Urlaub trotz Corona  Reisebüro 2020

Reisebüro 2020
Reisebüro 2020 Foto: © privat

Per Anhalter oder wandern? Wie kann ich es mir nur erlauben, nach drei Monaten Lockdown noch in den Urlaub zu fahren? Ist das sicher? Und ethisch korrekt?

Vielleicht liegt es an meinem Vornamen oder an den Schulfotos, auf denen ich immer alle Mitschüler um einen Kopf überragte, weshalb ich von klein auf das Bedürfnis hatte, zu verschwinden und nicht herauszuragen. Die Entscheidung, den Urlaub dieses Jahr an der Adria mit vielen anderen Touristen zu verbringen, im gleichen Zug wie sie dorthin zu fahren, war die größtmögliche Annäherung an die ersehnte Normalität. Trotzdem lähmt mich vom ersten Augenblick der Urlaubsplanung die Furcht. Sollte ich nicht lieber sparen? Oder Geld verdienen? Oder das, was ich gespart habe, an Bedürftige spenden? Wäre es nicht besser (sparsamer und nachhaltiger) einfach nur mit dem Schlafsack im Freien zu übernachten? Die Gegend per Anhalter zu erkunden oder zu wandern? Wie kann ich es mir nur erlauben, nach drei Monaten Lockdown noch in den Urlaub zu fahren? Ist das sicher? Und ethisch korrekt?
 
Ich packe mein Handtuch (wie gerne hätte ich das mit dem Delphin!) neben den Badeanzug, den ich von Mama habe, und versuche mich an die Ratschläge aus den Sommerausgaben der Frauenmagazine zu erinnern, mit denen wir an Julinachmittagen die Fliegen erschlagen haben, die über dem Aprikosenkuchen kreisten.

Selbstbräuner mit goldenem Glitzer kaschiert eure osteuropäische Herkunft und ein Eiswürfel im Mund auch euren Akzent.“

Klatschende Flip-Flops 

Wie bekomme ich eine Last-Minute-Strandfigur? Mit der Eier-Diät, wenn ihr noch drei Tage bis zur Abfahrt habt. Wenn ihr schon unterwegs seid, dann macht es zumindest optisch schlank, auf dem Rücken und mit angewinkelten Beinen am Meer zu liegen. Selbstbräuner mit goldenem Glitzer kaschiert eure osteuropäische Herkunft und ein Eiswürfel im Mund auch euren Akzent. Braun gebrannte Menschen wirken attraktiver und gesünder. Solltet ihr beim Jäten der Beete oder der Reparatur am Dach eures Wochenendhäuschens noch keine erste Bräune abbekommen haben, dann reibt euch nach dem Sonnenbad lieber mit Panthenol ein werft euch vor dem Schlafengehen zwei Paracetamol ein. So werdet ihr auch schneller betrunken und ihr beugt dem Kater am nächsten Morgen vor.
 
Die Attribute der Urlauber sind Strohhüte, gerötete Haut, verbrannte Schultern und Beine bis zur Shorts-Grenze, hässliche Herrensandalen, in denen die Füße schrecklich schwitzen, klatschende Flip-Flops und farbige Crocs, unförmige extravagante Kleider (die an den Schaufensterpuppen so schick aussahen, aber nächsten Sommer kann man darin höchstens noch den Müll rausbringen) und das aufgeladene Handy, mit dem man den Urlaub in vielen Bildern festhalten kann. Auch die Lektüre am Wasser behauptet hartnäckig ihren angestammten Platz; die Berge von Zeitschriften mit vielen Farbfotos und Sommerbeilage werden aber schon nicht mehr so oft herumgereicht und müssen eher irgendwo darauf warten, bis ihre Besitzer ihr Datenvolumen aufgebraucht haben.

Cocktail-Strohhalm Foto: © privat Einmal Flunder mit Maggi, bitte

Wie sollte das alles also ablaufen? Vor allem gelassen und in aller Ruhe, ohne Stress und unnötige Streitereien. Auch wenn irgendjemand die Pässe vergessen hat, wenn man euch in der Wechselstube betrogen und die Flunder mit Maggi gewürzt hat. Lasst euren Ärger über das überteuerte Eis, die zu kalt eingestellte Klimaanlage, die betrunkenen Mitreisenden und die verspätete Fähre nicht an Freunden oder Familie aus. Schimpft nicht auf die Nachbarn, die Tschechen, Slowaken, Polen, auch nicht auf die Kroaten oder andere Einheimische. Versucht nicht, die deutsche Großfamilie mit einem vorgetäuschten Husten von dem Platz im Schatten zu vergraulen. Rümpft nicht die Nase über die offensichtlich seit Wochen nicht mehr gewaschenen Masken der verschwitzten Kellner. Brecht nicht in Panik aus und lasst die vielsagenden Blicke sein, Corona ist doch eine beliebte Biermarke. Verflucht nicht den Reiseveranstalter, den Hotelbesitzer oder den Verkäufer auf dem Markt, die können nichts für eure unerfüllten Erwartungen.
 
