Das Unsichtbare sichtbar machen: Kunst trifft auf KI

Actual Reality Hito Steyerl © Serpentine Galleries

Die zeitgenössischen Werke in diesem Kontext sind zum größten Teil verkörperte Formen des Nachdenkens über den Einfluss der KI auf existenzielle Fragen des Selbst und zu unserer zukünftigen Interaktion mit nicht-menschlichen Wesenheiten. Nur wenige haben die Technologien und Innovationen der KI selbst zur Grundlage ihrer Arbeit gemacht.

Hans Ulrich Obrist

In der Einleitung zur zweiten Ausgabe seines Buches Understanding Media stellt Marshall McLuhan fest, dass die Kunst in der Lage ist, „zukünftige soziale und technologische Entwicklungen zu antizipieren“. Ihm zufolge ist die Kunst ein „Frühwarnsystem“, das uns auf potenzielle Entwicklungen hinweist und es uns ermöglicht, „uns darauf vorzubereiten, sie zu meistern. (…) Die Kunst übernimmt als Radar die Funktion eines unverzichtbaren Wahrnehmungstrainings.“
 
Als McLuhans Buch 1964 zum ersten Mal erschien, baute Nam June Paik gerade seinen Robot K-456 und experimentierte dabei mit Technologien, die später unsere gesamte Gesellschaft beeinflussen sollten. Zuvor hatte er bereits das Fernsehen erforscht und stellte die normalerweise passive Konsumhaltung der Zuschauenden in Frage. Später schuf er Kunst mittels globaler Live-Satellitenübertragungen. Die neuen Medien nutzte er dabei weniger zur Unterhaltung, als vielmehr um ihre poetischen und interkulturellen Qualitäten aufzuzeigen (die noch heute weitgehend ungenutzt bleiben). Die Paiks unserer Zeit arbeiten mit dem Internet, mit digitalen Bildern und mit der künstlichen Intelligenz (KI). Ihre Werke und Gedanken sind das heutige Frühwarnsystem für die vor uns liegenden Entwicklungen.

Meine tägliche Arbeit als Kurator besteht darin, unterschiedliche Kunstwerke und Kulturen miteinander zu verbinden. Seit Anfang der 1990er-Jahre organisiere ich zudem Gespräche und Treffen zwischen in der Praxis tätigen Menschen aus verschiedenen Disziplinen, um dem allgemeinen Vorbehalt gegen die Bündelung von Wissen entgegen zu wirken. Da es mich interessiert, was Kunstschaffende über künstliche Intelligenz denken, habe ich letztes Jahr einige Gespräche zwischen Künstler*innen und Ingenieur*innen organisiert.

Zwei der wichtigsten Fragen unserer Zeit verlangen nach einer eingehenden Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz: „Was wird KI leisten können?“ und „Welche Gefahren ergeben sich daraus?“ Die ersten Anwendungen von KI beeinflussen unseren Alltag bereits auf mehr oder weniger sichtbare Weise und ihr Einfluss auf unsere Gesellschaft nimmt zu. Ob dies aber im Allgemeinen vorteilhaft oder eher schädlich ist, bleibt ungewiss. 

Viele zeitgenössische Künstler*innen verfolgen die Entwicklungen aufmerksam. Sie äußern Zweifel an den Versprechungen von künstlicher Intelligenz und mahnen uns, den Begriff nicht nur mit positiven Folgen zu assoziieren. Dabei bringen sie ihre spezifischen Perspektiven in die aktuellen Diskussionen über KI ein und beschäftigen sich insbesondere mit Fragen zur Bilderzeugung, zur Kreativität und zum Einsatz von Programmen als künstlerische Werkzeuge.

