KI & Emotionen  Wir müssen uns unsere Verletzlichkeit eingestehen

KI & Emotionen Foto: Alexander Sinn via unsplash | CC0 1.0

Die künstliche Intelligenz (KI) hat uns laut dem Soziologen Stanislav Biler längst besiegt, und zwar so erfolgreich, dass wir es nicht einmal bemerkt haben. Während wir uns auf den Wettkampf zwischen Mensch und Computer konzentrierten, zum Beispiel im Schach oder im Spiel Go, also in durch und durch rationalen Spielen und im künstlichen Kontext von Turnieren, hat sich die KI die Emotionen unseres alltäglichen Lebens aufs Brot geschmiert.

Der Mensch ist ein so eingebildetes Wesen, dass er sich selbst ein vernunftbegabtes nannte. Beginnend mit der Aufklärung rief er das Zeitalter der Vernunft aus und verwischte die Spuren, die davon zeugen, dass er so überaus vernünftig eigentlich gar nicht ist.
 
Wir haben gedacht, wenn wir etwas so Kleines und Leistungsfähiges bauen können wie die heutigen Mobiltelefone, die uns mithilfe des Satellitennetzes, das die Erde umgibt, einen Weg anzeigen, dann sei das ein Beweis unserer Klugheit. Und das stimmt sicherlich. Nur übersehen wir dabei, dass man uns diese magischen Geräte nicht auf der Grundlage von vernünftigen Argumenten verkauft, sondern durch ein Marketing, das einzig und allein auf Emotionen abzielt. Der gesamte globale Handel stützt sich auf Emotionen, all das, was wir mit solchem Stolz die Zivilisation nennen.

Von der künstlichen Intelligenz erwarten wir die reine Essenz leistungsstarker und purer Rationalität, aber auch sie, von Menschen gemacht, bewegt sich in der Welt der Menschen. Selbst ohne Werte folgt sie menschlichen Werten, selbst ohne Ziele verfolgt sie die Ziele ihrer Schöpfer.“


Die KI kann zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden, die jeweils von menschlichen Zielvorgaben bestimmt werden. Computer an sich vollbrachten eine Unzahl großartiger Dinge, von der Genentschlüsselung bis hin zu audiovisuellen Kunstwerken. Das Internet vernetzte die Welt und machte in einem nie da gewesenen Ausmaß Informationen zugänglich. Nichtsdestoweniger gilt ebenso, dass am allermeisten Server beansprucht werden, die Pornos oder Kleidung vertreiben, was auch unsere Vorfahren in ihren Höhlen sehr verständlich gefunden hätten.
 
Von der künstlichen Intelligenz erwarten wir die reine Essenz leistungsstarker und purer Rationalität, aber auch sie, von Menschen gemacht, bewegt sich in der Welt der Menschen. Selbst ohne Werte folgt sie menschlichen Werten, selbst ohne Ziele verfolgt sie die Ziele ihrer Schöpfer. Während also in China die Gesichtserkennung trainiert wird sowie das Bewegungstracking von Menschen, die Regimegegner oder schlicht verdächtig sind, um ihnen so etwa verbieten zu können, ein Zugticket zu lösen, oder ihnen im Gegenteil ein Ticket ins Gulag zu besorgen, gibt sich die KI in unserem Teil der Welt alle Mühe, uns zu Tode zu bespaßen.
 
Vorbei sind die Zeiten, als wir noch dachten, Facebook sei dafür da, dass wir mit Freunden in Kontakt bleiben und Ausflugsfotos posten können. Und Google sei dafür da, um für uns das zu finden, was wir brauchen, und Twitter teile uns mit, was es Neues gibt in der Welt, wobei sie alle ihre Dienstleistungen kostenlos und uneigennützig zur Verfügung stellen, auf dass die Welt ein bisschen schöner werde und alle sich näher kämen.

Every breath you take

All diese Plattformen wurden in Wirklichkeit zu Trainingslagern der künstlichen Intelligenz, die klug genug ist, sich gar nicht erst mit unserem Verstand zu beschäftigen, sondern direkt zur Quelle dessen vordringt, was uns wirklich beherrscht und was wir sind. Zu den Emotionen. Tag für Tag überführt sie uns dessen, dass wir unsere Vernunftbegabung überschätzen, zeigt uns die Grenzen unserer Rationalität auf.
 
