Die slowakische Linke  Die stigmatisierte Mehrheit

Die stigmatisierte Mehrheit Illustration: © Vladimír Holina

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – Schwesterlichkeit, Reform und Internationalismus. So vereinfacht kann man möglicherweise die Prinzipien der Linken mit Schlagwörtern belegen. Aber wie spiegeln sich deren tragende Säulen in einem Land wider, in dem das gestürzte Regime nicht aufgearbeitet wurde? Vier Frauen und vier Männer versuchen eine Annäherung an die Frage, warum die politische Linke in der Slowakei so unpopulär und stigmatisiert ist.

Laura Kovácsová, Publizistin, Umweltaktivistin

Laura Kovácsová Laura Kovácsová | Foto: © privat Zunächst einmal ist es gut zu fragen, was wir unter dem Begriff „Linke“ überhaupt verstehen. Für mich ist das eine Politik, die darum bemüht ist, die Gesellschaft ohne jegliche Unterdrückung zu verändern und die zur Gleichstellung von Mensch und Natur führt.
 
Die Slowakei hat eine solche linke Vertretung auf der obersten politischen Ebene noch nie gehabt und zudem sind wir ein Staat ohne starke soziale Bewegung. Aufgrund mangelnder Energie oder Finanzen konzentriert sich linker Aktivismus oft nur auf reagierende, defensive Aktivitäten. Linke Themen bekommen hier nicht einmal mehr die Möglichkeit, Visionen einer Gesellschaft zu benennen, in der wir eigentlich gern leben würden. Der Begriff „Linke“ bringt den Ballast der totalitären Vergangenheit mit sich, gegenüber der man sich ständig abgrenzen muss.

Die Slowakei hat eine linke Vertretung auf der obersten politischen Ebene noch nie gehabt und zudem sind wir ein Staat ohne starke soziale Bewegung.“

Laura Kovácsová | Publizistin, Umweltaktivistin

Das Problem ist dann, dass das gestürzte Regime zu einem ständigen Grund wird, alles außerhalb des politischen Zentrums oder der Rechten zu untergraben. Schon ein geringer Einfluss öffentlicher Debatten ist ein Erfolg für linke Ideen. Denn die überwiegend rechten Medien stellen keine Fragen, die an die Wurzeln der Dinge gehen. Sie begeben sich nicht in unangenehme, unbequeme Positionen, in denen es keinen anderen Weg gibt, als über Kontext und Komplexität nachzudenken, und in denen eine vereinfachte Interpretation und die immer gleiche Sicht auf die Dinge nicht mehr ausreichen.
 
Für viele Menschen in der heutigen Slowakei ist die Linke ein Synonym für Verantwortungslosigkeit, Demagogie und Populismus. Dies kann sich nur durch stete Arbeit verändern, stete Arbeit, die ganz klar zeigt, welche Politik nach dem bestmöglichen Leben für alle strebt. Ich möchte daher glauben, dass die sich verbreitende Faschisierung und die fortschreitende Klimakrise zu einer breiteren Repräsentation linker Ideen in der Gesellschaft führen, und das schließlich auch in unserem Land. Und dass es nicht genau andersherum kommen wird.

Dominik Želinský, Soziologe

Dominik Želinský Dominik Želinský | Foto: © privat Die Linke ist in einem Land, in dem seit 2006 (mit Unterbrechung) die sozialdemokratische Partei Smer-SD regierte und die Partei SME RODINA (deutsch: Wir sind eine Familie) mehr als acht Prozent der Stimmen holte, wohl kaum unbeliebt [Statistikamt der Slowakischen Republik, Ergebnisse der Wahl zum Nationalrat der Slowakischen Republik 2020]. Letztere punktet mit Themen wie Mietwohnungen und Schuldenamnestie. Laut soziologischer Forschung hat linke Politik weit über fünfzig Prozent Unterstützung [Median SK für die Rosa Luxemburg Stiftung].
 
Stigmatisiert sind demnach bestimmte Bevölkerungsschichten, die jedoch in der Öffentlichkeit eine starke Stimme haben. Der Ursprung des Stigmas ist komplex, aber dazu zählt sicherlich die Rolle des Sozialismus im individuellen und kollektiven (übertragenen) Gedächtnis, der nach November 1989 erfolgte Rechtsruck (prägend für viele Politikerinnen und Politiker), sowie zynische Politiker, die seit Jahrzehnten an linken Überzeugungen der Wählerschaft parasitieren.

