Still aus Another place across the river (2013 - 2014) Still aus Another place across the river (2013 - 2014) | mit freundlicher Genehmigung von Truong Cong Tung
Geflüsterte Schreie, Dorffeste und Bolero

Begräbnisrituale

Von Arlette Quỳnh-Anh Trần, 2021

Sich in diesen Zeiten mit Tod und Begräbnissen zu befassen, ist nicht so leicht zu ertragen. Unsere Ältesten haben ein Sprichwort: „Die Lebenden brauchen Licht, die Toten brauchen Musik[1]”, aber an diesen Tagen verabschieden Familien einen Krankenwagen, der einen geliebten, an Covid-19 erkrankten Menschen fortfährt, nur um einige Tage später eine Urne mit dessen Asche überreicht zu bekommen.

Es bleibt keine Zeit, um Räucherwerk oder ein Tablett mit Obst vorzubereiten, um Verstorbene zu verabschieden, geschweige denn eine Zeremonie nach den jeweiligen Traditionen zu planen. Der Tod – das Ende des physischen Körpers – kennzeichnet den Beginn der Zeit, in denen sich die Gemeinschaft emotional ausdrückt, was sich in den letzten Formalitäten und Ritualen für den übrig bleibenden Körper manifestiert.
 
Für vietnamesische Menschen scheinen Begräbnisse die wichtigsten Zeremonien zu sein, sogar verglichen mit Hochzeiten. Neben einer Band, die als Hintergrund für die Gäste dient, die essen, trinken und Fotos machen, liegt der Fokus der meisten vietnamesischen Hochzeiten eher auf ihren Ritualen – sich vor den Ahnen verbeugen, die beiden Familien begrüßen, Geld und Geschenke geben –  als auf ihre beglückwünschende, kollektive Performance aus Tanzen, Singen und Spiele spielen. Abgesehen von den Formatlitäten, die zu Hause abgehalten werden, wie der Heiratsantrag und die Verlobungsfeier, dauern vietnamesische Hochzeiten normalerweise nur wenige Stunden – die Länge eines fünfgängigen Menüs.
 
Hochzeiten werden auf Grundlage von sozialen Hierarchien von Klasse und Status, der materiellen Höhe des Brautpreises, der Kleidung von Braut und Bräutigam oder des Veranstaltungsortes gelobt und respektiert. Diese Kriterien können aber nicht auf Beerdigungen angewendet werden. Der oder die Verstorbene ist Teil einer Familie; Zuneigung und Nähe müssen von so vielen wie möglich deutlich zum Ausdruck gebracht werden und einen bleibenden Eindruck sowohl im engeren, als auch im erweiterten Umfeld der Familie hinterlassen. Die tiefe Zuneigung zwischen den Lebenden und den Toten wird in einer performativen und sogar inszenierten Weise ausgedrückt.
 
Bei Beerdigungen sind Unterschiede zwischen Buddhismus, Konfuzianismus, Taoismus und Christentum weniger klar. Natürlich kann man immer noch Mönche sehen, wie sie für den Frieden der Seele beten, Priester, die aus der Bibel rezitieren und den Sarg mit Weihwasser segnen, taostische Sargsiegel oder die Dharma-Siegel der Drei Lehren. Diese Rituale ähneln sich jedoch insofern, als sie sich über mehrere Tage erstrecken und im Kreise der Familie, Verwandten, Freunde und Nachbarn stattfinden. Bei einer vietnamesischen Beerdigung hört man, unabhängig von der sozialen Herkunft der Familie, nicht nur Weinen und Gespräche, sondern auch Musik, die nicht nur als Hintergrund, sondern als integraler Bestandteil aller Beerdigungen in diesem Land dient. Die Trauermusik kann sich im Norden und im Süden, vom Flachland, im Mittel- und Hochland unterscheiden. Obwohl die Struktur von Beerdigungen eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweist, hängt der Rhythmus der Beerdigungsmusik davon ab, wie sich die Menschen in den einzelnen Regionen den Tod vorstellen.
 