Die innige Verbindung zwischen Wissenschaft und Kunst stellte bereits Heinz von Foerster fest, einer der geistigen Architekten der Kybernetik, der ab Mitte der 1940er mit Norbert Wiener zusammenarbeitete und in den 1960ern das Gebiet der Kybernetik zweiter Ordnung begründete. Letztere versteht den Beobachtenden als Teil des Systems selbst und nicht als äußere Einheit. Ich kannte von Foerster gut und er hat mir seine Ansichten über das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft einmal wie folgt dargelegt:
 
„Ich habe Kunst und Wissenschaft immer als komplementäre Fachgebiete verstanden. Man darf nicht vergessen, dass ein Wissenschaftler in mancherlei Hinsicht auch ein Künstler ist. Er erfindet eine neue Technik und beschreibt sie. Er benutzt die Sprache wie ein Dichter oder der Autor eines Kriminalromans und beschreibt seine Feststellungen. Meiner Ansicht nach muss ein Wissenschaftler künstlerisch arbeiten, wenn er seine Forschungsergebnisse vermitteln will – dass er mit anderen kommunizieren will, ist offensichtlich. Ein Wissenschaftler erfindet neue Objekte, und es stellt sich die Frage, wie er sie beschreiben kann. In all diesen Aspekten unterscheidet sich die Wissenschaft nicht so sehr von der Kunst.“

Als ich ihn nach einer Definition der Kybernetik fragte, antwortete von Foerster:   
 
„Das Wesentliche, was wir durch die Kybernetik gelernt haben, ist das zirkuläre Denken: A führt zu B, B zu C, aber C kann zu A zurückkehren. Argumente dieser Art sind nicht linear, sondern zirkulär. Der bedeutende Beitrag der Kybernetik zu unserem Denken besteht in zirkulären Argumenten. Wir müssen also zirkuläre Prozesse betrachten und verstehen, unter welchen Umständen ein Gleichgewicht und somit eine stabile Struktur entsteht.“
 
Heute, wo Algorithmen der KI im Alltag Anwendung finden, muss man sich fragen, wie die menschliche Komponente in diese Art von Prozessen einbezogen wird und welche Rolle Kreativität und Kunst in diesem Zusammenhang spielen könnten. Über die Beziehung zwischen KI und Kunst muss man daher auf verschiedenen Ebenen nachdenken.

Was also haben zeitgenössische Künstler*innen zur künstlichen Intelligenz zu sagen? Hito Steyerls "Power Plants" Ausstellung in den Serpentine Galleries in 2019 Hito Steyerls "Power Plants" Ausstellung in den Serpentine Galleries in 2019 | © Serpentine Galleries

Künstliche Dummheit  

Für die Dokumentar- und Experimentalfilmemacherin Hito Steyerl gibt es zwei wesentliche Aspekte, die wir im Auge behalten sollten, wenn wir über die Auswirkungen von KI auf die Gesellschaft nachdenken. Erstens werden ihr zufolge die Erwartungen an die sogenannte künstliche Intelligenz oft überbewertet und das Substantiv „Intelligenz“ wirke irreführend – um dem entgegenzuwirken, spricht sie von „künstlicher Dummheit“. Zweitens verweist sie darauf, dass Programmierer*innen unsichtbare Software-Algorithmen mittlerweile durch Bilder sichtbar machen, dass wir aber, um diese Bilder zu verstehen und zu interpretieren, das Fachwissen von Künstler*innen nutzen sollten.

Steyerl arbeitet seit vielen Jahren mit Computertechnologien und beschäftigt sich in ihren jüngsten Werken mit Überwachungstechniken, Robotern und Computerspielen, zum Beispiel mit digitalen Bildtechnologien in How Not to Be Seen (2013) oder mit dem komplizierten Gleichgewichtstraining von Robotern in HellYeahWeFuckDie (2017). Um ihr Konzept der künstlichen Dummheit zu erklären, verweist Steyerl aber auf ein allgemeineres Phänomen, wie die inzwischen weit verbreitete Nutzung von Twitter-Bots:
 
Der Einsatz von Twitter-Armeen vor Wahlen war und ist nach wie vor ein sehr beliebtes Mittel, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, populäre Hashtags zu unterwandern und so weiter. Diese künstliche Intelligenz ist sehr, sehr primitiv. Sie besteht aus einem Code mit vielleicht zwei oder drei Zeilen. Daran ist überhaupt nichts Ausgeklügeltes. Und trotzdem hat diese Art von künstlicher Dummheit, wie ich sie nenne, in der Weltpolitik bereits monumentale soziale Auswirkungen.
  
