Těšín (Teschen) hat zwei Gesichter – ein polnisches und ein tschechisches. jádu-Autorin Irena Dudová ist in Těšín geboren und aufgewachsen, aber sie lebt schon lange nicht mehr dort. Ihre Heimatstadt musste sie neu entdecken. In den letzten Jahren hat sich viel verändert.
Warum uns die anderen Kinder nach den Wettkämpfen in Polen „zurück nach Hause“ schicken und andersrum, verstehen wir nicht ganz."
Maisflips, Rollmöpse, Krówki-Karamell, die Jogginghosen mit den drei Streifen, Winterjacken – für uns Grundschüler der Gipfel der Mode. Auf dem Markt wimmelt es von Polen, Tschechen und Slowaken. Nach dem Einkaufen übergeben wir dem Zollbeamten am Schalter des Grenzübergangs an der Brücke der Verbrüderung (Most Družby) die Reisepässe. Von Begriffen wie „avantgardistische Architektur des späten Modernismus“ haben wir keinen Schimmer. Noch bevor wir zu Hause ankommen ist die Hälfte der Flips weg und wir haben überhaupt keinen Hunger mehr, geschweige denn Platz für das Mittagessen.
Im Hauptsaal des Hotels Piast tanzen an Karneval Ballerinen in Neonkleidchen mit Piraten, Prinzessinnen mit Indianern. Sie schlürfen ihre klebrige Orangeade mit Strohhalmen und bald wird ihnen der erste Schneidezahn ausfallen. Der Saal ist riesig und nobel. Zur Übergabe der Tombolagewinne schreitet man im Schein eines gewaltigen Kronleuchters über das Parkett.
Vom alten Grenzübergang keine Spur. Verschwunden die Pässe, die Schranken, die Zöllner in grün. Im Gebäude, wo sie die verdächtigen Ameisen abtasteten, näht man jetzt maßgeschneiderte Lederjacken oder Pelzmäntel. Unter der Brücke ein Radweg, Abiturienten fotografieren sich vor Graffitis für die Absolventenaushänge, an beiden Ufern tummeln sich Dutzende Jogger in Funktionskleidung, die man neben Unterwäsche für übergroße Oberweiten im Gebäude direkt gegenüber erwerben kann – also dort, von wo man dann mit Tüten voll von rosa gefärbtem Puffreis aus Polen wieder zurückkommt. Thermoactive System mit nahtloser Technologie. Eine Bohrmaschine Marke Makita. Nusswafelki. Polnische und europäische Flaggen, polnische und tschechische Beschriftung. „Maximum Diversity in Minimum Space“ haben sie hierhin gesprayt. Die Ameisen sind wie vom Erdboden verschluckt.
Auf seinem Sweatshirt steht „Freiwillige Feuerwehr“ und mit seinen polnischen Kollegen vom Stand nebenan spricht er abwechselnd slowakisch, tschechisch und polnisch. Herr Mirek verkauft hier auf dem Markt schon seit gut zwanzig Jahren Schuhe und Taschen. „Ich bin aus Prag. Was ich hier tue? Da ist die reinste Überflutung, aus der ganzen Welt, also bin ich abgehauen.“ Wir unterhalten uns über die komplizierten tschechisch-polnisch-slowakischen Beziehungen. „My was kochamy!“ („Wir lieben euch!“) ruft mir eine Verkäuferin vom Nachbarstand zu. Nationalitäten hin oder her – komplizierter ist es zwischen den einzelnen Menschen, sagt auch Mirek. „Ich hab dort wirklich gute Beziehungen, Freunde. Jasiu – ein super Kerl“, er zeigt auf den Kollegen, der ebenfalls Schuhe verkauft. „Idioten findest du überall und überall findest du gute Menschen. Den Idioten weiche ich aus, und Jasiu ist der Beste. Ich bin hier seit zwanzig Jahren. Aber Jasiu – von diesen normalen Polen gibt es nur wenige. Er ist beste Schuster.“
Mirek verkauft hier auf dem Markt schon seit gut zwanzig Jahren Schuhe und Taschen. | Foto: © Irena Dudová
Idioten findest du überall und überall findest du gute Menschen."
Es gibt Leute, die Tschechen nicht mögen, aber mir gefällt deren entspannte Art. Deswegen lerne ich auch Czeszisch, ne?"
Zu Bobi kommen sowohl Tschechen als auch Polen. Die Tschechen behaupten, dass es hier anders wäre als bei ihnen – der Kaffee schmeckt irgendwie anders. „Die kommen gern her, sie stört es nicht. Es gibt Leute, die Tschechen nicht mögen, aber ich bin sicher nicht so. Man sagt mir nach, ich wäre ein Tschechophiler. Mir gefällt deren entspannte Art. Deswegen lerne ich auch Czeszisch, ne?“
Von Bobi sind es nur ein paar Schritte zum alten Grenzübergang auf der Brücke der Verbrüderung. Ich trinke noch einen Presso mit Argir, ein Berg von einem Kerl mit Vollbart und Basecap. Er ist Grafikdesigner, gebürtig aus dem nahen Karvina, und kehrte nach einem mehrjährigen Aufenthalt in London mit der Familie zurück in heimische Gefilde, wo er nun versucht die Dinge zu einem Besseren zu wenden. Im Rahmen des Projektes Human Cities beteiligte er sich an der Revitalisierung eben jenes Gebäudes am Grenzübergang, eines Werkes der Architekten Zbigniew Kołder und Józef Raszka. Eines heruntergekommenen, vergessenen, unterschätzten und mehrmals als hässlichstes Bauwerk der Region betitelten Gebäudes, das zum Abriss vorbestimmt ist. Eines Beispiels avantgardistischer Architektur des späten Modernismus.