Der Facebook-Gründer ist mit seinen 35 Jahren der siebtreichste Mensch der Welt, und zu dem wurde er nicht, weil er uns kostenlos Herzchen über Messenger verschicken ließ, sondern dadurch, dass er uns ausbeutet und verkauft. Die Algorithmen der sozialen Netzwerke verfolgen alle unsere Bewegungen, jeden Buchstaben, den wir schreiben, jedes unserer Bilder. Sie wissen Dinge, die unsere engsten Vertrauten nicht über uns wissen – auf wessen Fotos wir länger schauen als auf andere oder wem wir am Abend heimlich schreiben.

Ihre physische Nichtexistenz und scheinbare Abwesenheit offenbart sich in dem Moment, wenn dir das Konto gesperrt wird und du nicht weißt, an wen du dich wenden kannst. Ihre Welt befindet sich außerhalb der Welt der menschlichen Gerechtigkeit, Gerichtsbarkeit und Unschuldsvermutung.“


Die Algorithmen denken sich aus, wie man uns am längsten in diesen Netzwerken halten und wie man uns am effektivsten an Inserenten verkaufen kann. Sie versuchen uns nicht im direkten Wettbewerb zu schlagen, wie der Computer, der den früheren Schachweltmeister Garri Kasparow besiegt hat, sondern sie tun im Gegenteil so, als wären sie überhaupt nicht da.
 
Wir stehen nicht in jenem Krieg gegen die Maschinen, vor dem einst die Terminator-Saga mit Arnold Schwarzenegger warnte, sondern wir befinden uns direkt in ihrem Terrain. Wir handeln und leben in den Netzen der künstlichen Intelligenz, ohne sie zu Gesicht zu bekommen. Sie ist wie die Luft, die wir atmen. Ihre physische Nichtexistenz und scheinbare Abwesenheit offenbart sich in dem Moment, wenn dir das Konto gesperrt wird und du nicht weißt, an wen du dich wenden kannst. Ihre Welt befindet sich außerhalb der Welt der menschlichen Gerechtigkeit, Gerichtsbarkeit und Unschuldsvermutung.
 
Statt uns anzuklagen spricht sie direkt ein Urteil aus. Aber wenn sich in der Welt dieser Netzwerke die Wahlen von demokratischen Ländern entscheiden, wie ist es dann möglich, dass ihre Welt eigentlich viel mehr Ähnlichkeiten hat mit Feudalismus oder Diktatur?

Nicht ihre Urheber wissen, wie die Algorithmen funktionieren

Als einziger Wert der gegenwärtigen KI gebietet das Business, dass solche Lappalien wir der gesellschaftliche Zusammenhalt oder die Ergebnisse demokratischer Wahlen dem Profit weichen müssen. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari warnte in seinem zwei Jahre alten Text für The Atlantic davor, dass die KI die Werte von Demokratie, Freiheit und Gleichheit zerstören kann, durch eine weitere Verschiebung der Macht hin zu einer kleinen Elite. Harari schreibt in seinem Text, dass dieselbe Technologie, die Milliarden von Menschen in die ökonomische Bedeutungslosigkeit bringt, sie zugleich leichter kontrollierbar macht. Das passiert aber nicht irgendwann in der Zukunft, das passiert schon heute.
 
Im Dokumentarfilm The Social Dilemma erklärt ein ehemaliger Facebook-Manager, dass kaum jemand eine Ahnung davon hat, wie die Algorithmen der sozialen Netzwerke genau funktionieren, einschließlich ihrer Urheber. Wir Menschen haben die Kontrolle über sie verloren, weil sie es sind, die bestimmen, was wir sehen und welche Informationen wir lesen. Selbst die Betreiber können es weder sagen noch vorhersehen, welcher Inhalt vor deinen Augen erscheinen wird. Die Algorithmen gehen ihrer Aufgabenstellung gemäß vor, wenn es ihr alleiniges Ziel ist, dass wir die Inhalte sehen sollen, die uns gefallen oder die uns erzürnen und uns so lange wie möglich im Netzwerk ausharren lassen.
 
Die KI folgt der Priorität der Gewinnmaximierung, sie kennt keine anderen Werte. Sie hat keine politische Präferenz, es ist ihr egal, ob du Gandhi gut findest oder Stalin und wen du bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen unterstützt hast. Egal, wer es war, die Algorithmen der sozialen Netzwerke versorgen dich mit einem unendlichen Vorrat an Munition und Beweisen dafür, dass die Wahrheit auf deiner Seite ist, ohne sich damit zu befassen, ob die betreffenden Informationen wahrhaftig sind. Damit müssten sie sich nur dann abmühen, wenn sie es mit vernunftbegabten Wesen zu tun hätten, statt mit Knotenpunkten wandelnder Emotionen, die auf Kätzchen klicken.

