Surreale Tierwesen  Schön und frei

Le bouledogue de Maldoror (Die Bulldogge des Maldoror) von Jean Benoît in der Ausstellung „Surreale Tierwesen“ im Max Ernst Museum Brühl
Le bouledogue de Maldoror (Die Bulldogge des Maldoror) von Jean Benoît in der Ausstellung „Surreale Tierwesen“ im Max Ernst Museum Brühl Foto: © KunstArztPraxis.de | Thomas Köster

Im Schaffen der Surrealist*innen wimmelte es schon immer von Tieren und Mischwesen. Doch erst jetzt wurde ein ganzes Bestiarium der surrealistischen Bewegung im Max Ernst Museum in Brühl versammelt. Der Kurator Jürgen Pech über die Ausstellung „Surreale Tierwesen“ – und was ein aufdringliches Hausschwein in der Toskana damit zu tun hat.

Was kennzeichnet die Tierwesen in den surrealistischen Bilderwelten? Unter welcher Klammer werden sie in der Ausstellung in Brühl präsentiert?

Surrealismus ist kein Stil wie Impressionismus, Expressionismus oder Kubismus, sondern eine Haltung der Wirklichkeit gegenüber. Im Dictionnaire abrégé du surréalisme (Gekürztes Wörterbuch des Surrealismus, 1938) ist eine Umschreibung des Oberbegriffes „Tier“ zu finden, die von dem bildenden Künstler, Schriftsteller, Chronisten und Sammler Georges Hugnet stammt: „Die Tiere sind schön, weil sie nackt sind – im Inneren auch.“ Diese Schönheit kennzeichnet die Tiere des surrealen Bestiariums, aber auch ihre Freiheit – sowohl auf der Ebene der Bedeutungsmöglichkeiten als auch der Nichtzugehörigkeit zu einer Nation, eines Staates oder einer Religion.

Alle in der Ausstellung im Max Ernst Museum vertretenen Künstlerinnen und Künstler waren an der surrealistischen Bewegung beteiligt oder ihre Werke waren auf den international ausgerichteten Ausstellungen zu sehen. Die Vielfalt wird nun mit 74 bildenden Künstlerinnen und Künstlern sowie Schriftstellerinnen und Schriftstellern ausgebreitet. Zu sehen und zu lesen ist ein Rendezvous unterschiedlicher, höchst konträrer Arbeits- und Sichtweisen. Gleichzeitig ermöglicht diese Zusammenzustellung aber auch einen Überblick von den Anfängen der surrealistischen Bewegung Mitte der 1920er Jahre bis zu ihren letzten Manifestationen in den 1960er Jahren.
 

Tierwesen, auch „surreale“ und Mischwesen, gibt es in der Kunstgeschichte nicht erst seit den Surrealist*innen und nicht nur im euroatlantischen Kulturkreis. Wo knüpfen die surrealistischen Tierwesen an Vorbilder an? Wo gehen sie darüber hinaus?

Eine Quelle der surrealistischen Passion für hybride Gestalten ist natürlich die Kenntnis der Literatur und der bildenden Kunst der Vergangenheit und zwar sowohl der europäischen als auch der außereuropäischen Kulturen. Im Zentrum der Ausstellung stehen antike Mythologien und mittelalterliche Sagen. Der Minotaurus zum Beispiel prägte die Titelbilder der französischen Zeitschrift Minotaure, die von 1933 bis 1939 erschienen war. Weibliche Chimären wie die Sphinx oder die Melusine sind im Werk von Leonor Fini, Max Ernst oder René Magritte zu finden.

Im Surrealismus entstanden Mischwesen aber auch durch Gruppenexperimente und gehen damit über die Vorbilder der Vergangenheit hinaus. Für gemeinsam gestaltete Zeichnungen oder Texte steuerte jede*r der Teilnehmenden jeweils Kopf, Körper und Beine respektive Subjekt, Objekt und Prädikat bei, womit das durch Vernunft gelenkte Denken außer Kraft gesetzt wurde.

Sie haben eingangs die Vielfalt der Arbeits- und Sichtweisen innerhalb der surrealistischen Bewegung angedeutet. Welche individuellen Positionen lassen sich für die surrealistischen Tierwesen ausmachen?

Im surrealistischen Kosmos gab es einige Doppelbegabungen. So waren zum Beispiel einige Künstler*innen auch als Dichter*innen tätig, wie beispielsweise Hans Arp, Max Ernst, Gisèle Prassinos, Dorothea Tanning und Unica Zürn.

Eine private Ikonografie mit einem bewusst ausgesuchten Tier als Emblem des jeweiligen Werkes ist mit der Katze bei Léonor Fini, dem Vogel bei Max Ernst oder dem Hund bei Dorothea Tanning festzustellen, wobei die jeweilige Auswahl mit dem Tier übereinstimmt, das in der Kindheit, der Umgebung oder der Lebenswirklichkeit der Künstler*innen vorzufinden war.

In welcher Beziehung stehen die surrealistischen Tierwesen zu ihren „Vorbildern“ in der Natur? Welche Bedeutung schrieben ihnen ihre Schöpfer*innen zu?

Hervorzuheben sind die Fisch-Vogel-Kombinationen. Sie sind als Signum des Gegensätze aufhebenden Surrealismus zu verstehen. Sie stehen für das Eintauchen in andere, neue und erweiterte Bewusstseinszustände und stellen gleichzeitig die vom Surrealismus geforderte Verfremdung, die angestrebte Entheimatung der Dinge sinnbildlich dar.