Wie weithin bekannt ist, wurde diese Technologie für die vielen automatisierten Twitter-Posts vor der US-Präsidentschaftswahl 2016 und auch kurz vor der Brexit-Abstimmung eingesetzt. Wenn selbst minderwertige KI-Technologien wie diese Bots unsere Politik bereits beeinflussen können, wirft dies eine weitere dringliche Frage auf: „Wie leistungsfähig werden weitaus fortschrittlichere Techniken in der Zukunft erst sein?“

Sichtbar / Unsichtbar 

Paul Klee sprach oft von der Kunst als „Sichtbarmachung des Unsichtbaren“. Die meisten Algorithmen unserer alltäglichen Computersysteme arbeiten unsichtbar im Hintergrund und bleiben für uns unzugänglich. Doch jüngst erlebt die Visualität im maschinellen Lernen ein Comeback. Die Art und Weise, wie KI-Algorithmen Daten verarbeiten, wird durch Anwendungen wie Google DeepDream sichtbar, die den Prozess der computergestützten Mustererkennung in Echtzeit visualisieren. Die Anwendung zeigt, wie der Algorithmus versucht, Tierformen mit beliebigem Eingabematerial abzugleichen. Es gibt viele weitere KI-Visualisierungsprogramme, die auf ihre Art ebenfalls „das Unsichtbare sichtbar machen“. Das Problem bei der Bewertung solcher Bilder liegt Steyerl zufolge darin, dass die visuellen Muster unkritisch als realistische und objektive Darstellungen des Maschinenprozesses aufgefasst werden. Zur Ästhetik solcher Visualisierungen sagt sie:
 
„Für mich beweist dies, dass die Wissenschaft zu einer Unterkategorie der Kunstgeschichte geworden ist. (…) Es gibt mittlerweile etliche abstrakte Computermuster, die aussehen wie ein Gemälde von Paul Klee oder Mark Rothko oder andere Abstraktionen aus der Kunstgeschichte. Der einzige Unterschied besteht meines Erachtens darin, dass sie im gegenwärtigen wissenschaftlichen Denken als Abbilder der Realität verstanden werden, also fast wie dokumentarische Bilder, während es in der Kunstgeschichte ein sehr nuanciertes Verständnis für verschiedene Arten der Abstraktion gibt.“
  
Steyerl strebt also nach einem tiefergehenden Verständnis von computergenerierten Bildern und ihren ästhetischen Formen, denn offensichtlich werden sie nicht mit dem expliziten Ziel erzeugt, einer bestimmten ästhetischen Tradition zu folgen. Im Gespräch mit Steyerl erläuterte Computeringenieur Mike Tyka die Funktionen dieser Bilder:
 
„Deep-Learning- Systeme, vor allem die visuellen, sind tatsächlich vom Bedürfnis inspiriert, das, was in der Black Box vor sich geht, zu verstehen. Ihr Ziel ist es, diese Prozesse in die reale Welt zurück zu projizieren.“ 

Dennoch wohnen diesen Bildern ästhetische Implikationen und Werte inne, die es zu berücksichtigen gilt. Man könnte sagen, dass Programmierer*innen diese Bilder benutzen, um uns dabei zu helfen, die Algorithmen der Programme besser zu verstehen; umgekehrt brauchen wir das Wissen von Künstler*innen, um die ästhetischen Formen der KI besser zu verstehen. Wie Steyerl festgestellt hat, werden Visualisierungen im Allgemeinen als „wahrhaftige“ Darstellungen von Prozessen verstanden; stattdessen sollten wir ihre jeweilige Ästhetik und deren Folgen bewusst wahrnehmen und kritisch und analytisch reflektieren.