Gustave Dumoutier schreibt in seinem Buch Le rituel funéraire des Annamites (Die Begräbnisrituale der Annamiten), Erstveröffentlichung 1904, dass im Norden ein Orchester aus Musiker*innen besteht, die acht verschiedene Instrumente spielen, darunter sinh tiền (Münzenklapper), đàn nguyệt (Mondlaute), đàn tì (birnenförmige Laute), cánh (Kupferpauke), ống địch (Bambusflöte), đàn tam (dreiseitige bundlose Langhalslaute), und trống giằng và đàn nhị (Erhu). Jedes Instrument hat eine bestimmte Klangfarbe, die zusammen etwas ergeben was umgangssprachlich „phường bát âm” genannt wird – eine Amalgam aus acht verschiedenen Klangquellen die mit den acht grundlegenden Elementen des taoistischen Bagua, den acht Trigrammen, korrespondieren. Heute allerdings variieren die Anzahl und die Art der Instrumente je nach lokalen Vorlieben oder der jeweiligen Gruppe, wie man an der Wahl zwischen der bộc oder ban Trommel sehen kann.

Screenshot von einer Gravur einer bát âm-Truppe im Buch Le rituel funéraire des Annamites. Etúde d'ethnographie religieuse par Gustave Dumoutier (1904). Inhalt ist DRM-frei. Screenshot von einer Gravur einer bát âm-Truppe im Buch Le rituel funéraire des Annamites. Etúde d'ethnographie religieuse par Gustave Dumoutier (1904). Inhalt ist DRM-frei.

Obwohl es seine Ursprünge am königlichen Hof hat, verbreitete sich „phường bát âm“ – weniger laut als die großen Palastorchester mit ihren großen Fanfaren und Trommeln – auch in Dorffesthallen, in denen die Dorfgottheit „thành hoàng“ gefeiert wurde und wurde später für Langlebigkeitszeremonien und Begräbnisse populär. „Phường bát âm” basiert auf Melodien wie „Lưu Thủy”, was ursprünglich Musik des königlichen Hofes war. Historische Aufzeichnungen geben unterschiedliche Informationen darüber, wann spätere Beerdigungen im Norden des Landes begannen, „phường bát âm“ und die feierlichen Klagelieder seiner Saiteninstrumenten wie đàn nguyệt, đàn nhị, đàn tì, đàn tam zu bevorzugen, gemeinsam mit den langsamen, konstanten Rhythmus der Ledertrommeln und der gelegentlich auftauchenden kèn bóp, die auch als kèn bầu (konische Oboe mit Kalebasse-förmiger Holzglocke) bekannt ist und als Solo oder Duett gespielt wird.
 
Eine Band spielt mit der cơm-Trommel

Es ist wichtig, hier zu erwähnen, dass das kèn bầu oder kèn bóp ein traditionelles vietnamesisches Blasinstrument mit einem Korpus aus Holz, einem Teil des Mundstücks aus gewöhnlichem Schilfrohr und einem Schalltrichter aus Kürbisschale (später verbessert und aus Metall hergestellt), ist. Es erzeugt gedämpfte Töne und unterscheidet sich völlig von den im Süden beliebten westlichen Blechblasinstrumenten, die umgangssprachlich als "westliche Hörner" bezeichnet werden und auf die ich später noch eingehen werde. Neben dem Orchester engagieren die Menschen oft auch eine Gruppe von Klagenden, deren Aufgabe es ist zu weinen, so dass das ganze Dorf den Schmerz der Familie mitfühlen kann.
 
Ich habe über Beerdigungen in der nördlichen Region berichtet, aber die Beerdigungen im zentralen Hochland sind eine ganz andere Angelegenheit. Im Dezember letzten Jahres lag ich eines Nachts im Haus enger Freund*innen in Gia Lai wach und hörte das Echo von Gesang und Gongs. Es fand eine Zeremonie zum Verlassen der Gruft statt – bei der Volksgruppe der Jrai als „pơ thi“ bekannt –, aber in der Dunkelheit des Hochlands konnten wir nicht den Weg zu den Feierlichkeiten finden um an ihnen teilzunehmen.
 
Für Leser*innen mag es seltsam wirken, dass ein Begräbnis als feierlich beschrieben werden kann. Und tatsächlich sind die Vorstellung vom Tod bei ethnischen Minderheitsgemeinschaften im zentralen Hochland deutlich andere als die im Norden und ähneln eher denen im Süden. Für sie ist der Tod Teil des Kreislaufs der Reinkarnation. Für das Hochlandvolk der Jrai beispielsweise, begibt man sich nach dem Tod auf eine Reise der Transformation, die zunächst durch Tiere wie Krähen, Heuschrecken und Grashüpfer, dann durch physische Materie wie Knochen und Holzkohle und schließlich durch Tautropfen, die in der Luft verdunsten, führt. Das Nichts markiert dementsprechend den Beginn eines neuen Lebens.
 
