Gitarrist Marc Sinan  „Bitte keine Glutamat-Konserven-Plörre“

Foto (s/w) von Marc Sinan mit Gitarre.
Marc Sinan: „Ich verzweifele am Streaming.“ Foto: © Michel Marang

Ob „Weltmusik“ oder „transkulturelle Musik“ – in solchen Schubladen fühlt sich Marc Sinan (41) nicht wohl. Für ihn gibt es „einfach nur Musik“.

Dabei überschreitet Marc Sinan tatsächlich kulturelle Grenzen. Zuletzt arbeitete der Komponist und Gitarrist zum Beispiel mit der tschechischen Geigerin und Sängerin Iva Bittová und Volksmusikern aus Rajasthan. Er selbst hat deutsche, türkische und armenische Wurzeln.

Mit nicht einmal 18 Jahren hast du als Solo-Gitarrist mit dem Royal Philharmonic Orchestra deine Debüt-CD eingespielt. Wie kamst du überhaupt zur Musik?

Meine Eltern haben die Gitarre geliebt. Beide waren keine Musiker, vor allem mein Vater aber ein leidenschaftlicher Hörer und Opern-Fan. Zu Hause gab es zwei einfache Gitarren. Das Spielen fiel mir leicht und ich hatte früh einen tollen und inspirierenden Lehrer. Ich begann dann ein Jungstudium am Konservatorium in München. Später, mit 13 Jahren, habe ich einen Mitschnitt von den Salzburger Festspielen gesehen, den der Vater meines besten Freundes aufgenommen hatte. Darauf spielte Eliot Fisk die Sequenz von Luciano Berio. Genau das wollte ich auch können. Ich schrieb Eliot eine Postkarte und er lud mich ein, ihm vorzuspielen. Das Studium bei ihm war eine Befreiung – er wurde mein wichtigster Mentor.

Und wie begann deine Kompositionskarriere?

Zur Komposition kam ich, weil die Welt der klassischen Gitarre für mich zu klein wurde. Mit Mitte zwanzig hatte ich eigentlich alles gespielt, was mich an Repertoire interessiert hat. Die Welt der klassischen Gitarristen ist extrem fokussiert auf das Instrument an sich, seine Klanglichkeit und die Erforschung seiner Möglichkeiten. Mich interessiert aber das gemeinsame Musizieren, die gesellschaftliche Dimension von Kunst, Formen wie zeitgenössisches Musiktheater und vieles mehr. Der Weg zur Komposition war ein Prozess, der getrieben war von meinem künstlerischen Gestaltungswillen.

Was ist das Faszinierende an traditioneller Musik, ihren Instrumenten und Interpreten?

Es gibt keine Musik, die so aufrichtig, natürlich und unaufgesetzt ist wie traditionelle Musik, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Immer spricht aus ihr eine kollektive Haltung. Sie zeichnet ein komplexes Bild der Gesellschaft, die sie hervorbringt. Das fasziniert mich ungemein!

Deine konzertanten und musiktheatralischen Werke werden häufig als „transkulturell“ beschrieben. Was verstehst du darunter?

Ich wünschte mir so sehr, wir könnten einfach von Musik sprechen. Immer mehr merke ich, wie interessant und befriedigend es ist, sich auf die Arbeitsweise anderer Musiker einzulassen. Das ist doch das eigentlich Sensationelle, wenn durchscheint, wie ein anderes Sein funktioniert.

Ist „transkulturelle Musik“ ein Label mit dem du glücklicher bist als mit „Weltmusik“? Wenn ja, warum?

Transkulturalität ist vielleicht ein weniger verbrauchter Begriff. Weltmusik umfasst ja alles von großartiger traditioneller Musik bis zur letzten Glutamat-Konserven-Plörre für den Aufzug!

Deine musikalischen Projekte haben oft auch einen politischen Hintergrund. Aufgrund deiner familiären Wurzeln in allen drei Ländern liegen Dir dabei die Beziehung der Republik Armenien, der Türkei und Deutschlands sehr am Herzen. Aktuell setzt du dich mit der von dir initiierten deutsch-türkisch-armenischen Freundschaftsgesellschaft (dtaf) für euer Gründungsmitglied, den Schriftsteller Doğan Akhanlis ein. Was ist Euer Ziel dabei?