Silvia Ruppeldtová, Journalistin und Übersetzerin

Silvia Ruppeldtová Silvia Ruppeldtová | Foto: © privat In erster Linie mangelt es in der Slowakei im öffentlichen Raum an Bewusstsein dafür, was die „Linke“ oder linkes Denken über die Gesellschaft bedeutet. Es ist traurig und schicksalhaft verheerend, dass es uns selbst drei Jahrzehnte nach dem gesellschaftlichen Umbruch nicht gelungen ist, dieser Denkrichtung echten Sinn und konkrete Bedeutung zu verleihen, dieser Denkrichtung, in der die elementare Menschenwürde und die menschliche Erziehung der Gesellschaft die obersten Ziele sind – gegenwärtig ist dies von besonderer Dringlichkeit, wenn man die Eigenheiten unseres Landes berücksichtigt, die Natur und das Leben darin; das Wissen und die Bewahrung kultureller Traditionen, den Schutzes des kulturellen Erbes und das vorrangige Ziel, das ein vertieftes Wissen sein sollte. Also eine Betonung von Bildung und Fähigkeiten.
 
Gründe dafür gibt es verschiedene. Ich persönlich halte die Stigmatisierung der Linken hauptsächlich für eine Folge des Versagens von Menschen, die sich nach der Revolution als kulturelle Elite betrachteten. Glücklicherweise haben es die Kommunisten nicht geschafft, intellektuelle Traditionen vollständig auszurotten und zu zerstören, weshalb immer noch die Möglichkeit bestand, einiges wieder geradezubiegen. Die überwiegende Mehrheit der „Novembermänner“ (im wörtlichen und übertragenen Sinne) konnte unter dem starken Druck des Glaubens an einen freien Markt weder den Wert der Bildung, noch die Würde des sogenannten einfachen Menschen verteidigen. Zum Teil vermutlich auch deshalb, weil in einer polarisierten postkommunistischen Gesellschaft jeder Neigung zu sozialer Gerechtigkeit in der Politik ein „kommunistisches“ Stigma drohen würde.

Ich halte die Stigmatisierung der Linken hauptsächlich für eine Folge des Versagens von Menschen, die sich nach der Revolution als kulturelle Elite betrachteten.“

Silvia Ruppeldtová | Journalistin und Übersetzerin

Dies zeigt sich auch sehr deutlich in der Wahrnehmung von Feiertagen wie beispielsweise dem Internationalen Frauentag oder dem Jahrestag des Slowakischen Nationalaufstands am 29. August. Mitte der Nullerjahre war es in den größten meinungsbildenden Medien durchaus üblich, diese Feiertage als Trauma oder kommunistisches Treiben beziehungsweise als kommunistische Relikte zu bezeichnen, die jeder gern vergessen würde. Besonders spürbar war das nachdem die Partei Smer-SD zum ersten Mal die Wahlen gewonnen hatte und die Medien sich das positive Bekenntnis der Partei zu diesen Feiertagen bombastisch als Ausdruck von „Bolschewismus“ erklärten. Heute wollen genau dieselben Leute – schockiert über den Aufstieg des offenen Faschismus – an ihre Aussagen von damals lieber nicht mehr denken. Umso lauter warnen sie vor Intoleranz, Rassismus und der rechtsextremistischen Kotleba-Partei.
 
Natürlich scheiterten auch politische Gruppierungen, die offen eine linke Ausrichtung in ihr Programm oder den Namen der Partei aufgenommen hatten. Insbesondere aufgrund der Tatsache, dass sie bis auf geringfügige kosmetische Retuschen eine oligarchische Politik vorantrieben, die sie in keiner Weise von den Befürwortern des neoliberalen Kapitalismus unterschied. Den Mangel an sozialen Lösungen ersetzten sie durch kraftmeiernde Rhetorik, die die soziale Kluft nur weiter vertiefte. Vor allem aber ging uns damit eine gesellschaftliche Vision verloren, das Kulturethos, der Respekt für Bildung und Menschlichkeit. Heute ist es nicht weiter verwunderlich, dass Demokratie von vielen als Regierung der Dummheit wahrgenommen wird und reiche Idioten als erfolgreich gelten.