Verwaiste Promenaden, Kellner, die nach Gästen Ausschau halten, menschenleere Ausflugsschiffe, die vom fünfundzwanzigsten Renovierungsanstrich nur so glänzen. Strandverkäufer gibt es nicht mehr. Man muss seine Sonnenliege nicht mehr mit weißen Steinen beschweren, damit einem keiner den am weitesten vom Abfallkorb entfernten Platz wegnimmt. Der junge Mann vom Sonnenschirm-Verleih schaute den halben Tag mit bis ans Kinn heruntergezogener Einwegmaske auf sein Handy und ging dann lieber schwimmen. Die Flut riss ihm die Maske herunter um sie am nächsten Morgen am benachbarten Ufer zusammen mit einem Haufen PET-Flaschen, Polystyrol und grünem Seetang wieder anzuschwemmen. Hoffentlich kann er ohne sie seinen Job weitermachen. Schon sechs Tage hatte er keinen einzigen Kunden. Im Schatten der duftenden Kiefern gibt es sogar genug Platz für diejenigen, die aus Respekt oder präventiv zwischen den Handtüchern den Abstand von zwei Metern wahren wollen.
 
„Bei uns gab es nicht einen einzigen Infizierten, vielleicht in Split, aber hier auf keinen Fall!“
 
Schwört der Sonnenbrillen-Verkäufer. Auch die Stände mit Souvenirs sind ausgedünnt, man hört dort keine laute Musik mehr, die Fenster der Ladengeschäfte sind geschmückt mit Aufklebern, die die Immobilie zum Kauf anpreisen.
 
Den leeren Platz einer Küstenmetropole besetzen hauptsächlich Möwen und Tauben, denen ein alter Mann in Hemd und Ausgehhose Popcorn zuwirft, das er an diesem Tag nicht verkauft hat. Er hat immer noch einen ganzen Haufen davon. Nicht nur er hat jetzt Zeit innezuhalten, sich eine Zigarette anstecken zu lassen, sich zu mir auf eine Treppe zu setzen und mit ehrlichem Interesse ein Gespräch über Gott und die Welt anzufangen. Ich musste an meiner Mutter denken, an ihre kurze Zeit als Touristenführerin. Das ehemalige Jugoslawien zog damals vor allem Touristen aus der ehemaligen Tschechoslowakei an.
 
„Der Krieg war im Süden, auch in Serbien und an den Grenzen, aber hier bei uns sicher nicht!“
 
War es billiger? Abenteuerlicher? War es damals sicher? Und ethisch korrekt?

Meerwasser ist doch irgendwie salziger als Tränen. Warum kann nicht jeden Tag Urlaub sein?“

Die verdiente Erholung nach der Arbeit

Ob nun nach dem Krieg oder nach der Pandemie – Urlaub, der die verdiente Erholung nach der Arbeit und weiteren Pflichten verspricht, beinhaltet eine etwas andere Art von Anspannung. Alles Angenehme und Erinnerungswürdige konzentriert sich auf eine Woche. Fotos fürs Album, Sonnenbaden, Souvenirs, Selbsterkenntnis, Sightseeing, hervorragende Abendessen mit lokalen Spezialitäten, Baden, aber auch Tauchen, Schlafmangel ausgleichen, angefangene Bücher endlich zu Ende lesen, abendliche Spaziergänge, danach romantische Abenteuer, herzliche Grüße verschicken, neue Freunde finden, Postkarten, ein Armband aus Muscheln, ein Henna-Tattoo. Damit man bloß etwas vorzeigen kann, etwas erzählen kann, etwas zum Erinnern hat. Etwas Einzigartiges erleben, was aber nicht allzu sehr von den gängigen Vorstellungen abweicht (!). Fotos vom Sonnenuntergang schicken, Videos von fliegenden Kiebitzen zeigen. Oliven und Feigen mitbringen. Und auf dem Heimweg eine Familienkomödie laufen lassen, dem Meer ein letztes Mal zuwinken, eine Münze hineinwerfen und wünschen, dass man sich wiedersieht.
 
Die Wellen werden stärker, wiegen mich, Salzwasser sticht mir in den Augen. Meerwasser ist doch irgendwie salziger als Tränen. Warum kann nicht jeden Tag Urlaub sein? Oder wenigstens ein Bruchteil seiner Feierlichkeit? Ich spüre das sich nähernde Schiff an den Bewegungen der Wassermassen. Ich werde die Lust nicht los, mich von ihnen mitziehen zu lassen. Mein Kopf dröhnt, die Wellen und das Brummen des Motors prallen gegen mein Trommelfell. Und dann fährt das Schiff knapp an meinem Kopf vorbei, auf der Steuerbordseite die Aufschrift „Reisebüro 2020“.

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