Das Kiosk-Festival in Žilina  Niedrigenergie-Theater für eine offene Gesellschaft

Das dichte Programm des Kiosk-Festivals versetzt eine Besucherin in Niedrigenergie-Zustand.
Das dichte Programm des Kiosk-Festivals versetzt eine Besucherin in Niedrigenergie-Zustand. Foto: © Natália Zajačiková | Kiosk 2023

Unter widrigen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen fand in der nordwestslowakischen Kreisstadt Žilina das Theaterfestival Kiosk statt. Es spricht Themen an, die in der Slowakei tabuisiert, übersehen, unerforscht, aber brennend aktuell und provokativ sind – und dies mittlerweile schon im 16. Jahrgang. Unsere Autorin hat für einige Tage das Kiosk-Paralleluniversum betreten.

Man staunt nicht schlecht, wenn man mitten in der Altstadt der slowakischen Kreisstadt Žilina steht – auf dem Platz, der nach dem erzkonservativen slowakischen Nationalisten Andrej Hlinka benannt ist: Bauarbeiter, ausgestattet mit einem Bagger und allem, was auf eine Baustelle gehört, vollführen die waghalsigsten akrobatischen Manöver. Sie balancieren auf Leitern, laufen auf rollenden Fässern und jonglieren mit Hämmern – es sieht federleicht und brandgefährlich zugleich aus. Trotz des leichten Regenschauers ist der Platz gut mit neugierigen Zuschauer*innen gefüllt: jung und alt, Menschen von hier, die zufällig vorbeilaufen und stehen bleiben, aber ebenso Kreative aus Bratislava, Brno und Prag, die aus den Metropolen für das Theaterfestival Kiosk hierhergekommen sind. Denn tatsächlich handelt es sich nicht um echte Bauarbeiter, sondern um Performer des Kollektivs Kaukliar aus Banská Bystrica. Sie präsentieren der Öffentlichkeit von Žilina das Stück Show der Arbeiter – Künstler an die Schaufeln! (Art is Work) (Show robošov – Umelci k lopatám! (Art is work)). Im Programm heißt es dazu:
 
Der Bau einer Performance, die Performance eines Baus. Was passiert, wenn wir Künstler an die Schaufeln schicken? Und was, wenn im Gegenteil die Arbeiter anfangen, Kunst zu machen? Wir wissen, was wir machen, wir machen, was wir wissen!

Die Botschaft lautet unzweideutig: „Kunst ist Arbeit.“ Wer meint, Künstler*innen seien zu nichts zu gebrauchen und faul, kann sich von den Künstler-Bauarbeiter-Akrobaten vom Gegenteil überzeugen lassen. Das Publikum zeigt sich jedenfalls sichtlich amüsiert. Viele Menschen lassen sich nicht vom schlechten Wetter beirren und halten an, um sich die Vorführung anzusehen: Berufstätige, die vermutlich gerade aus dem Büro kommen, ältere Menschen und Familien mit Kindern. Man kann an ihren erfreuten Gesichtsausdrücken sehen und am Applaus hören, dass ihnen das Spektakel gefällt.

Performer des Kollektivs Kaukliar aus Banská Bystrica  präsentieren der Öffentlichkeit von Žilina das Stück „Show der Arbeiter – Künstler an die Schaufeln! (Art is Work)“. Performer des Kollektivs Kaukliar aus Banská Bystrica präsentieren der Öffentlichkeit von Žilina das Stück „Show der Arbeiter – Künstler an die Schaufeln! (Art is Work)“. | Foto: © Marek Jančúch | Kiosk 2023

Weit entfernt von den Werten der Mehrheit

Das Theaterfestival Kiosk fand Ende Juli 2023 schon zum sechzehnten Mal statt, zu sehen waren vor allem experimentelle Performances und Theaterstücke von Künstler*innen aus der Slowakei und Tschechien, aber auch von Performer*innen aus der Ukraine, Deutschland und Polen. Einige der Stücke sind ohne die entsprechenden Sprachkenntnisse oder mit Englisch verständlich – und tatsächlich reisen vereinzelt internationale Gäste an. Die Initiative Studenti pro Ukrajinu (Studierende für die Ukraine) der Prager Kunsthochschulen DAMU and FAMU präsentieren zur Thematik Sprachbarrieren die partizipative „Kaffeekränzchen“-Performance Language Barrier Equal, an der geflüchtete ukrainische Studierende beteiligt sind.

Organisiert wird Kiosk vom alternativen Kulturzentrum Stanica in Žilina, das sich in einem Bahnhofsgebäude befindet. Viele Freiwillige halten es mit sichtlich viel Liebe und Arbeit am Laufen. Ein Teil der Veranstaltungen fand im Gebäude der kürzlich restaurierten und 2017 als Kulturzentrum wieder eröffneten Neuen Synagoge von Žilina statt. Aufführungen konnten ebenso an kleineren Veranstaltungsorten wie Galerien oder gar in der Natur erlebt werden.