Um die unsichtbaren KI-Algorithmen sichtbar zu machen, kreierte Trevor Paglen 2017 ein Projekt namens Sight Machine. Dafür filmte er eine Live-Performance des Kronos Quartet und ließ die Bilder von unterschiedlichen Programmen verarbeiten, die zur Gesichtserkennung, Objektidentifizierung und Raketenführung eingesetzt werden. Das Ergebnis ihrer Algorithmen projizierte er in Echtzeit auf Bildschirme über der Bühne. Indem er demonstrierte, wie die verschiedenen Programme die Performance der Musiker*innen interpretierten, zeigte Paglen auf, dass KI-Algorithmen immer von Werten und Interessen bestimmt sind, die sich manifestieren und reproduzieren und daher kritisch hinterfragt werden müssen. Der deutliche Kontrast zwischen den Algorithmen und der Musik wirft auch die Frage nach der Beziehung zwischen technischer und menschlicher Wahrnehmung auf. "BOB (Bag of Beliefs)" von Ian Cheng, künstlicher Lebensform, 2018-2019 "BOB (Bag of Beliefs)" vom Ian Cheng, künstlicher Lebensform, 2018-2019 | Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, Gladstone Gallery, Pilar Corrias Gallery

Computer als Werkzeuge der Kreativität können Künstler*innen nicht ersetzen 

Auch die Videokünstlerin Rachel Rose denkt über diese von der KI aufgeworfenen Fragen nach und setzt zur Schaffung ihrer Werke Computertechnologien ein. Ihre Filme bieten den Betrachtenden eine Erfahrung von Materialität mittels Bewegtbild. Sie collagiert und schichtet das Material, um Ton und Bild zu manipulieren, wobei der Schnittprozess den wohl wichtigsten Aspekt ihrer Arbeit darstellt. In einem Gespräch, das wir zusammen mit dem Ingenieur Kenric McDowell am Google-Kulturinstitut führten, sprach sie über die Bedeutung der Entscheidungsfindung in ihrer Arbeit und sagte, dass der künstlerische Prozess ihrer Meinung nach keinem rationalen Muster folge. Sie erläuterte dies anhand einer Anekdote aus dem Buch The Empty Space von Theaterregisseur Peter Brook aus dem Jahr 1968. Als Brook in den späten 60ern das Bühnenbild für seine Inszenierung von Shakespeares The Tempest entwarf, begann er zunächst mit einem japanischen Garten. Doch dann entwickelte sich das Design weiter und wurde erst zu einer White Box, dann zu einer Black Box, dann zu einem realistischen Bühnenbild und so weiter. Am Ende kehrte er zu seiner ursprünglichen Idee zurück. Brook schreibt, wie schockiert er war, dass er einen Monat verwendet hatte, um am Ende zum Anfang zurückzukehren. Der kreative künstlerische Prozess ist also eine Abfolge, bei der jeder Schritt auf dem nächsten aufbaut und am Ende zu einem unvorhersehbaren Ergebnis führt. Die Abfolge ist aber weder logisch noch rational, sondern ergibt sich vor allem aus den Gefühlen des Künstlers in Reaktion auf das jeweils unmittelbar vorhergehende Ergebnis. Über ihre eigene künstlerische Entscheidungsfindung sagte Rose:
 
„Sie unterscheidet sich für mich deutlich vom maschinellen Lernen, denn bei jeder Entscheidung gibt es dieses grundlegende Gefühl, das von einem Menschen kommt, das mit Empathie zu tun hat, das mit Kommunikation zu tun hat, das mit Fragen zu unserer eigenen Sterblichkeit zu tun hat, die nur ein Mensch stellen kann.“

Dieser letzte Punkt unterstreicht den grundlegenden Unterschied zwischen jeder menschlichen künstlerischen Produktion und der sogenannten Computerkreativität. Rose sieht in der KI daher eher eine Möglichkeit, bessere Werkzeuge für Menschen zu schaffen:
 
„Der Nutzen des maschinellen Lernens für Künstler*innen besteht für mich weniger darin, eine unabhängige Subjektivität zu entwickeln, die ein Gedicht schreiben oder ein Bild schaffen kann, sondern tatsächlich darin, Lücken zu füllen, die mit handwerklicher Arbeit zu tun haben, wie beispielsweise Photoshop verschiedene Werkzeuge bietet.“

Auch wenn solche Werkzeuge nicht spektakulär erscheinen mögen, „könnten sie einen größeren Einfluss auf die Kunst haben“, sagt Rose, weil sie Künstler*innen neue Möglichkeiten zur kreativen Arbeit bieten. 

