Queer-Pop aus der Mittelslowakei  Revolte in einem weißen Rock

Vojtik
Vojtik Foto: © Jakub Kováč | duhovyrok.sk

Ein queerer Rom vom Land ist die neue Sensation der slowakischen Popszene. Vojtik legt mit dem Album „Kvety z Podpoľania“ („Blumen aus Podpoľania“) ein popmusikalisches Manifest vor, wie es zuletzt vor 40 Jahren in England zu hören war, mit einem Gestus, den man sonst nur aus der Rap-Szene kennt.

Wenn ich live singe, ignoriere ich meistens, worum es in den Liedern geht, weil ich weiß, dass ich sie sonst nicht mit dem Gefühl singen würde, wie ich es gerne hätte.“

Das Album Kvety z Podpoľania (Blumen aus Podpoľania – eine ländlich geprägte Region in der Mittelslowakei, Anm. d. Red.) zeigt er einmal mehr perfekt, was Pop kann, wenn er es schafft, bis dorthin zu wirken, wo es weh tut, an die Stellen, die voller fanatischer Wut aus ungerechtfertigter Angst sind. Kvety z Podpoľania ist nicht nur eine Sammlung von energiegeladenen Popsongs. Es ist ein Manifest der Freiheit, das auf großartigen Texten aufbaut. Es ist ein aufgewühltes, fast „kampagnenartiges“ Zeitdokument, angespornt durch die schiere Ungerechtigkeit, die queere Menschen um sich herum immer expliziter erleben.

Regenbogen

Ich erlaube mir, einen Regenbogen in die Vergangenheit zu schlagen. Auch um noch einmal daran zu erinnern, wie lange wir uns schon mit ähnlichen Themen beschäftigen, ohne zu einem versöhnlicheren Ende zu kommen. Vojtiks Song Detvanský sen (etwa: Traum von Detva – eine Kleinstadt in der Mittelslowakei mit knapp 14.000 Einwohner*innen, Anm. d. Red.) erinnerte mich in vielerlei Hinsicht an den Song Smalltown Boy der Band Bronski Beat, beziehungsweise an deren Sänger Jimmy Somerville, der in den achtziger Jahren vielleicht der einzige war, der in seinen Texten offen über Homosexualität sprach.

Songs und Videos wie das spektakuläre Smalltown Boy oder Why? waren eine Offenbarung und zeugten gleichzeitig von außerordentlichem Mut. Jimmy Somerville wurde zu einem Helden, der die Wahrnehmung der queeren Minderheit durch die Mehrheitsgesellschaft verändern wollte. Homosexualität und geschlechtliche Zweideutigkeit hatten zwar einen breiten Platz im Pop-Rock-Genre, und die „new romantics“ trugen mehr Lippenstift und hatten interessantere Outfits als die extravagantesten Mädchen in London, aber sie waren auch stark tabuisiert: Wohl keine massiv erfolgreiche Popband ging in den 1980er Jahren so offen, fast kämpferisch, mit Homosexualität um wie Bronski Beat.
 

Smalltown Boy

Das Album The Age Of Consent aus den Achtzigern, von dem der berühmte Song Smalltown Boy stammt, oder Vojtiks aktuelle Platte Kvety z Podpoľania aus diesem Jahr ähneln sich in der Geste, die sie begleitet – obwohl fast vierzig Jahre zwischen ihnen liegen. Ich kann mir vorstellen, dass damals eine Platte von Bronski Beat das Zeug hatte, so manchem Jungen oder sogar einem erwachsenen Mann das Leben zu retten. Zur Zeit von The Age Of Consent, das 1984 erschien, während der Ära des Thatcherismus, hatten Arme, Linke, Schwule oder Lesben, ganz zu schweigen von Trans-Personen, keine besonders guten Zukunftsaussichten.

Heute mit der Aussicht auf eine erneute Machtübernahme durch Robert Fico [populistischer Ex-Premierminister der Slowakei und nach der Parlamentswahl Ende September Wahlsieger mit seiner Partei Smer, Anm. d. Red.], nach der Schießerei in Bratislava [Am 12. Oktober 2022 erschoss ein 19-Jähriger vor einer Bar in Bratislava, in der sich die LGBTQ+-Community trifft, zwei Männer. Anm. d. Red.] oder nach der fast einhelligen Verurteilung durch Vertreter der katholischen Kirche, haben es queere Menschen in der Slowakei um nichts leichter. Das gilt besonders für die Mittelslowakei, ein Zentrum der traditionellen Volkskultur, aber auch des Nationalismus. Vor diesem Hintergrund sind die Texte von Vojtik entstanden, die ein Leben ohne Folklore beschreiben. Das ganze Album hat beinahe eine Art modernes mythisches Kolorit, das sich auf die Peripherie der Kreisstadt Detva bezieht („... die verbannten Kinder von Podpoľania“, „... wir sind tabu in Detva“, das Viertel Lúčna, Nacht in Hriňová, Traum von Detva).
 

Auflehnung in einem weißen Rock

Eine ähnlich radikale Haltung würde man in der Rap-Szene erwarten, sicher nicht im Rahmen eines so geradlinigen Pops. Heute kleidet sich die Revolte in einen weißen Rock, trägt zartes Make-up, rennt auf der Wiese herum und singt dabei freimütig, wie sie sich das eigene Leben vorstellt. Und das geschieht nicht im Zentrum der Hauptstadt, sondern an der Peripherie des Landkreises, in der Wohnsiedlung, neben dem Fußballplatz, auf dem Supermarkt-Parkplatz, am Bahnhof. Das Video zu Detvanský sen ist auch ein ironisches Grinsen in Richtung des allgegenwärtigen Macho-Gestanks und der patriarchalischen Atmosphäre. Und Vojtik leuchtet darin wie eine Blume aus Beton!

Die Auflehnung bleibt diesem Jungen überlassen, einem Rom im weißen Tutu, der die schwierige Welt um ihn herum vorerst nicht wahrzunehmen scheint und seine aufkommende Popularität genießt. Man fragt sich, warum es nicht schon früher dazu gekommen ist? Es klingt so einfach. Doch dahinter steckt viel Arbeit, viel Talent und Entschlossenheit, aber auch eine Portion schiere Verzweiflung. Dabei ist das Einzige, was gefordert wird, Respekt, A Little Respect, wie andere ikonische queere Popstars in den späten Achtzigern sangen.

Und schließlich darf ich anmerken, dass Vojtiks Outfit das ikonischste in der Geschichte dieses Landes ist!
 

Perspectives_Logo Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Revue Prostor, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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