Rassismus im Alltag  Kindheit. Ein Zerfall

JÁDU-Autor Behrang Samsami 1987 mit seinem Vater am Tag seiner Einschulung.
JÁDU-Autor Behrang Samsami 1987 mit seinem Vater am Tag seiner Einschulung. Foto: © privat

George Floyd – Der Tod des 46-jährigen Afroamerikaners im Mai 2020 in Minneapolis infolge einer gewaltsamen Festnahme löste weltweit Proteste, Diskussionen und ein neues Nachdenken über Polizeigewalt und Rassismus aus. Unter diesem Eindruck eigene, negative Erlebnisse als Kind nicht-deutschstämmiger Eltern wieder in Erinnerung zu rufen, förderte folgende Erkenntnis zutage: Das Leiden-Müssen unter rassistischem Verhalten war deshalb möglich, weil eine Reihe von Faktoren ein günstiges Klima dafür schufen: Verkrustete Schulstrukturen, stillschweigende Akzeptanz, Gleichgültigkeit, Angst. Ein autobiografischer Bericht.

Beim ersten Stoß zerspringt fast mein Schädel. Ich bin wie benommen. Andreas*, ein Mitschüler, und ich stehen eng an eng hinter der weit geöffneten Tür eines Nebenraums unweit unseres Klassenzimmers. Ab dem zweiten Aufprall drücken wir unsere Arme und Beine gegen die Tür, um die Stöße abzumildern. Nach hinten ist nicht viel Platz, denn wir stehen mit dem Rücken zur Wand. Bjarne* hat uns in diese Enge getrieben. Er ist zwei Jahre älter und einen Kopf größer als wir. Im Grundschulalter sorgt das bei mir für Respekt – und für (Todes-)Angst. Mal allein, mal mit seinen Spießgesellen nimmt er lachend Anlauf und rammt einen Einkaufswagen gegen unsere Tür. Wie der Einkaufswagen überhaupt in den zweiten Stock des Schulgebäudes gelangt ist, wissen wir nicht.
 
Diese Szene ist über 30 Jahre her, doch die innere Anspannung, das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins sind bis heute bei mir präsent. Ein klassischer Fall von Mobbing? Ja, aber in meinem Fall war es mehr. Anfang der dritten Klasse wird Bjarne als neuer Mitschüler an unseren Tisch gesetzt. Es beginnt ein Überlebenskampf, der die restliche Grundschulzeit dauern wird – zwei ganze Jahre. „Scheißausländer“, höre ich ihn flüstern, wenn er im Klassenzimmer an mir vorbei geht. Der Klassenlehrer ermahnt ihn zwar, wenn er mitbekommt, dass Bjarne mich ärgert. Dann huscht ein ängstliches Lächeln über sein ansonsten steinernes Gesicht. Doch das ist die Ausnahme.

Kein Wunder, dass ich die Schule als Anstalt der Verwahrung und Verwahrlosung wahrnahm, als Hölle auf Erden, wo jeder, der in keiner Clique war, zusehen musste, wo er blieb.

Bjarne tobt meist unter dem Radar. Sein plötzliches Brüllen und Aus-der-Haut-Fahren, wenn ihm etwas nicht gefällt, sein Spieltrieb, der die Grenze zum Sadismus schnell überschreitet, überhaupt seine Unruhe und negative Energie, wollen unserem Klassenlehrer nicht auffallen, stressen aber alle Kinder. Ich erinnere mich noch, wie wir ein oder zweimal mit unserem Klassenlehrer über Bjarne sprechen – und zwar dann, wenn dieser für einige Wochen auf Kur ist. Das ist die kurze Phase, wo alle geradezu aufatmen, die Atmosphäre entspannter ist – bis Bjarne wieder kommt.
 
Anstatt die Probleme anzupacken, spielt unser Klassenlehrer uns lieber gelegentlich etwas auf seiner Posaune vor. Dabei sehe ich noch die Mutter einer Mitschülerin, wie sie wutentbrannt im Klassenzimmer auftaucht und unserem Lehrer vorwirft, wie miserabel er doch sei. Auch wenn er nur den Kopf schüttelt – die Mitschülerin kommt in eine Nebenklasse. Heute denke ich: Das Feststecken in Routine und Alltag, der Mangel an Empathie und an Interesse für die ihm zur Aufsicht übergebenen Kinder, die Trägheit und das Nicht-Eingreifen – der fast totale Ausfall des Klassenlehrers, aber auch der Mathematik- und Musiklehrerin muss auf Bjarne regelrecht wie ein Freifahrtschein gewirkt haben, seinen Psychoterror und sein auch rassistisch motiviertes Mobben fortzusetzen. Kein Wunder, dass ich die Schule als Anstalt der Verwahrung und Verwahrlosung wahrnahm, als Hölle auf Erden, wo jeder, der in keiner Clique war, zusehen musste, wo er blieb.