Auch Kenric McDowell meinte in diesem Gespräch mit Rachel Rose, dass es bezüglich der KI falsche Erwartungen gibt: „Die Idee eines Computers, der all das tun kann, was wir tun, hat eine Art magische Qualität. (…) Er ist fast eine Art dämonischer Spiegel, in den wir hineinschauen, und von dem wir erwarten, dass er einen Roman schreibt, dass er einen Film macht. Irgendwie wollen wir das abgeben.“ Stattdessen arbeitet McDowell an Projekten, in denen Menschen mit der Maschine kooperieren. Denn ein aktuelles Ziel der KI-Forschung besteht darin, neue Wege der Interaktion zwischen Mensch und Software zu finden. Und die Kunst, so könnte man sagen, muss dabei eine Schlüsselrolle spielen, da sie sich auf unsere Subjektivität und auf wesentliche menschliche Erfahrungen wie Empathie und Sterblichkeit konzentriert. Suzanne Treisters "The Escapist BHST/Desktop Portal/Holographic Quantum Psychic Visionary Data Transfer", 2019 Suzanne Treisters "The Escapist BHST/Desktop Portal/Holographic Quantum Psychic Visionary Data Transfer", 2019 | Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin, Annely Juda Fine Art, London und P.P.O.W. Gallery, New York

Kybernetik / Kunst 

Als Beispiel dafür, was an der Schnittstelle von aktuellen Technologien, den Künsten und der Kybernetik geschieht, eignen sich Suzanne Treisters Arbeiten zwischen 2009 bis 2011. Bereits seit den 1990ern ist Treister eine Pionierin der digitalen Kunst, die zum Beispiel imaginäre Videospiele erfand und „Screenshots“ daraus malte. In ihrem Projekt Hexen 2.0 blickte sie auf die berühmten Macy-Konferenzen zur Kybernetik zurück, die Ingenieur*innen und Sozialwissenschaftler*innen zwischen 1946 und 1953 in New York organisierten, um die wissenschaftlichen Disziplinen zusammenzubringen und eine universelle Theorie zur Funktionsweise des Geistes zu entwickeln.

In ihrem Projekt schuf Treister dreißig Foto-Text-Arbeiten zu den Teilnehmenden der Konferenz, zu denen auch Wiener und von Foerster gehörten; sie entwarf Tarotkarten; und sie drehte ein Video, das auf der Fotomontage einer „kybernetischen Séance“ basiert, in der die Konferenzteilnehmer*innen um einen runden Tisch sitzen, während ihre Aussagen zur Kybernetik in einer Audio-Collage zu hören sind. So verband Treister rationales Wissen und Aberglauben. Sie wies auch darauf hin, dass einige der teilnehmenden Wissenschaftler*innen für das Militär arbeiteten, was zeigt, dass die Kybernetik schon damals ambivalent verhandelt wurde – als Kampf zwischen reinem Wissen und dessen Einsatz zur staatlichen Kontrolle.

Betrachtet man Treisters Arbeiten, stellt man fest, dass keine bildenden Künstler*innen in die Konferenz einbezogen wurden. Der Dialog zwischen Kunstschaffenden und Forschenden wäre für künftige Diskussionen fruchtbar, und es erstaunt ein wenig, dass er trotz von Foersters großem Interesse an der Kunst nicht bereits damals angeregt wurde. In einem unserer Gespräche erzählte von Foerster mir, dass seine Beziehung zur Kunst bis in seine Kindheit zurückreichte:

„Ich bin in einer Künstlerfamilie aufgewachsen. Wir hatten oft Besuch von Dichtern, Philosophen, Malern und Bildhauern. Kunst war ein Teil meines Lebens. Später kam ich zur Physik, weil ich ein Talent dafür hatte. Aber die Bedeutung der Kunst für die Wissenschaft ist mir immer bewusst geblieben. Für mich gab es da keinen großen Unterschied. Für mich waren sich diese beiden Aspekte des Lebens immer sehr ähnlich und auch zugänglich. Wir sollten sie als eins begreifen. Auch ein Künstler muss über sein Werk nachdenken. Er muss über seine Grammatik und seine Sprache nachdenken. Ein Maler muss wissen, wie mit seinen Farben umzugehen ist. Man denke nur daran, wie intensiv Ölfarben in der Renaissance erforscht wurden. Man wollte damals wissen, wie ein bestimmtes Pigment mit anderen gemischt werden konnte, um einen bestimmten Rot- oder Blauton zu erhalten. Chemiker und Maler arbeiteten dabei sehr eng zusammen. Ich glaube, die künstliche Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst ist falsch.“

Während von Foerster die Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft immer klar war, muss sie heute erst noch offenbart werden und es gibt gute Gründe, ihre Verbindungen zu mehren. Das kritische Denken von Künstler*innen wäre im Hinblick auf die Gefahren der KI von Vorteil, denn es lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die aus ihrer Sicht wesentlichen Fragen. Mit dem Aufkommen des maschinellen Lernens stehen Kunstschaffenden neue Werkzeuge für ihre Arbeit zur Verfügung. Und da die Algorithmen der KI durch künstliche Bilder auf neue Weise sichtbar gemacht werden, wird das kritische visuelle Wissen und der Sachverstand von Künstler*innen von großem Nutzen sein. Viele Schlüsselfragen der KI sind philosophischer Natur und können nur aus einer ganzheitlichen Sicht beantwortet werden und es wird sich lohnen zu beobachten, wie abenteuerlustige Künstler*innen sie beleuchten. 

Das Simulieren von Welten 

Die zeitgenössischen Werke in diesem Kontext sind zum größten Teil verkörperte Formen des Nachdenkens über den Einfluss der KI auf existenzielle Fragen des Selbst und zu unserer zukünftigen Interaktion mit nicht-menschlichen Wesenheiten. Nur wenige haben die Technologien und Innovationen der KI selbst zur Grundlage ihrer Arbeit gemacht und nach ihrer eigenen Vision geformt. Eine Ausnahme ist der Künstler Ian Cheng, der sogar ganze Welten aus künstlichen Wesen mit unterschiedlichem Grad an Empfindungsfähigkeit und Intelligenz konstruiert. Er bezeichnet diese Welten als Live-Simulationen. Seine Emissaries-Trilogie (2015–2017) ist in einer fiktiven postapokalyptischen Welt aus Flora und Fauna angesiedelt, in der von der KI gesteuerte Tiere und Kreaturen die Landschaft erkunden und miteinander interagieren. Cheng nutzt hochentwickelte Computergrafiken, lässt aber viele Glitches und Unvollkommenheiten in sie programmieren, wodurch eine zugleich futuristische und anachronistische Atmosphäre entsteht. In seiner als Geschichte des Bewusstseins entworfenen Trilogie stellt er die Frage: „Was ist eine Simulation?“

Im Gegensatz zur Mehrheit der künstlerischen Arbeiten, die neue Entwicklungen der KI im Bereich des maschinellen Lernens nutzen, schlägt Cheng mit seinen Live-Simulationen einen anderen Weg ein: Die Protagonist*innen und Handlungsstränge jeder episodischen Simulation in Emissaries funktionieren nach den komplexen Logiksystemen und Regeln der KI. Das Tiefgründige seiner sich ständig weiterentwickelnden Szenarien liegt darin, dass die Komplexität nicht durch die Wünsche bzw. Handlungen eines einzelnen Akteurs oder einer künstlichen Gottheit entsteht, sondern durch deren Konstellation, Kollision und symbiotische Ko-Entwicklung. Daraus ergeben sich unerwartete Folgen und unendliche, unbekannte Situationen – man kann also auch bei mehrfacher Betrachtung eines seiner Werke nie genau den gleichen Moment zweimal erleben.