„Jedes Jahr greift das Kiosk-Festival Themen des öffentlichen Lebens auf, die tabuisiert, übersehen, unerforscht, aber brennend und auch provokativ sind, und zwar auf direkte und bitter konkrete Weise, sodass es in diesem Sinne immer politisch ist. Das Festival setzt sich offen für die Gleichstellung aller Geschlechter und der LGBTQI+-Gemeinschaft ein, kritisiert soziale Ungerechtigkeiten und macht sich für die Rechte aller Minderheiten stark – Werte, die in der Slowakei weit von der Mehrheit des politischen Spektrums entfernt sind. Theater als lebendige Kunst hat das Potenzial, einen intensiven Eindruck auf die Menschen zu machen und ihre Sichtweise auf einige Fragen des Lebens zu verändern“, so der Theaterkritiker Milan Hrbek, der sich das Kiosk-Festival in Žilina nie entgehen lässt. Es sei die wichtigste Veranstaltung ihrer Art in der Slowakei.

Unter dem Eindruck steigender Strompreise aufgrund des russischen Angriffskriegs im Nachbarland Ukraine und einer auch sonst angespannten politischen wie wirtschaftlichen Gesamtlage in der Slowakei selbst, lautet das Festivalmotto in diesem Jahr: Niedrigenergie-Theater. Im ironisch angehauchten Ankündigungstext schreibt Kiosk sich auf die Fahnen:
 
In die neue Realität bringt es Niedrigenergieprojekte, die keinen Strom brauchen, die nicht von der konventionellen Infrastruktur abhängen. Kiosk entfernt damit eine weitere Komponente des reichen Theaters. Wo endet die Geduld der darstellenden Künste? Was sind Theater und Tanz bereit, für Veranstalter zu opfern, die unter hohen Stromrechnungen leiden?

Im Dorf über das Dorf

Dieses Motto ist als Hintergrundfolie zu verstehen, das Themenspektrum der präsentierten Stücke ist tatsächlich breit gefächert: So präsentiert die Kunstplattform Innenhof aus Bratislava die Ein-Frau-Performance Dedina (Dorf) – „Ein zufälliges Monodrama über ein Dorf. Über das innere Dorf. Über das Dorf außerhalb.“ – und das im Dorf Stráňavy, wenige Kilometer von Žilina entfernt. Mária Ševčíková spielt darin eine junge slowakische Frau vom Land und hält einen Monolog über ihre widersprüchliche Rolle sowie die Erwartungen, die die mehrheitlich konservativ gesinnte slowakische Gesellschaft an sie hat.

Die Ein-Frau-Performance „Dedina“ („Dorf“) der Kunstplattform Innenhof aus Bratislava. Würste und Bier werden in den Zuschauerraum gereicht. Die Ein-Frau-Performance „Dedina“ („Dorf“) der Kunstplattform Innenhof aus Bratislava. Würste und Bier werden in den Zuschauerraum gereicht. | Foto: © Marek Jančúch | Kiosk 2023 In einer riesigen, anfangs zu einem Sack gefalteten Luftpolsterfolie, die wenig später ausgebreitet als Bühne dient, schleppt sie alles an, was sie als „Frau aus Osteuropa, das Mitteleuropa genannt wird“, wie es in ihrem Monolog heißt, braucht: Dabei sortiert sie unter anderem Kartoffeln, elegante Pumps, roten Lippenstift (der bald großzügig auf das ganze Gesicht geschmiert wird), staubige Würste sowie zahlreiche Bierflaschen (die an das Publikum verteilt werden) akribisch zu verschiedenen Haufen, während sie spricht. Am Ende des etwa einstündigen Monologs wird alles wieder zu einem Luftpolsterfoliensack zusammengerollt.  

Einige Einheimische, überwiegend Frauen mittleren Alters, aus dem Dorf Stráňavy sind ins örtliche Kulturzentrum gekommen, um das Stück zu sehen. Sie scheinen überrascht von der unorthodoxen Form der Performance. Angeregt diskutieren sie in Grüppchen, dass sie Parallelen zu ihrem Leben sehen, die im Monolog geäußerten gesellschaftlichen Problematiken aus eigener Erfahrung kennen. Hier gelingt offensichtlich der Brückenschlag von der Theaterbühne zum realen Leben.  

Kleist und Klimawandel

Im Mai 2019 gab es eine Brandstiftung im Kulturzentrum Stanica, in deren Folge der Theatersaal, der sich außerhalb des Hauptgebäudes unter einer Brücke befand, vollständig ausbrannte. Bis heute ist der Tathergang ungeklärt, doch im Kulturzentrum vermutet man, dass Rechtsextreme dahinterstecken. Stanica steht nämlich für vieles, was Rechte hassen – Experiment, Toleranz, Dialog.