Das Wichtigste ist uns, Dogan zu unterstützen und ihn vor den finanziellen Risiken zu bewahren. Seine größte Angst war, dass ihn die vierzig Tage Zwangsaufenthalt und Prozesskosten für das Auslieferungsverfahren ruinieren könnten. Die seelische Verletzung durch das erneute Aufreißen seiner Traumata – er wurde bereits seit den 80er Jahren politisch motiviert verfolgt, eingesperrt und gefoltert – vermag ich nicht zu ermessen. Es macht mich unglaublich traurig, was ihm widerfahren ist.
  • Foto von Marc Sinan mit den Dresdner Sinfonikern auf der Bühne. Foto: © Stephan Floss
    Anlässlich des 100. Jahrestages des Völkermordes an den Armeniern initiierten die Dresdner Sinfoniker gemeinsam mit Marc Sinan das Konzertprojekt „Aghet“.
  • Vier indische Musiker auf einer Konzertbühne. Foto: © Stephan
    Das Stück „I exist – nach Rajasthan“ setzt sich musikalisch und performativ mit den Wurzeln der Roma im indischen Rajasthan auseinander. Es wirkte auch die tschechische Geigerin Iva Bittová mit.

Im Fall des von dir initiierten Konzertprojekts Aghet mit den Dresdner Sinfonikern und Komponisten aus Armenien, der Türkei und Deutschland ging es zum Beispiel um das Gedenken des Völkermords an den Armeniern. Aghet wurde von der EU gefördert. Die Türkei störte das Projekt so sehr, dass sie zuerst versuchte, über Brüssel für die Löschung des Begriffs „Völkermord“ zu sorgen. Als ihr euch dem verweigert habt, stieg die Türkei aus Protest aus dem EU-Kulturprogramm aus. Glaubst du, Musik als „sprachlose“ Kunst kann die Welt verändern?

Die größte Lehre aus Aghet war, wieviel man mit Musik bewegen kann. Wir haben mit dem Projekt einen Beitrag geleistet zu der generellen Debatte in Deutschland, die nicht zuletzt in die Armenien-Resolution des Bundestages mündete. Über die Konzerte hinaus arbeiten wir auch mit Schülern. Bei Aghet brachten Jugendliche zum Beispiel Die 40 Tage des Musa Dagh abendfüllend auf die Bühne. Über Monate wurden sie behutsam an schmerzvolle Themen wie Verfolgung, Schuld, Opferschaft, Völkermord herangeführt. Wenn man das Gesamtpaket betrachtet, hatte unsere Arbeit damit eine irrsinnig kraftvolle Wirkung.

Wenn du Musik hörst: Greifst Du zur Platte? Oder befriedigt dich Streaming? Welchem Audio-Medium gehört deiner Meinung nach die Zukunft? Was erträumst du dir?

Ich verzweifele am Streaming. Musik hören ist wie jede andere Form von Wahrnehmung nicht reduzierbar auf das Hören an sich. Eine künstlerische Arbeit benötigt eine adäquate Präsentationsform um wirken zu können. Das ist ungefähr so, wie Malerei etwa von Rothko oder Anselm Kiefer nur noch auf einem Plastikbildschirm zu zeigen, grob gepixelt, ohne Zusammenhang zwischen schriller Werbung und anderem Krempel. Undenkbar! Wir müssen eine neue Form finden, Musik außerhalb des Konzertsaals als kulturelle Erfahrung wahrnehmen zu können.

Marc Sinan (* 15. Mai 1976) ist Komponist und Gitarrist mit deutsch-türkisch-armenischen Wurzeln.

Er studierte in seiner frühen Jugend bei Eliot Fisk und Joaquin Clerch am Mozarteum in Salzburg, später am New England Conservatory in Boston. 2003 schloss er die Meisterklasse an der Musikhochschule Nürnberg/Augsburg ab, wo er gleichzeitig als Assistent von Franz Halasz eine der erfolgreichsten Gitarrenklassen Europas unterrichtete. Als Komponist ist er Autodidakt.

Seine meist abendfüllenden Kompositionen waren unter anderem auf dem Schleswig-Holstein-Musikfestival, im GORKI, Festspielhaus Hellerau, Istanbul Festival, Berliner Festspiele/Maerzmusik, Wiener Konzerthaus, bei ARTE, im Hörfunk, im europäischen Ausland, in Asien und Nordamerika zu hören. 2012 war Marc Sinan Stipendiat des Auswärtigen Amts in der neueröffneten Kulturakademie Tarabya in Istanbul und 2016 erhielt er eine Fellowship für eine Gastprofessur am Whitman College in Washington State, USA.

Marc Sinan lebt und arbeitet in Berlin.

Quelle: marcsinan.com

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