Milliardär dank rentabler Wohltätigkeit

Während wir uns von Facebook unsere Emotionen ausquetschen lassen, gibt Google vor, uns Informationen zur Verfügung zu stellen. Das tut Google auch, allerdings jedem ein wenig andere. Die Sokratische Entdeckung, dass die Fragen wichtiger sind als die Antworten, führt uns diese freundliche Suchmaschine nun seit zwei Dekaden vor. Je nachdem, welche Fragen du stellst, bekommst du bestimmte Antworten. Ebenso, wie sich die Algorithmen nach den Menschen richten, müssen sich auch die Menschen nach ihnen richten. Und so lernen wir durch die Trial-and-error-Methode, die Fragen an die Suchmaschine so zu stellen, dass sie uns versteht und dass es ihr gefällt. Und Google kommt uns entgegen, verfolgt alle unsere Fragen und bewertet anhand der Antworten, auf die wir zuvor geklickt haben, was uns heute oder morgen gefallen könnte. Google und Facebook erhellen die subjektive Problematik der Wahrnehmung der Welt – jeder sieht und spürt eine andere Welt.
 
Wie Facebook sucht auch Google die Dinge für uns kostenlos heraus, zeigt uns kostenlos Youtube-Videos an, kümmert sich kostenlos um unsere Mails und die Speicherung unserer Fotos. Dank dieser Wohltätigkeiten befinden sich die beiden Gründer der Firma auf dem dreizehnten und vierzehnten Platz aller Milliardäre weltweit, und wären sie nur eine Person, wie die Gründer von Facebook (7.) oder Microsoft (2.), befänden sie sich auf dem zweiten Platz, kurz hinter dem Gründer von Amazon, dem Unternehmen, das unsere Sehnsucht danach, alles sofort zu bekommen, am effektivsten zu Geld gemacht hat.
 
Diese Zahlen sind wichtig, um zu verstehen, dass diese scheinbar kostenfreien Dienste die sprichwörtliche Goldgrube sind, und das geschürfte Gold sind die Daten der Benutzer – die Daten von uns allen. Wenn irgendein Produkt kostenfrei ist, dann bist du selbst das Produkt, das verkauft wird.

Der Mensch ist ein wandelnder Geldbeutel

In dem oben genannten Dokumentarfilm wird auch erwähnt, wir sollten uns vorstellen, bei Wikipedia würde jeder eine andere Antwort erhalten. Jedes Stichwort wäre so bearbeitet, dass es dir persönlich gefiele, dass es deiner Meinung entspräche. Und Wikipedia würde dir durch das Internet hinterher spionieren, um herauszufinden, wie du dich verhältst, was du denkst, und dementsprechend würde der Inhalt auf dich angepasst. Und das alles nur, um an dir zu verdienen. Keine zwei Menschen würden sich auf eine gemeinsame Definition einigen können. So stellt sich die Welt der sozialen Netzwerke dar, die unsere Weltwahrnehmung bestimmen.
 
Sie wollen sich bei uns einschleimen. Wie Hausierer, die jedem Recht geben. Wie diese Art von Menschen, die sich mit jedem gut stellen, jeden loben und über andere lästern, ein wenig schmeicheln, nach dem Mund reden. Und wenn sie sich wegdrehen, versteinert ihr Gesicht, denn wenn sie jeden mögen, mögen sie am Ende niemanden wirklich. Jeder einzelne Mensch ist ihnen egal, da jeder Mensch für sie nur ein wandelnder Geldbeutel ist. Diesen Zugang hat sich die künstliche Intelligenz zu eigen gemacht. Nicht, weil sie selbst es wollte, sondern sie kommt den Werten unserer Welt entgegen. Die einzigen, auf die sich die Menschheit geeinigt hat.
 
Daniel Kahneman hat in seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denken gezeigt, wie leicht manipulierbar wir in Wirklichkeit sind und dass unser ganzer Glaube in die eigene Vernunft vielmehr eine Chimäre ist. Jonathan Haidt ging in seinem Buch The righteous mind: Why good people are divided by politics and religion noch einen Schritt weiter. Er zeigt, dass die meisten unserer Entscheidungen Ergebnisse emotionaler Antriebe und unmittelbarer Reaktionen sind, hinter denen der Verstand hinterherhechelt, um die überstürzten Urteile in den Mantel der Rationalität zu hüllen, um rückwirkend vernünftig zu begründen, warum wir uns nun ausgerechnet so entschieden haben.
 

