in Deutschland so tut. So war er beispielsweise schon an einer Erklärung interessiert, warum die Grünen in Deutschland so stark sind (in Tschechien sind sie in der Bedeutungslosigkeit unterhalb der 2-Prozent-Grenze verschwunden). Oder wie wir „mit den Migranten zurechtkommen“ (in Tschechien gibt es kaum Migrant*innen, beziehungsweise kaum welche von denen, die Honza meint, nämlich Muslim*innen) und mit der AfD (so etwas gibt es in Tschechien schon: die Partei heißt SPD – wirklich!), „mit Corona“ – und so weiter.

Das Interesse an Deutschland ist enorm in Tschechien, nicht nur bei Honza. Wenn er mir solche Fragen stellt, bemühe ich mich immer, den Ball flach zu halten und möglichst objektive Einschätzungen abzugeben, wie „wir Deutschen“ so ticken. Honzas Erklärung, warum der Kaffee nächste Woche 5 Kronen teurer wird (die Holzstäbchen zum Umrühren kosten mehr als „die Plastikstäbchen, die Merkel verboten hat“ [sic!]), lächele ich gequält weg (ich Feigling!).

Nun ging es Honza um den Krieg in der Ukraine: Auf welcher Seite stehen „wir Deutschen“ also? Ich musste um Fassung ringen. „Ist doch klar, oder?“, entgegnete ich. „Ja, aber euer Kerl da und diese laue Haltung mit den Waffen …“, wand Honza ein. An Olaf Scholz kann man sich in Tschechien noch nicht wirklich gewöhnen. Merkels Schatten ist lang.

Merkel und Deutschland, das war für viele Tschech*innen lange Jahre nahezu gleichbedeutend. Und Merkel war an vielem „schuld“. So wird nun ausgeschlachtet, wie sehr die Bundeskanzlerin außer Dienst sich verkalkuliert hat. Merkel schaffte es jüngst sogar noch einmal auf die Titelseite der Mladá fronta DNES, einer der auflagenstärksten Tageszeitungen des Landes – mit ihrer Aussage vom 7. Juni 2022, sie werde sich „nicht für ihre Russlandpolitik entschuldigen“. Politische Relevanz hatte ihr Statement nicht, dafür aber das Potenzial, die Volksseele hierzulande zum Kochen zu bringen.

Von Deutschland wird Führung erwartet – aber bitte in die richtige Richtung!

Denn das erwähnte enorme Interesse an Deutschland ist auch geprägt von der Selbstwahrnehmung der Tschech*innen. (Vermeintliche) Fehler oder gar ein unterstelltes Versagen des großen Nachbarn werden von vielen schadenfroh goutiert. So wurde dem vielzitierten „Wir schaffen das!“ in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 das Narrativ „Deutschland schafft’s nicht!“ zur Seite gestellt.

Die sogenannte Flüchtlingskrise hallt auch in der aktuellen Debatte nach, wenn es darum geht, ob Deutschland die Ukraine im Krieg mit Russland nun ausreichend und angemessen unterstützt. Damals, im Jahr 2015, war es quer durch das parlamentarische Spektrum in Tschechien mit mehr oder weniger radikalen Abstufungen Konsens, dass Geflüchtete nicht willkommen sind. Die vermeintliche deutsche Willkommenskultur sei naiv und verursache nur Probleme, das schien auch außerparlamentarischer Tenor zu sein, der von vielen reichweitenstarken Medien bedient und gestützt wurde.

Gleichzeitig ist man sich in Tschechien sehr bewusst, dass es ohne Deutschland nicht geht – sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Man wünscht oder erwartet von Deutschland einerseits eine Führungsrolle, andererseits wäre es natürlich schön, wenn diese Führung in die Richtung ginge, die man selbst für richtig hält. Und so wiederholt sich nun – mit umgekehrten Vorzeichen aus Sicht der Tschech*innen – die Diskrepanz der Jahre nach 2015. Fühlte man sich damals noch der deutschen Entscheidung ausgeliefert, die Grenzen zu öffnen, glauben viele in Tschechien nun in Bezug auf Waffenlieferungen an die Ukraine auf der moralisch richtig(er)en Seite zu stehen.

Von mir als Deutschem wird nun immer öfter verlangt, zur Haltung der deutschen Regierung Stellung zu beziehen. Nicht nur von Honza. So schrieb mir ein Nachbar als Reaktion auf einen der vielen Berichte in den tschechischen Medien über die zögerliche Haltung der Bundesregierung bei der Lieferung (schwerer) Waffen: „Die in Berlin verkacken es wieder! Was sagst du denn dazu?“ Der gleiche Nachbar sagte mir in Bezug auf die anfangs enorme tschechische Solidarität und Hilfsbereitschaft für Geflüchtete aus der Ukraine, er sei „lange nicht mehr so stolz gewesen, Tscheche zu sein“.

Auch wenn der Satz für meine westdeutsch sozialisierten Ohren gruselig klingt, gönne ich es ihm. Nachdem Tschechien in der sogenannten Flüchtlingskrise seine fremdenfeindliche Seite gezeigt hat, sind nun viele froh, dieses Mal auf der „richtigen“ Seite der Geschichte zu stehen. Und dazu gehört eben auch, der Ukraine alles an Waffen zu liefern, was diese fordert. Weil das Zögern auf deutscher Seite stärker ist, als es viele Tschech*innen für richtig halten, konnte man zeitweise fast das Gefühl bekommen, Deutschland hätte sich auf Putins Seite gestellt.

