Nachbarschaft  Das Leben der Anderen

Foto mit Blick aus dem Fenster in den Garten
Das Leben der Anderen Foto: © Corinna Anton

Du öffnest wochentags die Rollläden erst gegen Mittag, in der Apotheke hast du dir Abführmittel besorgt und neulich hat ein junger Mann bei dir übernachtet, mit einem fremden Autokennzeichen. Egal, was gerade passiert in deinem Leben: Irgendwer passt hier immer auf dich auf. Und sorgt dafür, dass auch der Rest im Dorf über deinen Beziehungsstatus, deine Gesundheit und deine Karriere informiert bleibt. Ist das die „Stasi auf dem Land“? Und sind wir unseren Nachbarn in der Stadt wirklich egal?

Während ich diese Zeilen schreibe, schweift mein Blick ab und zu vom Bildschirm zum Fenster. Ich sehe saftig grüne Wiesen, einen Fluss, der sich durch die Landschaft schlängelt und eine lange Brücke. Über die Brücke müssen fast alle, die in unser Dorf wollen. Manchmal beobachte ich die Brücke eine Weile. Dann weiß ich, wer gerade nachhause kommt und wer wegfährt, ob eine Person im Auto sitzt oder mehrere. Und die meisten Leute kenne ich sogar persönlich. Ich kann mir in etwa denken, wer in der Arbeit war, wer zum Einkaufen fährt und wer seine Kinder von der Schule abholt oder zum Fußballtraining bringt. Ich könnte ein recht genaues Bewegungsprofil vieler Einwohner unseres Dorfes erstellen.

Umgekehrt wissen die Leute, die da in ihren Autos über die Brücke fahren, auch eine Menge über mich. Sie kennen meine Eltern und meine Geschwister, meine Hobbys und meinen Familienstand. Viele wissen wahrscheinlich, wo ich zur Schule gegangen bin, welchen Beruf ich habe und welchen Nebenjob, bestimmt auch, dass ich nun schon über dreißig bin und noch immer kein Auto besitze, was in unserem Dorf eine Seltenheit ist. Hätte ich morgen ein Date am Dorfbrunnen, würde das sicher nicht lange geheim bleiben.

Seit ich vor zehn Jahren weggezogen bin und nur noch zu Besuch komme, ist das für mich der größte Unterschied. Man kennt sich im Dorf, man interessiert sich und informiert sich über das Leben der Anderen. In München, Prag und Berlin hatte ich dagegen das Gefühl, dass ich meinen Nachbarn ziemlich egal war. Manche habe ich monatelang kein einziges Mal gesehen, andere zwar stets freundlich gegrüßt, aber ob sie verliebt, verlobt oder verheiratet waren, wusste ich nicht.

Haben Landbewohner mehr Interesse an ihren Mitmenschen?

Mit diesem Eindruck sei ich nicht allein, sagt Dagmar Hänel vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte. Sie hat zum Alltag im ländlichen Raum geforscht und dabei mit Menschen auf dem Land über Konzepte von Nachbarschaft gesprochen. „Viele haben den Eindruck, dass Nachbarschaft auf dem Dorf anders sei als in der Stadt: enger, positiver, unterstützend“, erklärt die Volkskundlerin. „Nachbarn werden als zentrale Elemente des sozialen Umfeldes gesehen. Auch negative Aspekte wie soziale Kontrolle, unterschiedliche Ansprüche an Ordnung, zum Beispiel zur Ästhetik eines Vorgartens, wurden bei unseren Befragungen genannt.“ Der Grund dafür, dass sich die Menschen auf dem Land besser kennen, könnte „in der Kontinuität dörflicher Lebenskonzepte liegen“, glaubt Hänel. Die Leute ziehen in der Regel seltener um, leben teilweise über Generationen am selben Ort und die Zahl der Nachbarn ist überschaubar.

Dass sich Menschen auf dem Land im Allgemeinen mehr für ihre Mitmenschen interessieren als in der Stadt, möchte die Expertin aber nicht behaupten. „Eine vergleichende Studie dazu gibt es meines Wissens auch nicht“, sagt Hänel.

Ich frage deshalb weiter nach bei Marc Redepenning, Professor für Kulturgeographie an der Universität Bamberg. Er spricht von „starken Nachbarschaften“, in denen sich die Menschen nicht nur um sich selbst kümmern, sondern auch um ihre Nächsten – und nebenan mal klingeln, wenn sie die ältere Dame schon drei Tage nicht mehr auf der Straße gesehen haben. Das könne sogar ein Standortfaktor sein, meint der Kulturgeograph. Manche junge Familien würden auch aufs Land ziehen, weil sie hoffen, dort intakte und überschaubare Nachbarschaften zu finden.

Das Land ist städtischer geworden

„In einem Dorf mit tausend Einwohnern können sie den anderen 999 nicht entfliehen, dadurch wird ein soziales Band geknüpft, sei es nun positiv oder negativ“, erklärt Redepenning. Denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass man demjenigen schon bald wieder in die Augen schauen muss, dem man gerade aus der Klemme geholfen oder eben im Stich gelassen hat. „Das ist auf dem Land stärker ausgeprägt, aber es wäre falsch zu behaupten, dass es dieses Phänomen in der Stadt nicht gibt“, betont Redepenning. Wer in seinem Stadtviertel zum Gemüsehändler an der Ecke geht, der trifft dort schließlich auch immer wieder dieselben Personen.