Tomáš Hučko, Chefredakteur der „engagierten Monatszeitschrift Kapitál“

Tomáš Hučko Tomáš Hučko | Foto: © privat Der erste Grund für die Stigmatisierung der Linken in unserem slowakischen Umfeld ist natürlich das historische Vermächtnis eines postsozialistischen Landes. Viele Menschen verbinden linkes Denken mit dem vorherigen Regime. Sie sind nicht bereit oder in der Lage, auch nur die Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus oder eines radikaleren linken Projekts in Betracht zu ziehen.
 
Der zweite Grund ist die politische Vertretung der Linken in der Slowakei in den letzten dreißig Jahren, die hauptsächlich mit der Partei SMER-SD in Verbindung gebracht wird. Diese Partei diskreditierte die linke Bewegung durch viele Vorfälle, Verbindungen zur Oligarchie, aber auch durch die Übernahme von nationalistischen, bis hin zu fremdenfeindlichen Einstellungen.
 
Und der dritte Grund ist die überwältigende Dominanz neoliberaler und konservativer Medien, die linkes Denken mit einer gewissen perversen Genugtuung dämonisieren. Leider oft ohne dessen Inhalte auch nur in Ansätzen zu verstehen. In einer solchen Situation sind die Aktivitäten linker Vertreter (ob auf politischer, künstlerischer oder medialer Ebene) schwierig, aber umso notwendiger.

Alena Krempaská, Programmleiterin des Instituts für Menschenrechte

Alena Krempaská Alena Krempaská | Foto: © privat Obwohl die Linke politisch dämonisiert ist, bedeutet dies nicht, dass linke Politiker unter den Wählern und Wählerinnen keinen politischen Anklang finden. Im Jahr 2018 wurde zu diesem Thema eine aufschlussreiche Umfrage durchgeführt. Sogar 87 Prozent der Slowak*innen sind der Meinung, dass der Staat eine kostenlose Gesundheitsversorgung gewährleisten sollte, 77 Prozent denken, dass es dank der Planwirtschaft im Sozialismus genügend nützliche Arbeit gab und daher keine Arbeitslosigkeit. 71 Prozent der Befragten glauben, dass die Menschen in Industrieländern einen höheren Lebensstandard haben, weil der Staat in ihnen die Ressourcen in beträchtlichem Maße von Reicheren auf Ärmere umverteilt. Bei uns in der Slowakei ist es eher so, dass bisher niemand diese Themen ausreichend anspricht.

Boris Ondreička, Künstler, Kurator, Sänger und Texter

Boris Ondreička Boris Ondreička | Foto: © privat Die politische Linke ist in der Slowakei nicht unbeliebt. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass die SMER-SD, die sich ausdrücklich als sozialistisch darstellt, seit der Revolution von allen Parteien in der Slowakei am längsten an Regierungen beteiligt war. Und selbst jetzt, nach ihrem Zerfall, würde sie laut aktuellen Umfragen [Focus für TV Markíza, September 2020] zusammen mit der von abtrünnigen SMER-Mitgliedern gegründeten Hlas-Sociálna demokracia bis zu 27,1 Prozent der Stimmen erhalten. Aber ob emotionaler Rhetorik und relativierender Populismus im Parteiprogramm von Smer beziehungsweise Hlas nicht nur dem Stimmenfang dient, ist eine andere Frage.
 
Stigmatisiert ist nur der Teil der Linken (auch durch die oben erwähnte opportunistische Linke), der liberale Positionen einnimmt, sich für bedingungslose Gleichheit und Freiheiten in Bezug auf Selbstbestimmung, Körper, Geschlecht, kulturelle und nationale Identität, Säkularismus... einsetzt, der Internationalismus und Antitotalitarismus betont. Auf ähnliche Werte beruft sich auch ein Teil der Rechten. Stigmatisiert sind demzufolge eher die genannten Werte, und diese sind keine alleinige Domäne der Linken.