Beim Serpentine Marathon Guest, Ghost, Host: Machine! führte Cheng eine Diskussion mit dem Programmierer Richard Evans, der kürzlich die KI-basierte Plattform Versu für interaktive Erzählspiele entworfen hat. Evans’ Arbeit unterstreicht die soziale Interaktion der Spielfiguren, die innerhalb eines Spektrums möglicher Verhaltensweisen auf die Entscheidungen der menschlichen Spieler*innen reagieren. Über seine Motivation für das Projekt sagte Evans, dass vorangegangene Simulationsvideospiele, wie beispielsweise The Sims, die Bedeutung sozialer Praktiken meist nicht ausreichend berücksichtigt hätten. Das Verhalten von simulierten Protagonist*innen in Spielen entspreche oft nicht dem realen menschlichen Verhalten. Das Wissen um soziale Praktiken also schränkt die Handlungsmöglichkeiten zwar ein, ist aber notwendig, um die Bedeutung unserer Handlungen zu verstehen. Genau dieser Aspekt interessiert Cheng bei seinen Simulationen. Je mehr Parameter der Handlung in einer Computersimulation bestimmt werden, desto interessanter ist es für Cheng, mit den individuellen spezifischen Veränderungen zu experimentieren: „Ich glaube, wenn wir eine KI hätten, die besser in der Lage ist, auf soziale Kontexte zu reagieren, würde etwas sehr Künstlerisches und Schönes daraus entstehen.“

Für Cheng besteht die Arbeit von Programmierer*innen und KI-Simulationen auch darin, neue und ausgefeilte Werkzeuge für das Experimentieren mit den Parametern unserer alltäglichen sozialen Praktiken zu erschaffen. Die Einbeziehung von Künstler*innen in die Entwicklung der KI kann auch zu neuen, offenen Experimenten in der Kunst führen. Solche Möglichkeiten sind – wie die besseren Fähigkeiten der KI allgemein – noch Zukunftsmusik. Für Cheng steckt die experimentelle Technologie noch in den Kinderschuhen und wir sind weit von den apokalyptischen Visionen einer superintelligenten KI-Kontrollinstanz entfernt. Und so bevölkert er seine Simulationen mit prosaischen Avataren wie zum Beispiel seltsamen mikrobiellen Kügelchen, Hunden und Untoten. Hans Ulrich Obrist Hans Ulrich Obrist | © Andreas Schmidt

Solche Diskussionen zwischen Künstler*innen und Ingenieur*innen sind natürlich nicht ganz neu. Der Ingenieur Billy Klüver brachte sie bereits in den 60ern in einer Reihe von Veranstaltungen zusammen und rief 1967 zusammen mit Robert Rauschenberg und anderen das Programm Experiments in Art and Technology ins Leben. In London gingen etwa zur gleichen Zeit Barbara Stevini und John Latham von der Artist Placement Group noch einen Schritt weiter und proklamierten, dass es in jedem Unternehmen und jeder Regierung Künstleraufenthalte geben sollte. Diese inspirierenden historischen Modelle lassen sich heute auf den Bereich der KI übertragen. Denn in dem Maße, in dem die KI in immer mehr Bereiche unseres Alltags vordringt, ist auch die Schaffung eines Raums, der in seiner Pluralität der Perspektiven und Vielfalt der Verständnisse weder deterministisch noch utilitaristisch ist, zweifellos von wachsender Bedeutung. 

Der obige Aufsatz wurde zuerst veröffentlicht als Teil der Vorlesung New Experiments in Art and Technology an der Saas Fee Academy in 2018 und wird hier mit Erlaubnis des Autors und mit freundlicher Unterstützung des Schweizerischen Generalkonsulats in Sydney abgedruckt.
Weitere Stichworte von Hans Ulrich Obrist über die Zukunft kreativer KI gibt es hier.


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