Dass Menschen das Landleben eher mit Überschaubarkeit, agrarischen Lebensformen, sozialer Kontrolle und neugierigen Nachbarn verbinden, die Stadt dagegen mit Anonymität, das hatte vor hundert Jahren eine gewisse Berechtigung, meint Redepenning. „Das hat sich in den Köpfen zum Teil gehalten und wird auch in den Medien so vermittelt“, fügt er hinzu. Aber: „Heute ist das anders. Selbst in den ländlichen Kreisen arbeiten nur noch um die drei Prozent der Menschen in der Landwirtschaft. Wir können uns über die Massenmedien von jedem Lebensstil inspirieren lassen und uns alles, was wir nicht vor Ort bekommen, über das Internet bestellen. Das hat dazu geführt, dass sich die Lebensstile sehr stark angeglichen haben.“

Das Land ist in vielerlei Hinsicht städtischer geworden, im Gegenzug werden aber auch viele Städte immer grüner, es entstehen neue Wohnquartiere, die gerade darauf abzielen, gute Nachbarschaften zu schaffen. Gewiss, wer aufs Land zieht, muss bereit sein, sich an gewisse Spielregeln zu halten, sich vielleicht im Verein engagieren, räumt Redepenning ein. Andererseits sagt er: „Stellen Sie sich ein hippes, weitgehend gentrifiziertes Viertel in der Stadt vor. Wenn Sie dort als arme Person reinkommen, kann das unter Umständen auch schwierig werden.“

Stadt und Land sind also gar nicht (mehr) so unterschiedlich. Mein Blick schweift wieder zur langen Brücke vor meinem Fenster, die ja auch nicht aus dem Nichts kommt. Genau eine halbe Stunde dauert es von der Brücke aus mit dem Auto, dann steht man in Nürnberg am Hauptbahnhof. Der Zug braucht etwas länger, fährt etwa einmal pro Stunde und ist morgens ziemlich gut gefüllt, wenn die Pendler zur Arbeit und die Jugendlichen auf die weiterführenden Schulen fahren. Oder später ins Kino, Theater, zum Shoppen.

Was ist überhaupt ein Dorf?

Wenn man also die Schlafzeit nicht mitrechnet, dann verbringen nicht wenige Menschen aus meinem Dorf mehr Zeit in der Stadt als auf dem Land. Gelten sie dann überhaupt noch als Dorfbewohner? „Es ist eine schwierige Frage, was man überhaupt unter Dorf versteht“, sagt Johannes Kopp, Professor für Empirische Sozialforschung an der Universität Trier. Legt man wissenschaftliche Definitionen zugrunde, so leben in Deutschland nur noch sehr wenige Menschen „auf dem Dorf“. Fragt man die Leute aber direkt, dann sind vierzig Prozent der Meinung, dass sie in einem „ländlichen Dorf“ wohnen. „Das sind jedoch oft Gebiete in den großen Speckgürteln, die objektiv zum Konglomerat Stadt gehören“, so Kopp.

Auch er ist der Ansicht, dass Nachbarschaften sich hier wie dort entfalten, mit einem Unterschied: „In den Städten hat man mehr Möglichkeiten auszuweichen.“ Das heißt, die Freundschaften und Bekanntschaften wechseln schneller, niemand muss sich ständig sehen, wenn es mal nicht so läuft. Auf dem Land dagegen seien die Beziehungen oft „strukturell“ bedingt. Im Klartext: Sie halten auch deswegen länger, weil die Auswahl nicht so groß ist, man sich bei ein paar hundert Einwohnern nicht dauernd neue Freunde in der Nähe suchen kann. „Aber das ist nicht unbedingt ein Nachteil“, meint Kopp, denn: „Feste, auf Dauer angelegte Sozialbeziehungen sind eine notwendige Bedingung für ein gutes Leben.“ Wenn man den Freunden aus Kindertagen zwangsläufig beim nächsten Dorffest wieder über den Weg läuft, ist man eher bereit, Krisen und Streit zu überwinden, sich zusammenzuraufen.

Ich gebe zu, dass ich meine „alten“ Freundschaften nicht besonders gut gepflegt habe in den letzten Jahren. Ich war zu beschäftigt damit, jenseits der langen Brücke Neues aufzubauen, neue Städte, Länder und Leute kennenzulernen. Manche habe ich schon wieder aus den Augen verloren, andere werden bleiben, weil ich mit ihnen auf einer Wellenlänge liege wie mit vielleicht niemandem in meinem Dorf. Aber nach einigen Jahren in der Fremde habe ich auch verstanden, wie gut es tut, „nachhause“ zu kommen und auf Menschen zu treffen, denen ich nichts erklären muss, weil sie mich einfach „schon immer kennen“, weil sie wissen, wo ich herkomme, was meine Eltern machen und vielleicht auch, dass ich die Rollläden unter der Woche manchmal erst mittags hochziehe.

Und noch etwas muss ich gestehen. Wenn ich länger in meinem Dorf bin, dann ertappe ich mich manchmal dabei, wie ich im Badezimmer abends beim Zähneputzen den Vorhang ein ganz klein wenig zur Seite schiebe, weil ich draußen ein Auto vorfahren höre. Ich muss ja schließlich wissen, wer so spät am abends noch in unserer Straße parkt.

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