Zora Jaurová, Produzentin und Kulturexpertin, stellvertretende Vorsitzende der Partei Progresívne Slovensko (Fortschrittliche Slowakei)

Zora Jaurová Zora Jaurová | Foto: © Gabina Weissová Es wäre zu einfach, zu sagen, dass das Misstrauen gegenüber der Linken in der Slowakei das Erbe des Kommunismus ist. In Wirklichkeit war die Linke in der Slowakei nämlich seit 1989 entweder nicht erfolgreich oder eben nicht links.
 
Das Aufholen der natürlichen Entwicklung, die das Erbe der Mečiar-Regierung war, führte dazu, dass in den späten 1990er Jahren, als in den Nachbarländern eine reformierte Linke regierte, in der Slowakei der einzige Ausweg für das darniederliegende Land eine ökonomisch rechte Regierung zu sein schien. Aus dieser Zeit stammt das immer noch grassierende Narrativ von „rechten“ Regierungen und Parteien als solche, die die Korruption, den wirtschaftlichen Niedergang und die destruktive geopolitische Ausrichtung besiegen. Der slowakische Weg der eingeschlagenen Wirtschaftsreformen nahm eine viel radikalere Form an als in den umliegenden Ländern und keine linke Gruppierung vermochte eine Alternative zum neoliberalen Transformationsmodell anzubieten.

Die mit der Partei SMER-SD in Verbindung gebrachte Korruption und das Fehlen von Entwicklungsvisionen untermauerten nur die These über die Inkompetenz der Linken (die keine Linke war) als Teil des alten korrupten Systems.“

Zora Jaurová | stellvertretende Vorsitzende der Partei Progresívne Slovensko (Fortschrittliche Slowakei)

Der relativ lang anhaltende politische Erfolg der Smer-SD wurde durch die Abwendung von linken Standardthemen und -einstellungen erkauft. Die mit der Partei in Verbindung gebrachte Korruption und das Fehlen von Entwicklungsvisionen untermauerten nur die These über die Inkompetenz der Linken (die keine Linke war) als Teil des alten korrupten Systems.
 
Eine weitere Folge des fehlenden linken Spektrums ist auch, dass bestimmte linksgerichtete Themen in unserem Land jetzt in extremer und reduzierter Form von den rechten Parteien übernommen werden (Privatisierung öffentlicher Ressourcen, Kampf gegen die globale Oligarchie), obwohl klar ist, dass es sich hierbei nur um populistische Rhetorik handelt.
 
Nicht nur deshalb bin ich überzeugt, dass in der heutigen politischen Szene der Slowakei Platz für eine Partei ist, die an einen starken Staat und dessen Institutionen glaubt, eine sehr soziale Sicht der Wirtschaft bevorzugt, einen wichtigen Schwerpunkt auf grüne Themen sowie Menschenrechte legt und hinter der EU steht.
 
Wie auch immer wir eine solche Partei mit klassischen politischen Kategorien definieren würden.

Peter Tkačenko, Kommentator der Tageszeitung SME

Peter Tkačenko Peter Tkačenko | Foto: © privat Ich weiß nicht, ob die Linke in der Slowakei stigmatisiert ist, ich würde lieber darauf antworten, wo speziell in der Slowakei die Vorbehalte gegenüber der Linken überhaupt herkommen.
 
Zu einem großen Teil ist das das Erbe des Kommunismus und der anschließenden Transformation, die einen rechten Vektor gehabt haben muss. Denn „mehr Demokratie“ war bei uns gleichbedeutend mit „weiter nach rechts“. Dem entsprach in der Folge auch die Strukturierung der politischen Eliten – diejenigen, bei denen eine größere Anzahl von „Verlierern der Novemberrevolution“ vertreten waren, zogen das Land nach links, jedoch in dem Sinne, dass sie gegenüber dem Sozialismus sentimentale Gefühle hegten und nicht gerade vor Begeisterung für eine wirtschaftliche oder politische Umstrukturierung strotzten. Das Ergebnis war eine „undemokratische“ und „antireformistische“ Linke, welcher eine „demokratische“ und „reformistische“ Rechte gegenüber stand.
 
Diese Zweiteilung wird nach und nach eher durch „konservative“ Ursachen verdrängt. Unter der Linken versteht man zunehmend auch die Menschenrechtsbewegung, welche auf die politischen Christen stößt und dann wird die Linke als „Kulturmarxismus“ gebrandmarkt. Und das ist keine positive Konnotation.

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