Überwachen und Bestrafen

Andreas und ich helfen uns in der dritten und vierten Klasse selbst. Als Bjarne zu uns stößt, wird aus der eher lockeren Freundschaft zwischen Andreas und mir eine Schicksalsgemeinschaft. Dabei kennt er Mobbing seit der ersten Klasse. Noch jetzt habe ich im Ohr, wie die immer gleiche Mädchengruppe ruft, dass Andreas „die Pest“ habe. Bei mir selbst sieht es anders aus. Ich kann zwar noch nicht gut Deutsch sprechen und halte mich zurück, habe mit Robert* aber einen Freund, mit dem ich spiele und mich nachmittags treffe, bis er nach der zweiten Klasse die Schule verlässt.
 
Dass Bjarne Andreas und mich für sein Terrorregime auswählt, hängt auch damit zusammen, dass wir wenig selbstbewusst und ohne Anbindung zu einer bestimmten Gruppe sind. Neben mir gibt es zwar noch Schülerinnen mit polnischem und vietnamesischem Hintergrund, doch an sie traut sich Bjarne nicht ran. So groß er auch ist – sein Mut reicht nur für die Schwachen. So verstecken Andreas und ich uns in den Pausen und kommen verspätet in den Unterricht. Unser Klassenlehrer schreibt dann fleißig unsere Fehlzeiten auf, die wir nachsitzen. Erwischt Bjarne uns doch, quält er uns: Mal muss ich Schnee essen, mal wird mir Chili in die Augen gestreut. Dann darf sich eine Mitschülerin austoben: Als sie mich mit ausgestrecktem Zeigefinder beschimpft, steht Bjarne daneben und zwingt mich, zuzuhören. Ich weine und weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.

Als meine Eltern unseren Lehrer einschalten wollen, flehe ich sie an, es zu lassen. Ich weiß, dass ich es ausbaden müsste. Die Mehrheit der Klasse schweigt.

Dann kommt der Tag, an dem ich die Schikanen nicht mehr aushalte. Ich setze mich an einen Tisch, der an der Wand neben der Tafel steht. Dass ich von hier aus nicht viel sehe, stört mich nicht. Auch rufen meine Eltern zuhause bei Bjarne an, um sich zu beschweren. Doch seine Eltern sind taub dafür. Am nächsten Tag droht er, mich fertigzumachen, sollten wir uns erneut melden. Ich zittere. Als meine Eltern unseren Lehrer einschalten wollen, flehe ich sie an, es zu lassen. Ich weiß, dass ich es ausbaden müsste. Die Mehrheit der Klasse schweigt. Vielleicht wollen sie ihre Ruhe und sind froh, dass es Bjarne nicht auf sie abgesehen hat. Auch wenn es in diesen zwei Jahren Freundschaften, gegenseitige Besuche und Einladungen gibt: Sobald die Schulglocke läutet, ergreife ich die Flucht.
 
Für diese Verhältnisse war die Schule mit verantwortlich. Gab es genug Kontrollen, dass es in der Klasse gut lief, wenn die Lehrer ausgebrannt und desinteressiert waren? Es wurden zwar Kinder auf Kur geschickt. Es gab nachmittags auf dem Schulgelände auch für einzelne Kinder Freizeitangebote. Doch das reichte nicht aus. Die Probleme waren vielfältig. Es gab auch Familien, nicht nur die von Bjarne, die nicht intakt schienen. In welcher Atmosphäre wir aufwuchsen, spürte ich auch nach der Öffnung der Berliner Mauer, als das Gerücht aufkam, auch wir würden Mitschüler aus dem Osten bekommen. Einige empörten sich, dass sie keine DDR-Bürger wollten. Als ein einzelner Junge in eine der Nebenklassen kam, wurden sie still. Als später der zweite Golfkrieg ausbrach, kamen Mitschüler auf mich zu, drucksten etwas herum und sagten, dass sie mit mir nicht mehr spielen könnten, da mein Vater mit Vornamen genauso hieße, wie der irakische Diktator mit Nachnamen.

So kam ich unter die Deutschen

Als ich 1987 in die Grundschule kam, war meine Familie erst ein Jahr in der Bundesrepublik. Dass wir von einem Tag auf den anderen nicht mehr im Iran lebten, nahm ich hin, ohne es zu verstehen. Es wurde nicht darüber gesprochen – zumindest mit mir nicht. Was ich aber wahrnahm, war das eigene Anderssein in der neuen Umgebung: Mit meiner Muttersprache, dem aserbaidschanischen Türkisch, kam ich nicht weit. Dann mit Hand und Fuß, was aber ermüdete und frustrierte. Auch der Habitus ähnelte unserem nicht. Die Menschen sprachen anders, aßen anders, wirkten in ihrem Auftreten mehrheitlich gedämpfter, sachlicher. Mir erklärte auch niemand, was ich in Kindergarten und Schule eigentlich sollte. Mit all dem kam ich nicht klar und machte – begünstigt durch vielerlei Schwierigkeiten – gelegentlich „Unsinn“. So trat ich als „Ungelernter“ in die deutsche Gesellschaft.