40 Millionen Euro für die ukrainische Armee, gespendet von Privatpersonen

Die Trennlinien rücken näher an meine soziale Bubble heran als bei den meisten anderen politischen und gesellschaftlichen Themen der letzten Jahre. Im Chat meiner Wandergruppe kursierte Anfang März ein Link zu Ebay. Da wurde ein russischer Panzer versteigert, der angeblich von ukrainischen Bauern gekapert worden war. Das sollte für Erheiterung sorgen, veranlasste einen Freund jedoch dazu, den Link zur Spendensammlung der ukrainischen Botschaft in Prag zu posten. Er hätte da auch schon gespendet. Das Geld wird ausdrücklich für die ukrainische Armee gesammelt – also für Waffen! Ich hielt das zuerst für einen Witz – so wie den russischen Panzer auf Ebay. Ich irrte mich. Bis zum 10. April gingen auf dem Konto fast eine Milliarde tschechische Kronen (ganz genau 977 Millionen Kronen, das sind fast 40 Millionen Euro) von rund 115.000 Spender*innen ein, wie die Botschaft auf Twitter bekannt gab.

„Die Ukrainer kämpfen auch für uns“, versuchte mich mein Psychiater zu beruhigen. Ich hatte ihm von meinem Dilemma erzählt: Ich halte mich für einen Pazifisten, will aber gleichzeitig, dass die Ukraine diesen furchtbaren Krieg gewinnt. Und ich verstehe, dass sie dafür Waffen braucht. Damit bekommen die Fragen von Honza und meinem Nachbarn nach der Rolle Deutschlands eine persönliche Note. Wie soll ich Stellung beziehen, wenn ich selbst nicht mehr weiß, was richtig ist?

Plattitüden meines Psychiaters helfen mir da nicht weiter. Ein Missverständnis, erklärte er mir, nachdem ich protestierte. Die Ukrainer und ihr standhafter Kampf gegen den russischen Vernichtungsfeldzug verkörperten ein Heldentum, das die Tschechen in ihrer neueren Geschichte vergeblich suchten, so der Psychiater. 1938 hätte man sich den Deutschen kampflos ergeben, 1968 den Russen (beziehungsweise den Sowjets, aber wir wollen nicht kleinlich sein).

Jetzt im Juni hört man in Prag an allen Ecken Ukrainisch oder Russisch. Es sind wirklich viele Geflüchtete hier und die Solidarität ist nach wie vor groß – ebbt allerdings merklich ab. Nachdem in den ersten Kriegswochen viele Privatzimmer für Geflüchtete angeboten und Sachspenden gesammelt wurden, ist es nun ruhiger geworden. Viele Ukrainer*innen sind inzwischen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, in die Regionen, in denen aktuell nicht gekämpft wird. Und die tschechische Regierung hat die administrativen Bedingungen für Geflüchtete verschärft. Darüber wollen meine tschechischen Freund*innen in der Regel nicht so gerne mit mir sprechen.

Die Frage, auf welcher Seite „wir Deutschen“ denn nun stehen, und ob das dieselbe ist wie die, auf der sich auch „die Tschech*innen“ wähnen, ist deshalb vor allem eine rhetorische. Mehr als alles andere dient sie zur Selbstvergewisserung der eigenen Identität.

Auch deshalb habe ich der Versuchung widerstanden, den Spieß einmal umzudrehen und zu fragen: „Warum zieht ‚ihr‘ denn schon wieder nicht mit?“ Tschechien hat für sich nämlich, gemeinsam mit Ungarn und der Slowakei, Ende Mai eine Ausnahme im Öl-Embargo der EU ausbedungen. Das hörte sich im Februar noch anders an. Damals forderte der tschechische Premierminister Petr Fiala „die härtestmöglichen Sanktionen“ gegen Russland – und ich musste meinen tschechischen Freund*innen erklären, warum Deutschland nicht sämtliche russische Banken vom internationalen Zahlungssystem SWIFT ausschließen wollte.

Ob es nun um Verteilungsquoten für Geflüchtete, die Eindämmung einer Pandemie, den Kampf gegen den Klimawandel oder Waffenlieferungen geht – unsere Haltungen (nicht nur) zu solchen sogenannten „kontroversen“ Themen sind sowohl von den Narrativen geprägt, die unsere Biografie begleitet haben, als auch von denen, die unser Umfeld dominieren.

Ein Drittel meines Lebens lebe ich nun schon in Prag und habe akzeptiert: Aus der Nummer, den einen Deutschland und den anderen Tschechien „erklären“ zu müssen, komme ich nicht mehr raus. Dabei sind die Menschen, denen ich mich in meiner Wahlheimat – trotz gelegentlicher (auch heftiger) Meinungsverschiedenheiten – verbunden fühle, meistens ebenso fassungslos, wütend, enttäuscht oder auch erleichtert, seltener froh oder gar begeistert, wenn es um das politische Tagesgeschehen geht.

Ich will nicht anmaßend klingen, aber ich glaube meine Freund*innen und Nachbar*innen, „Honza“ und ich, „der Deutsche“: Wir wissen ziemlich genau voneinander, dass wir eigentlich nicht nur am selben Strang ziehen, sondern sogar in dieselbe Richtung streben. Streiten wir uns vielleicht nur darum, wer stärker zieht? Honza hat jedenfalls einen Rabatt eingeführt: Der Kaffee kostet 5 Kronen weniger, wenn man – wie ich – einen Mehrwegbecher mitbringt. Dafür sind die Croissants 5 Kronen teurer geworden. Ob dieses Mal vielleicht Macron schuld ist?

Morgen frage ich Honza, wie er wirklich heißt.
 

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