Bis Argir mit der Idee kam, den verfallenen Bau zumindest ansatzweise den Leuten zurückzugeben: „Der Grenzübergang in Těšín, das ist ein einzigartiger Ort. Zöllner, Strafen, Grenzhandel, Elend, Ameisen, Kontrolldurchsuchungen – das war erniedrigend. Ich habe insgesamt schlechte Erinnerungen an diesen Ort. Aber da ich hier jetzt schon mehr als ein Jahr lebe, laufe ich oft daran vorbei und denke – lasst uns einen Ort daraus machen, der lebt!“
Das Gebäude selbst erlebte nach dem Schengen-Beitritt einige gute Jahre, während derer sich in seinen Räumen unter anderem Organisationen wie Krytyka Polityczna (Politische Kritik), der Klub Kreativních Žen (Klub der kreativen Frauen) oder die der sozial engagierte Verein Parostatek niederließen. Durch den Raum wuselten Kinder, die sich hier sich wie zu Hause fühlten. Sie nahmen an Kreativworkshops teil, ihre Eltern konnten es sich derweil im Liegestuhl mit einem Buch gemütlich machen, Limonade trinken und dabei auf den Fluss Olsa schauen, der die beiden Těšíns voneinander trennt. Dann aber mussten die Initiativen umziehen und das Gebäude wurde stehen gelassen. Allmählich fing es an hineinzuregnen, es verfiel und wurde zur Anlaufstelle Obdachloser.
In Bobis Café geht es gemächlich zu: „Wenn du etwas schnell willst, dann geh zu Starbucks oder McDonalds.“ | Foto: © Irena Dudová Dank des Projektes Human Cities hat Argir gemeinsam mit einem Freund im Winter letzten Jahres bei bitterer Kälte die Fenster des verlassenen Baus mit Dreiecken aus farbigem Schaum verklebt und ihm so neues Leben eingehaucht. „Ursprünglich wollten wir für die Ausstellung ein wenig renovieren, ich aber wollte es so roh lassen – die Flecken sollten bleiben, damit die Menschen die Geschichte sehen können, den Zahn der Zeit, der sich darin eingeschrieben hat.“ Die Form der roten Dreiecke erinnert manche zwar an rote Marlboros. Argirs Intention zielt aber auf die Zeit der Kindheit: „Das ist so dieses Traumschloss, zurück in die Kindheit, rot blau. Mir schien das ziemlich witzig. Diese Obdachlosen, die das hier besetzen, sind so betrunken, dass sie sich wie Kinder benehmen. Mir kam das so in den Kopf – ihnen baue ich ein Schloss. Wenn die Leute das sehen, sollen sie diese Reminiszenz erkennen, eine Art Rückkehr in die Kindheit. Sie sollen innehalten in ihrer Eile, in ihren Erinnerungen graben und sich an dieses Spiel erinnern. Ein Guggenheim-Museum wollten wir wirklich nicht daraus machen. Es sollte die Leute direkt ansprechen.“
Die Obdachlosen sind so betrunken, dass sie sich wie Kinder benehmen. Mir kam das so in den Kopf – ihnen baue ich ein Schloss."
Die Ballerinen sind schon erwachsen und jetzt anstelle über das edle Parkett tanzen sie zwischen Kisten und Ständern, und zögern, ob sie die vier Shirts zum Preis von zwei oder die „biligen Batedücher“ mit dem Delfin nehmen. Ach, und im Sommer kann man nirgends so billige Fächer auftreiben wie hier. Naja, vielleicht noch irgendwo auf der Haupt- oder der Prager Straße, dort wo Macek immer sitzt.
Es ist Mittagsessenzeit. Etwas Lokales, Regionales, um des Gefühls willen, der Rückkehr zu den Wurzeln. Grand Hotel Piast steht dort auf den Fenstern. Ein seltsamer Mix aus Kartoffelpuffern mit Sahne und einem Radegast, das hier irgendwie anders schmeckt als zu Hause. Ein bizarres Kompendium aus Bildern der polnischen Piasten, Mutter Teresa und Alexander dem Großen. Ein überlebensgroßer LCD-Monitor über der Bar verbreitet im ganzen Grand Hotel störend laut die Worte eines Clips, der nicht wirklich hierher passen will, aber eigentlich das ganze treffend zusammenfasst. Es fasst Těšín mit Kinderaugen zusammen. Das Těšín, das man verlässt und wohin man wieder zurückkehrt. Verschmäht und wiederentdeckt nach all den Jahren, die man in kleineren und größeren Städten, Häusern, Wohnungen oder Zimmern mehr oder weniger fremder Leute verbrachte. Dort, wo sie dich immer und immer wieder fragen, woher du kommst und wohin du gehst:
I like digging holes and hiding things inside them
When I'll grow old, I hope I won't forget to find them
Cause I've got memories and travel like gypsies in the night
I build a home and wait for someone to tear it down
Then pack it up in boxes, head for the next town running
Alice Merton – No Roots
Český Těšín | Cieszyn
Juli 2018