Das Anderssein schmerzte, weil es von den anderen trennte. Also versuchte ich mich anzupassen. Zugleich verstand ich aber auch nicht, weshalb unser Nicht-Deutschsein schlimm war.

Das Anderssein schmerzte, weil es von den anderen trennte. Also versuchte ich mich anzupassen. Denn das Gefühl war da, dass es – zumindest in dem Umfeld, in dem ich mich bewegte – wichtig war, bloß nicht aufzufallen, noch besser unsichtbar zu sein, um Angriffen keine Fläche zu bieten. Zugleich verstand ich aber auch nicht, weshalb unser Nicht-Deutschsein schlimm war. In unserem Haus lebte ein älteres Paar, für das es ganz natürlich war, uns zu duzen und die Durchgangstür zum Parkplatz vor der Nase zuzuschlagen. Beim ersten Mal war meine Mutter sprachlos und wütend. Das nächste Mal riss sie dem Paar den Türgriff aus der Hand, dass beide regelrecht erstarrten.
 
Die Kühle, die ich bei vielen Erwachsenen zu spüren glaubte, nahm ich auch bei Gleichaltrigen war. Bei einigen Freunden erlebte ich, dass sie sich von einem Tag auf den anderen abwandten, ohne das zu erklären. So blieb haften, dass nichts sicher, auf nichts Verlass und alles im Wandel sei. Geborgenheit und Freude fand ich bei meinen Eltern und bei Zusammenkünften mit iranischen Familien, die wir auch durch eine Tante, die schon in Deutschland lebte, kennengelernten hatten. Vielleicht deshalb, weil sie noch jung waren, und auch, weil sie fern ihrer Familien und Freunde lebten, traf man sich oft zu Picknicks, feierte und beging Feste wie Newrooz, das iranische Neujahr.

Integration als Herausforderung

Doch auch in diesem scheinbar sicheren Raum erlebte ich, mit welcher Wucht die neue Umgebung mit ihren Anforderungen die Menschen in unserem Umfeld erreichte. Einige Familien zogen weiter in die USA und Kanada, andere kehrten in den Iran zurück, weil sie mit dem Leben in Deutschland nicht klar kamen. Ehepaare ließen sich nach der Einreise scheiden, weil die Konventionen, die im Iran herrschten, hier wegfielen und damit der Zwang, zusammenzubleiben. Doch nicht nur Ehen gingen zu Bruch: Der Sohn einer uns bekannten Familie starb an Drogen. Sein Vater konnte das nicht verwinden, wurde obdachlos und starb auch. Mutter und jüngere Tochter zogen in die USA.

Wenn in Deutschland über Integration diskutiert wird, sollte man die Leistung der Menschen, die hier in einer für sie fremden Welt ankommen und sich langsam in Sprache und Kultur des Landes einfinden, nicht geringschätzen oder kleinreden.

Wenn in Deutschland über Integration diskutiert wird, sollte man die Leistung der Menschen, die hier in einer für sie fremden Welt ankommen und sich langsam in Sprache und Kultur des Landes einfinden, nicht geringschätzen oder kleinreden. Es sollte im Gegenteil stets mitbedacht werden, welche Anforderungen dieser Transformationsprozess an sie stellt. Die aktuelle Debatte über Rassismus sollte genutzt werden, um deutlich zu machen, welche Gefahren darin liegen, politische, soziale und kulturelle Probleme und Ungerechtigkeiten, ob strukturell bedingt oder nicht, – auch im eigenen Umfeld – stillschweigend zu akzeptieren oder ihnen gleichgültig zu begegnen: Das ermutigt nur diejenigen, die die Menschen spalten wollen, statt das sie Verbindende zu betonen.
 
Bjarne übrigens traf ich kurze Zeit nach dem Ende der Grundschule zufällig auf dem Heimweg wieder. Entsetzen packte mich, weil er immer näher kam. Innerlich auf der Flucht, hörte ich ihn an und nickte, ohne das Gehörte zu realisieren: Er bat um Entschuldigung für das, was passiert sei. Ich habe ihn, der nach Grundschule auf die – wie man damals noch sagte – „Sonderschule“ gekommen war, danach nie wiedergesehen – meinen Klassenlehrer dagegen noch einige Male, weil meine Eltern nahe der Schule wohnten. Ich bin allerdings nicht auf ihn zugegangen. Das tat meine Mutter. Als sie ihn zufällig Jahre später, etwa, als ich Abitur machte, in dem Bekleidungsgeschäft, in dem sie arbeitete, vor sich stehen sah, konnte sie nicht anders, als sich über seine Gleichgültigkeit in der Grundschule zu beschweren und ihm Vorwürfe zu machen. Erst vor kurzem erfuhr ich von ihr, dass er damals nichts darauf erwidert, sondern wohl sofort gewusst habe, was meine Mutter meinte, und blass geworden sei. Für sie sei dies die Bestätigung dafür gewesen, dass er doch mehr von Bjarnes Mobbing und rassistisch motiviertem Verhalten gemerkt habe – ohne einzuschreiten.
 
* Name geändert

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