In der praktischen Anwendung dieses kosmologischen Glaubens werden die Toten in einem provisorischen Grabmal am Rande des Waldes begraben – einem Gebiet außerhalb menschlicher Zivilisation, das allerdings noch nicht ganz die völlige Wildernis des Dschungels ist. Die Familie ehrt weiterhin die Verstorbenen, bringt Reis und sammelt Wasser um die Seele zu füttern. Nach einer Weile, manchmal auch einige Jahre, nachdem man genug Essen und Geld aufgespart hat, hält die Familie eine „pơ thi“, die Zeremonie des Verlassens des Grabmals um die Toten – sowohl ihren Körpers, als auch ihre Seele – vom menschlichen Leben zu verabschieden, bereit für die Reinkarnation. Nach der Zeremonie geben sie das Grab auf und lassen es vom Wald überwuchern, im Gegensatz zum benachbarten Volk der Kinh, die die Gräber jedes Jahr wieder besuchen.
 
Eine heutige „pơ thi”- Zeremonie des Jrai-Volkes

Während der pơ thi-Zeremonie wird ein geräumiges neues Grab gebaut, werden Holzstatuen geschnitzt, Speiseopfer zubereitet und „rượu cần“ (ein fermentierter Reiswein) als besonderer Genuss für die Gäste ausgeschenkt. Eine Reihe von Gongs sind immer dabei, unverzichtbar für die Feierlichkeiten. Nachdem die Opfergaben dargebracht wurden und der Mond bis zur Spitze der „kút“-Säule des Grabmals aufgegangen ist, also um Mitternacht, beginnt die Zeremonie. Im flackernden Licht des Feuers spielen junge Männer aus dem Dorf die Gongs, tanzen zum Klopfrhythmus und singen dazu fröhliche Lieder, damit die Verstorbenen dieses Leben leicht verlassen und in das nächste übergehen können. Die Dorfbewohner*innen hören die Gongs und erkennen sie als Aufforderung, an der Zeremonie teilzunehmen. Jedes Dorf besitzt nur wenige kostbare Gongs aus Bronze, die manchmal mit Gold, Silber oder korinthischer Bronze legiert sind. Jeder Satz besteht aus sechs bis über zehn Stücken, die einzeln verwendet werden können, aber zu besonderen Anlässen wie „pơ thi“ wird der gesamte Satz verwendet. Die Abmessungen variieren zwischen 20 cm und 90 cm Durchmesser. Je nach ethnischer Gruppe gibt es verschiedene Möglichkeiten, eine Tonleiter mit drei, fünf oder sechs Dur- und vielen verschiedenen Moll-Klängen zu erzeugen. Wenn das gesamte Set zusammen gespielt wird, schwingen die Metallvibrationen in verschiedenen Klangfarben und erzeugen ein dynamisches Musikstück voller Tiefe und Klangreichtum. Die Musik erklingt die ganze Nacht hindurch bis zum nächsten Morgen, wenn die Familie Wein und Fleisch zur Gruft bringt und ein Festmahl kocht. Die Familie trauert ein letztes Mal und die Spieler lassen erneut die Gongs erklingen, um eine freudvolle Atmosphäre zu schaffen. Das Fest endet, die Familie verabschiedet sich von der Seele des Verstorbenen, tanzt zum Rhythmus der Gongs und kehrt ins Dorf zurück, wo sie duscht und frische Kleidung anzieht, um die Trauerzeit offiziell zu beenden und das verlorene Familienmitglied zu vergessen, um ein neues Leben zu beginnen.
 
An dieser Stelle wird deutlich, dass die ethnischen Minderheiten im zentralen Hochland eine entschlossene Haltung beim Abschiednehmen von den Toten einnehmen und den Tod selbst mit Leichtigkeit betrachten. Die Menschen im Süden, vor allem in Saigon und im Mekong-Delta, sind in dieser Hinsicht ähnlich. Es gibt keine angeheuerten Klagenden und die Beerdigungen im Süden sind darauf ausgerichtet, den Verstorbenen dabei zu helfen, in Frieden zu gehen, ohne dass die Hinterbliebenen in der Welt der Sterblichen in Schwierigkeiten geraten. Dennoch unterscheiden sich die Bestattungsmethoden im Süden von denen im zentralen Hochland und im Norden.
 