Ein Fisch ist auch in der ersten Nummer der Zeitschrift La révolution surréaliste (Die surrealistische Revolution) abgebildet. Der Tuschezeichnung, die einen Lachs darstellt, ist das Wort Surrealismus eingeschrieben und die Ankündigung beigegeben: „Wir stehen am Vorabend einer Revolution. Sie können daran teilnehmen.“ Der edle Fisch bezieht sich aber nicht nur auf die submarine Erforschung des Unbewussten, sondern verweist gleichzeitig auf den automatischen Text Poisson soluble (Löslicher Fisch), mit dem André Breton sein kurz zuvor erschienenes Manifeste du surréalisme (Manifest des Surrealismus) ergänzt hatte.

In der Ausstellung im Max Ernst Museum sind auch die Werke von acht tschechischen Surrealist*innen zu sehen. Zeichnen sie sich durch einen gemeinsamen Zugang zum Thema „Tierwesen“ aus?

Die tschechischen Surrealist*innen, die an der Ausstellung beteiligt sind, wurden zwischen 1899 und 1936 geboren. Ein gemeinsamer Nenner kann höchstens bei der Arbeitstechnik festgestellt werden, denn Adolf Hoffmeister, Jiří Kolář, Ivo Medek Kopaninský, Jindřich Štyrský und Karel Teige sind mit Collagen vertreten, Marie Čermínová unter ihrem Pseudonym Toyen dagegen mit ihren Zeichnungs-Zyklus Tir, in dem die Brutalität von Kriegen auf das Tierreich ausgedehnt wird, Milan Nápravník mit einer Fotografie und Jan Švankmajer mit seinem 1967 entstandenen Kurzfilm Historia Naturae (Suita).
 

Tiergestalten nehmen einen zentralen Platz im Schaffen der Surrealist*innen ein. Trotzdem gab es bisher kaum Ausstellungen, die sich explizit mit diesem Bestiarum befassten. Wie kamen Sie darauf, diese Lücke zu schließen?

Die Idee zu dieser bislang nicht thematisierten Perspektive auf den historischen Surrealismus entstand vor langer Zeit. 1997 konnte ich zusammen mit dem de Chirico-Spezialisten Gerd Roos für das Kunsthaus Zürich, das Haus der Kunst in München und die Berliner Nationalgalerie die Ausstellung Arnold Böcklin – Giorgio de Chirico – Max Ernst: Eine Reise ins Ungewisse kuratieren. Wir hatten beide an der Bonner Universität studiert und trafen uns so wieder. In einem anschließenden gemeinsamen Ferienaufenthalt in der Toskana schlugen wir uns gegenseitig weitere Themen für Ausstellungen vor und ein aufdringliches Hausschwein des Vermieters des Ferienhauses gab damals mit den Anstoß.

Gibt es Werke in der Ausstellung, die Sie persönlich ganz besonders ansprechen?

Mein persönlicher Favorit ist die gesamte Ausstellung selbst und ihre poetische Stimmung, denn nicht nur der Inhalt zeigt die Bandbreite der surrealen Ausdrucksweisen und Positionen, sondern auch die Präsentation selbst folgt surrealistischen Arbeitsprinzipien: bewusste Entscheidungen, assoziative Setzungen und vor allem den Zufall mit einbeziehend. Darüber hinaus wurde darauf geachtet, dass Spannungsbögen aufgebaut werden, um das Prinzip der Kombinatorik von Gegensätzen anschaulich zu machen, das Max Ernst folgendermaßen definiert hatte: „Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke der Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.“
 

Die Ausstellung „Surreale Tierwesen“

Noch bis zum 6. Februar 2022 lädt das Max Ernst Museum Brühl des Landschaftsverbands Rheinland zu einem ungewöhnlichen Zoobesuch ein. Das Bestiarium, das die Bildwelten des Surrealismus beherrscht, hat bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren, obwohl sich zahlreiche Künstlerinnen und Künstler entsprechende Privatphantome, teilweise als Alter Ego, erschaffen haben: sei es der Vogel bei Max Ernst, der Hund bei Dorothea Tanning oder die Sphinx bei Léonor Fini. Sie bevölkern neben Mischwesen wie dem Minotaurus bei Pablo Picasso oder der Meerjungfrau bei René Magritte die ausufernde Fauna der surrealen Fantasie.

Die Werke, darunter Gemälde, Skulpturen, Arbeiten auf Papier, illustrierte Bücher und Zeitschriften sowie Filme, werden zusammen mit literarischen Texten präsentiert. Damit wird der Bogen von den Anfängen der surrealistischen Bewegung in der Literatur und bildenden Kunst der frühen 1920er Jahre bis zur Jahrtausendwende gespannt. Beiträge aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Mexiko, Schweden, Tschechien oder den USA verdeutlichen die weltweite Ausweitung und Vernetzung der Bewegung.

Kuratiert wird die Schau von Dr. Jürgen Pech, dem wissenschaftlichen Leiter des Max Ernst Museums, der 2020 mit dem Justus Bier Preis für Kuratoren ausgezeichnet wurde. Der Katalog zur Ausstellung enthält 150 Abbildungen auf 280 Seiten und erschien im Wienand Verlag.

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