Dennoch wurde auch in diesem Jahrgang des Kiosk-Festivals an ebendiesem Ort unter der Brücke Theater gezeigt – nun aber Open Air und mit Straßengeräuschen im Hintergrund. Zu sehen ist eine aktuelle Interpretation des deutschen Klassikers Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist in slowakisch-tschechischem Sprachmix, präsentiert vom Theaterkollektiv Lachende Bestien aus Prag. Der Protagonist Kohlhaas hüpft in einem flauschigen Bienenkostüm und mit E-Gitarre bewaffnet auf der Bühne herum – die Kohlhaas-Biene besingt, wie sie Rache an den Verursacher*innen des Klimawandels üben möchte.

Während des Stücks werden Protestplakate hochgehalten, darunter der Slogan „Všechnu moc imaginaci“ („Alle Macht der Imagination“) des tschechischen Filmemachers und Künstlers Jan Švankmajer sowie die Losung „No justice, no peace“, die ihre Ursprünge in der afroamerikanischen Protestbewegung hat.

Das Theaterkollektiv Lachende Bestien aus Prag zeigt eine provokative Neuinterpretation des deutschen Klassikers „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist in slowakisch-tschechischem Sprachmix. Das Theaterkollektiv Lachende Bestien aus Prag zeigt eine provokative Neuinterpretation des deutschen Klassikers „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist in slowakisch-tschechischem Sprachmix. | Foto: © Natália Zajačiková | Kiosk 2023

Ein Portal ins Paralleluniversum

Am 30. September stehen in der Slowakei vorgezogene Parlamentswahlen an, Umfragen sehen populistische und rechte Parteien auf dem Vormarsch. Diese scheuen sich nicht, Wahlkampf mit Hate Speech gegen LGTBQ, Geflüchtete und Minderheiten wie Roma und Jüdinnen und Juden zu machen. Dabei greifen viele prominente Politiker*innen zu Verschwörungserzählungen, nutzen die Angst der Menschen und die Unzufriedenheit aufgrund ihrer schlechten ökonomischen Situation aus. So ermittelte der Think Tank Globsec aus Bratislava, dass aktuell 66 Prozent der Slowak*innen der Aussage „Die USA ziehen die Slowakei in einen Krieg mit Russland hinein, weil sie davon profitieren“ zustimmen. Das Vertrauen in demokratische Strukturen befindet sich an einem Tiefpunkt: Gerade einmal 18 Prozent vertrauen der Regierung. Auch in den Gesprächen der Künstler*innen und Besucher*innen des Kiosk-Festivals ist dieses politische Klima immer wieder Thema. Man hört zahlreiche Geschichten über Familienmitglieder oder Bekannte, die sich als Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen rund um den russischen Angriffskrieg oder das Coronavirus herausstellten.

Trotz des gesellschaftspolitischen Umfelds, in dem Kiosk stattfand, – und trotz Niedrigenergie-Motto – war das Festival vor allem von einem seltenen Gefühl übersprudelnder kreativer Energie und Gemeinschaft geprägt: Man eilt von Performance zu Performance des dichten Programms und spricht mit Fremden wie mit Bekannten. Die Atmosphäre des Festivals ist familiär, selbst für von außen Hinzugestoßene. Bei der Abschlussparty im Kulturzentrum Stanica legt DJane TRANSmisia aus Bratislava auf, eine Trans-Frau. Für einige Tage hatte sich ein Portal geöffnet, durch das man in das Kiosk-Paralleluniversum gelangen konnte. Aber kann ein spielerischer Dialog in Form des Theaters, wie er während des Kiosk-Festivals jedes Jahr im Kleinen möglich ist, stark genug sein kann, um langfristig Früchte zu tragen und eine offene Gesellschaft mitzuprägen?

Nachtrag am 2. Oktober 2023, nach den vorgezogenen Wahlen zum slowakischen Nationalrat:

Die linksnational-populistische Partei Smer (Richtung) des früheren Premierministers Robert Fico ging mit knapp 23 Prozent der Stimmen als Siegerin aus den slowakischen Parlamentswahlen am 30. September 2023 hervor. Auf dem zweiten Platz landete die linksliberale Partei Progresívne Slovensko (Progressive Slowakei - PS) mit knapp 18 Prozent, gefolgt von der sozialdemokratischen Hlas (Stimme, 14,7 Prozent), einer Abspaltung der Smer. Außerdem zogen ins Parlament ein: die konservativ-populistische und pro-europäische OĽaNO (knapp 9 Prozent), die christdemokratische KDH (6,8 Prozent), die neoliberale SaS (6,3 Prozent), sowie die rechtspopulistische SNS (5,6 Prozent).
 

Die Wahlergebnisse für die Stadt und den Kreis Žilina:

Kreis:
Smer - 26 %
PS - 19,5 %
Hlas - 14,6 %
SNS - 7,4 %
SaS - 7 %
OĽaNO - 6,9 %
KDH - 6,5 %

Stadt:
PS - 24 %
Smer - 23 %
Hlas - 13,5 %
SaS - 8,5 %
OĽaNO - 7,2 %
SNS - 6,4 %
KDH - 5,7 %

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