Wenn man ins Mekong-Delta hinunterfährt, kann man oft Gräber in den Gärten der Häuser sehen. Es ist unklar, woher der Brauch, „zwischen Gräbern zu leben“, stammt. Es zeigt jedoch, dass die Menschen hier keine Angst vor dem Tod haben, sondern ihn einfach als Teil des Lebenszyklus betrachten: sobald man nicht mehr im Haus der Familie lebt, wird man im Garten der Familie begraben. In der Vergangenheit haben wohlhabende Familien in der Hoffnung auf ein längeres Leben der älteren Menschen sogar Särge für die Großeltern vorbereitet und sie im Nebengebäude oder in der Nähe des Bettes stehen lassen. Einfache Familien beschäftigten sich mit „kim tỉnh“ – dem Ausheben von Gräbern, um für eine spätere Beerdigung vorbereitet zu sein. Diese optimistische Sichtweise auf den Tod macht Beerdigungen in den Südstaaten fröhlich und lebhaft.
 
Wie oben erwähnt, sind vietnamesische Begräbnisse ein inszeniertes Event mit vielen Handlungen und Ritualen. Beerdigungen sind trauervolle Tragödien im Norden und voller stammesspezifischer Rhythmen im zentralen Hochland, doch ist es schwierig, den Charakter von Bestattungen im Süden zu bestimmen, wo sich Darstellungen von Tragödie endlos mit Elementen populärer Unterhaltung abzuwechseln scheinen.
 
Um den Unterhaltungscharakter von Trauerfeiern im Süden besser zu verstehen, ein Exkurs über unterschiedliche Ansätze für Gottesdienste von Norden bis Süden für „Đạo Mẫu“, die vietnamesische Verehrung von Muttergöttinnen, die als Querverweis für Begräbnisriten des Südens dienen können. Traditionell ist in Đạo Mẫu im Norden die Medialität das zentrale Ritual und wird von „đồng cô“ und „đồng cậu“ praktiziert. Die Begriffe „đồng cô“ und „đồng cậu“ bezeichnen Personen mit der Gabe sich den Göttern durch die rituelle Praxis „lên đồng“ – Rituale der Medialität, bei denen Geister und Gottheiten in den Körper einer Person eintreten – zu nähern und denen, die kommen um zu beten, Wünsche zu erfüllen. Der Prozess umfasst verschiedene Elemente wie Kostüme, Tanzgesten, Musik und „chầu văn“-Lieder. Hierbei verkörpert das Medium den Geist des „Göttlichen“. Die Rituale aus dem Süden unterscheiden sich davon; anstatt von Medialität, verehrt der Ritualleiter die Gottheiten durch Tanzen und Singen in Ritualen namens „múa hát bóng rỗi“. Nach Professor Ngô Đức Thịnh in Lên Đồng – Hành trình của thần linh và thân phận (Lên Đồng – Die Reise der Geister und des Schicksals), nutzen die Tänzer*innen neben den Kostümen auch besondere Requisiten wie ein goldenes Tablett in einem Ritual, das „das Produkt von Interaktionen zwischen Chăm, Khmer und vietnamesischer Kultur ist, [...] die Eigenschaft, magisch und ungewöhnlich zu sein hat, ähnlich einem Varieté-„Zirkus“, [...und] das, für das gewöhnliche Volk, Unterhaltung für die Gottheiten ist.“ Anhand des seit langem bestehenden „Đạo Mẫu“ lässt sich erkennen, dass der hybride Charakter seiner Aufführung mit der Migration in den Süden zum typischen Modell für andere Aufführungspraktiken geworden ist. Die Vorliebe für Unterhaltung mit ihrem Sinn für Leichtigkeit, dem Fehlen hierarchischer Positionierung und dem fehlenden Wunsch, die Höhen des Göttlichen zu erreichen, macht sie umgekehrt umso mächtiger und markiert für mich ein bemerkenswertes Merkmal für Rituale aus der Region. Diese Performativität wechselt zwischen verschiedenen Formen der Zeremonie, von „Đạo Mẫu“ bis zu Beerdigungsriten.
 
