Narva, die Heimatstadt unseres Medienpartners „Narvamus“, ist eine der größten Städte Estlands – noch. Berichten der Zeitungen Põhjarannik und gazeta.ee zufolge verzeichnet sie jedoch unter allen Städten ihres Landkreises Ida-Viru, der im nordöstlichsten Teil des Landes gelegen ist, den höchsten Bevölkerungsrückgang. Dieser betrifft vor allem die jüngeren Generationen. Doch ob sie nun bleiben oder wegziehen, ein Merkmal eint die Jugend von Narva: die interkulturelle Identität.
Der Begriff „interkulturell“ bezieht sich auf die Überschneidung verschiedener Kulturen, die zur Entstehung einer neuen, selbstständigen Kultur führt. Unabhängig davon, wie man die Einwohner*innen von Narva definiert, ob als Menschen mit „Grenzidentität“, Bürger*innen des Grenzlandes oder anders… im Wesentlichen lässt sich all dies mit wenigen einfachen Worten zusammenfassen: Russische Est*innen, oder russischsprachige Est*innen oder einfach Einwohner*innen Estlands. Man braucht nicht einmal einen estnischen Pass, um als Est*in zu gelten. In diesem Artikel verwende ich den Begriff Este oder Estin für alle, die in Estland leben.Dieser Artikel befasst sich damit, wie die Einwohner*innen von Narva sich selbst wahrnehmen, da dies in letzter Zeit besonders relevant und schmerzhaft war. Das am meisten diskutierte Thema ist – natürlich – die estnische Sprache. Obwohl dem Studium der estnischen Sprache in Narva große Aufmerksamkeit gewidmet wird, wird das erworbene Wissen aufgrund mangelnder Praxis meist nur in den Bildungseinrichtungen verwendet, weshalb es schwierig ist, in Übung zu bleiben, und man vieles leicht wieder vergisst.
Seit dem Beginn der großangelegten russischen Invasion in der Ukraine sind die Beziehungen zwischen estnisch- und russischsprachigen Est*innen angespannt. War die Situation in Bezug auf die estnische Sprache in der russischsprachigen Bevölkerung schon vorher von Bedeutung, so werden jetzt immer häufiger radikale Ideen zur „Ausrottung“ der russischen Sprache laut. Ein Beispiel dafür ist das Gesetz aus dem Jahr 2022 über den Übergang der Schulen zum Unterricht in ausschließlich estnischer Sprache sowie das Verschwinden der russischen Sprache von den staatlichen Webseiten und die Einstellung der Übersetzung von Gesetzen ins Russische. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein solches Vorgehen Wirkung zeigt und eine Vielzahl von Emotionen hervorruft.
Dieses Problem resoniert stark in der Gesellschaft, weshalb es auch in der Kunst seinen Ausdruck findet. Im Februar letzten Jahres teilte die junge Künstlerin Daria Morozowa ihre Erfahrungen in einer Ausstellung. Ihre Serie von Werken mit dem Titel Becoming New (Стать новой, etwa: Neu werden) wurde im Rahmen einer Kunstresidenz gezeigt. In einem Interview mit Margarita Skripkina erklärte Daria, dass der Titel ihren Wunsch widerspiegelt, „das Russischsein loszuwerden“ und „jemand anderes zu werden“. Sie gab zu, dass es ihr unangenehm war, ihre Muttersprache zu sprechen, und dass sie sich schließlich sogar abgewöhnt hatte, sie zu sprechen. Während der Dauer der Ausstellung suchte Daria den Austausch mit den Besucher*innen, indem sie unter diesen Umfragen durchführte und deren Meinungen einholte. Die Fragen lauteten etwa: „Haben Sie sich jemals in der Gesellschaft fehl am Platz gefühlt?“, „Wie schwierig war dieses Gefühl für Sie?“ und „Wenn Sie jemand anderes werden könnten, wer möchten Sie sein?“ Die Künstlerin kündigte an, dass wir bald mehr über die Ergebnisse dieser Umfrage erfahren werden.
Das Thema der Zugehörigkeit ist wirklich wichtig. Viele junge Einwohner*innen von Narva tun sich schwer mit einer klaren Antwort auf die Frage: „Wer bist du – Russin oder Estin?“ Aber sie sind gezwungen, diese Frage zu beantworten, da der Staat keine separate „russisch-estnische“ Identität anerkennt, die jedoch am besten zu ihnen passen würde. Aus diesem Grund müssen viele die Option „andere“ oder eine der verfügbare Kategorien wählen, mit der sie sich aber nicht gänzlich identifizieren können. Dies führt zu dem Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein, und weckt die nostalgische Sehnsucht nach einer Zeit, in der dieser Kampf noch nicht ausgetragen werden musste.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir damit nicht allein sind. Es gibt andere Länder auf der Welt, in denen die Menschen aufgrund historischer Ereignisse und kultureller Besonderheiten ebenfalls eine Identitätskrise erleben. Unsere Nachbar*innen in den beiden anderen baltischen Staaten Lettland und Litauen sowie die Menschen in Georgien und Israel haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen. Wie diese Länder mit der Interkulturalität umgehen, ist ein Thema, das es wert ist, erforscht zu werden, aber wir sollten dabei alle zu Ländern wie den Niederlanden, Belgien und der Schweiz aufschauen. Das Vorhandensein einer zusätzlichen anderen Kultur neben der estnischen ist kein Makel, sondern eher ein Vorteil, der das Land bereichert. Deshalb müssen wir unsere Unterschiede schätzen und respektieren, anstatt uns weiter auseinander zu leben.
Die Identität von Narva ist ein faszinierendes Phänomen. Obwohl die meisten jungen Leute wegziehen, bezeichnen sie sich immer noch als „Narvaer*innen“ und fühlen sich der Stadt weiterhin zugehörig. In einer Welt, in der alles eingeteilt wird in: russisch oder estnisch, ist es wichtig, Narvaer*in zu bleiben, aufgezwungene Etiketten abzulehnen und die eigene Einzigartigkeit zu akzeptieren. Das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden, liegt natürlich nahe, aber es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass es andere gibt, die dieselben Erfahrungen machen. Die Identität der russischen Est*innen ist ein wichtiges Thema, das diskutiert werden muss – lauter, aber nicht wütender, denn Wut führt zu nichts Gutem.
Dieser Artikel erschien zuerst in der estnischen Zeitschrift Narvamus, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Februar 2025