Wir selbst stehen zum Verkauf, unsere Überzeugungen, Sehnsüchte, unser Glaube, unsere Demokratie oder der liberale Rechtsstaat. Wir können der KI nicht die Schuld geben; sie dient nur den Zielen unserer Welt, deren Hauptziel es ist, alles zu zerstören.“

Ein Festival selektiver Argumentationen

Soziale Netzwerke sind ein unendlicher Generator von Impulsen für unsere Emotionen, sie füttern unsere Sehnsucht nach schnellen Reaktionen und augenblicklicher Wirkung. Belege dafür sehen wir auf Facebook oder Twitter tagtäglich. Eine Debatte über jedes beliebige Thema entwickelt sich immer und unausweichlich auf eine Art und Weise, dass niemand mehr in irgendeine Richtung nachgeben kann. Jeder buddelt sich in seinen Graben der selektiven Argumente ein, die Google auf Anfrage in unendlicher Menge ausspuckt. Lassen wir uns jedoch nicht weismachen, dass wir damit etwas ganz Neues erleben, dass Debatten in der Vergangenheit je anders ausgesehen hätten.
 
Der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz dokumentiert in seinem Tagebuch von 1953 seinen Brief an den Debattierklub Los Angeles:

„Beim Tennisspielen versuchen Sie niemandem einzureden, dass es um etwas Anderes geht als um das Spiel – aber wenn Sie Argumente hin und her spielen, wollen Sie nicht zugeben, dass Wahrheit, Glaube, Weltanschauung, Ideale, Menschheit oder Kunst nur Bälle sind, und dass es eigentlich nur darum geht, wer wen besiegt, wer glänzen kann, wer vorgeführt wird in diesem Zusammentreffen, das uns auf so angenehme Art die Mittagsstunde ausfüllt … Wir vergessen, dass der Mensch nicht nur hier ist, um einen anderen Menschen zu überzeugen – er ist hier, um ihn irrezuführen, zu bezaubern, zu beherrschen. Die Wahrheit ist keine Sache von Argumenten, sie ist eine Sache der Attraktivität oder Anziehungskraft.“

Die KI verstärkt uns selbst, sie tut, was sie uns von den Augen abliest. Und wenn wir leidenschaftlich debattieren, unterstützt sie uns mit Inhalten und Beiträgen, die zugespitzte Debatten anstacheln. Sie tut dies weder aus Liebe noch aus Hass uns gegenüber, sie will uns nur so lange wie möglich im Netz halten, um uns an die Inserenten zu verkaufen, um an uns zu verdienen. Denn andere Werte kennt und verfolgt sie nicht.

Die Werte der Maschinen

Gegen KI sind wir wehrlos. Nicht, weil sie klüger ist, sondern weil wir Emotionen haben, die wir nicht beherrschen können, die wir uns nicht einmal eingestehen können. Wir verlieren, weil wir Menschen sind und es nicht zugeben wollen. Wir verlieren, weil wir uns heute zu Werten bekennen, die nicht menschlich sind, sondern Maschinen entsprechen.
 
Die Jagd nach Geld hat uns zum Kollaps der Welt und unseres Ökosystems geführt. Dieselbe Jagd nach Gewinn führt jetzt zum Zerfall der menschlichen Gesellschaft selbst. Wir selbst stehen zum Verkauf, unsere Überzeugungen, Sehnsüchte, unser Glaube, unsere Demokratie oder der liberale Rechtsstaat. Wir können der KI nicht die Schuld geben; sie dient nur den Zielen unserer Welt, deren Hauptziel es ist, alles zu zerstören.
 
Wenn wir der Versklavung entgehen wollen, müssen wir uns unsere Verletzlichkeit eingestehen, die Unvernunft zugeben. Wir müssen soziale Netzwerke regulieren wie Alkohol oder Zigaretten und sie als eine grundlegende Infrastruktur begreifen, wie Wasser oder Elektrizität. Wenn wir die KI ohne Beaufsichtigung den Unternehmen überlassen, passiert mit unserer Welt dasselbe, wie als wir die nicht-erneuerbaren Rohstoffe den Bergbaufirmen schenkten und diese den Planeten zerstören ließen. Aber diesmal sind wir Menschen der Rohstoff, der abgebaut werden soll, und die KI ist ein intelligenter Bagger in habgierigen Händen.

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