Der Unterhaltungscharakter von Begräbnissen im Süden zeigt sich weiter durch ihre lebhaften Musikdarbietungen mit zusätzlichen Auftritten von Hintergrundtänzer*innen – trans oder crossdressende Performer*innen, die die außergewöhnlichen Fähigkeiten ihrer Körper mit Kunststücken wie Fackelschlucken, Tellerdrehen, Akrobatik und ähnlichem zur Schau stellen. Trauermusik wird von Orchestern mit westlichen Instrumenten gespielt, die umgangssprachlich „đội ‚kèn Tây‘“ (wörtlich: Gruppe von „westlichen Hörnern“) – das Resultat ist ein hybrid aus traditionellen Ritualen und westlicher Musik. In Rock Hà Nội, Bolero Sài Gòn stellt der Komponist und Musikhistoriker Jason Gibbs die These auf, dass der Einfluss westlicher Musik in Vietnam von römisch-katholischen Missionaren im 18. Und 19. Jahrhundert kam, die ihren Gemeinden die Grundlagen der Kirchenmusik beibrachten. Später, als „cải lương“ – eine Form des Volkstheaters, das im frühen 20. Jahrhundert im Mekong-Delta aus dem „đờn ca tài tử“ entstand (wörtlich: Musik der Amateur*innen) – die traditionelle pentatonische Tonleiter mit westlichen Instrumenten verband, bemühte sich die damalige Kolonialmacht ebenfalls, westliche Kultur, insbesondere Musiktheater, zu popularisieren. Märsche mit lebhaften, erhebenden Melodien wie „La Marseillaise“, übrigens auch die französische Nationalhymne, und „La Madelon“ wurden sowohl von der Bevölkerung, als auch von jüngeren Generationen vietnamesischer Musiker*innen geschätzt. So wurden Blechblasinstrumente in das Repertoire vietnamesischer Musik eingeführt. Die Bläsergruppe von Beerdigungsorchestern besteht oft aus zehn Musiker*innen, die formelle Kleidung tragen, meist ein Anzug oder Hemd und Krawatte, die Schlagzeug, Trompeten, Saxophon, Posaune und weitere Instrumente spielen, wobei Streicher selten oder gar nicht Teil des Orchesters sind. Bei größeren Beerdigungen im Süden kann die Blaskapelle bis zu dreißig Musiker*innen umfassen, wobei die Trompete im Mittelpunkt des Arrangements steht und die übrigen Instrumente unterstützen. Dies unterscheidet sich deutlich vom „phường bát âm“ des Nordens, bei dem die Bläsergruppe ausschließlich aus kèn bầu besteht, das solo und in geringer Lautstärke im Hintergrund von Percussion und Streichern spielt.
 
Ein Auftritt von „Đội Kèn Tây“ bei einem Begräbnis in Kien Giang, einer südlichen Provinz des Mekong-Deltas

„Đội ‚kèn Tây‘“ spielen oft Melodien auf Wunsch, also die beliebtesten Lieder unter den Familien und Besucher*innen, wie auch die Lieblingslieder der Verstorbenen. Aufgrund des „gastfreundlichen“ Charakters der Region spiegelt die Trauermusik im Süden den Geschmack der Bevölkerung wieder, insbesondere die Genre lyrische von Volksmusik beeinflusste Liebeslieder, die üblicherweise „nhạc sến“ (wörtlich: kitschige Musik) genannt werden, kubanischer Bolero, oder „nhạc vàng“ (Vorkriegsmusik; wörtlich: goldene Musik). Die Namen dieser Genre werden oft synonym verwendet obwohl sie sich voneinander unterscheiden. Nichtsdestotrotz wurden sie alle im Saigon der 1950er Jahre unter jungen Menschen populär, als lateinamerikanische Musik wie und Tänze wie Rumba und Bolera Einzug in den Mainstream hielten. Sänger*innen und Musiker*innen nahmen vietnamesische Versionen der Texte zu den lebhaften Rhythmen von Rumba und Bolera auf, schrieben vor allem Songs über die Liebe zwischen Partner*innen oder in der Familie. Dieses musikalische Genre überlebte, da es den Geschmack der Hörerschaft im Süden traf, obwohl es nach 1975 aufgrund eines staatlichen Verbots in den Untergrund verdrängt wurde. Menschen hörten weiterhin gelegentlich „nhạc vàng“ und Bolero im Kreise der Familie oder bei Konzertserien vietnamesischer Diaspora-Gemeinschaften wie Paris by Night, aber für einige Jahrzehnte während des offiziellen Verbots, wurde diese Musik nur laut und öffentlich während des „kèn Tây“-Rituals bei Beerdigungen gespielt. Diesem Nachrichtenbeitrag zufolge hat das Ministerium für Kultur und Information sogar im Jahr 2000 ein Verbot ausgesprochen, dass Beerdingungskapellen davon abhalten sollte, „nhạc vàng!“ zu spielen – allerdings ist dieses Gesetz, wie auch andere Zensurgesetze, die Musik betreffen, nicht offiziell geregelt und die Durchsetzung ist in den Provinzen nicht einheitlich.
 
„Đội Kèn Tây“ spielt auf Wunsch der Gastgeber Revolutionslieder: „Hát Mãi Khúc Quân Hành“ (Gesang Lang Lebe die Armee Marsch) und „Đoàn Vệ Quốc Quân“ (Union der Nationalen Verteidigungsarmee). Während es in den meisten beliebten Begräbnisliedern um Familie und Mitgefühl geht, war der Verstorbene bei diesem Begräbnis vielleicht Mitglied der Armee, denn die gewünschten Lieder haben eine heroische Atmosphäre und einen rasanten Rhythmus.

In verschiedenen Regionen der Welt kann man viele Ähnlichkeiten zum Unterhaltungscharakter von Begräbnissen im Süden Vietnams mit „Đội Kèn Tây“ finden. Da wäre beispielsweise die afro-amerikanische Community in New Orleans, die Jazz-Begräbniszeremonien hat, wovon sich das Künstler*innenkollektiv The Propeller Group für seine Arbeit „The Living Need Light, The Dead Need Music“ (2014) inspirieren ließ, bei dem das Kollektiv vietnamesische und Schwarze US-amerikanische Musik Ritualmusik kombinierte. In Taiwan hat sich in den letzten zehn Jahren eine weibliche Blechbläserinnengruppe namens Xiu Juan Female Music Band eine internationale Fangemeinde aufgebaut. Die Gruppe besteht aus jungen Musikerinnen, die in kurzen Faltenröcken auftreten und deren Auftritte den unterhaltenden Paraden vietnamesischer Begräbnisse ähneln.
 
Die Xiu Juan Band führt Blasmusik und einen Marschtanz bei einer Beerdigung in Taiwan auf

Regionale Unterschiede gibt es in jedem Land, bei jedem Ritual und jeder Alltagshandlung. Wenn es um Unterhaltung geht, schauen sich Südvietnames*innen nur Komödien von Schauspielgruppen aus Saigon oder dem Mekong-Delta an, da Comedy aus dem Norden des Landes ihnen zu ernsthaft ist. Ebenso wenig schätzt das Publikum aus dem Norden des Landes Komödientheater aus dem Norden nicht, da es dort als zu oberflächlich erachtet wird. Aber es gibt ein vietnamesisches Sprichwort: „Respekt im Tod ist endgültiger Respekt“[2]: jede Form von Schmerz und irdischen Gefühlen wird im Tode abgeschüttelt. Das Begräbnis ist dementsprechend das letzte Kapitel eines Schicksals. Wir entscheiden nicht darüber, wie wir geboren werden, und wenn wir sterben, hängt alles von der Entscheidung der Familie für den letzten Song ab, der uns verabschieden wird. Familien erben Bräuche aus ihren Heimatorten und pflegen sie innerhalb ihrer eigenen Familiengeschichten. Trauermusik also ist wahrscheinlich am engsten mit einem bestimmten Ort und den eigenen Erinnerungen verbunden.
 

QUELLEN/EMPFOHLENE LEKTÜRE

Barley Norton. Songs for the Spirits – Music and Mediums in Modern Vietnam, e-book, University of Illinois, 2019.
Craig Duncan, Saigon, East of New Orleans: The Surprising Global Roots of Vietnam's Funeral Marching Bands, on Saigoneer
 
Đức Thịnh Ngô. Lên đồng, hành trình của thần linh và thân phận (Len dong, journeys of spirits, bodies, and destinies), Nhà xuất bản Trẻ, 2008.
 
Jason Gibbs, Rock Hà Nội và Rumba Cửu Long, übersetzt von Nguyễn Trương Quý, NXB Tri thức, 2008.
 
Jason Gibbs, Nhìn lại quá trình kiểm duyệt nhạc Việt qua năm tháng (auf Vietnamesisch). An overview of music censorship in Vietnam through the time, im BBC.
 
Ein Glossar vietnamesischer Volkslieder und traditioneller Instrumente (auf Vietnamesisch).
 

[1] „Sống dầu đèn, chết kèn trống“ nach dem Titel eines Kunstwerks von The Propeller Group aus dem Jahre 2014 übersetzt.
[2] »Nghĩa tử là nghĩa tận«