Eine Erzählung der Außenseiter

Musik und Politik anhand von Raja Kirik

Von Gunawan Maryanto, 2018-2020
Dies ist die Legende von Jaka Umbaran. Ich weiß nicht, ob das sein echter Name ist oder nur ein Spitzname. Schließlich bedeutet Jaka „junger Mann“ und Umbaran „den Willen zu haben, so viel zu reisen, wie einem beliebt“. Jaka Umbaran ist also der Name für einen jungen Mann, der nicht besonders weltgewandt ist und versucht, durch Reisen das Wesen der Welt und seine eigenen Fähigkeiten zu erkunden. Auf seinen Reisen jedenfalls traf er auf Kebo Marcuet, den Herrscher von Blambangan (1). Kebo Marcuet war ein angesehener Kampfkünstler, der sich um das Königreich Majapahit (2) verdient gemacht hatte und dem dafür eine Belohnung versprochen worden war. Um die Belohnung betrogen, lief er Amok und wütete im Königreich. Niemand konnte ihn besiegen. Sein Name, „Kebo Marcuet“, war wahrscheinlich auch ein Spitzname, mit dem sich über ihn lustig gemacht wurde. Kebo ist das Wort für „Wasserbüffel“ und eine Anspielung auf seine Dummheit, Marcuet wiederum bedeutet „enttäuscht“.

Die Königin von Majapahit, Sang Ratu Kencana Wungu, fühlte sich von Kebo Marcuet bedroht und ließ einen Wettbewerb abhalten: Derjenige, der ihn besiegen kann, würde sie heiraten und Adipati (Herzog) von Blambangan werden. Jaka Umbaran war einer derjenigen, die Kebo Marcuet herausforderten. Sie kämpften tagelang, bis Kebo Marcuet getötet und sein Leichnam in den Fluss Brantas geworfen wurde. Jaka Umabaran hatte gesiegt, war allerdings schwer vom Kampf gezeichnet. Sofort wurde er Adipati von Blambangan und bekam den Titel Menak Jingga: „Der Adlige mit dem roten Gesicht.“

Aber genau wie Kebo Marcuet verfiel bald auch Menak Jingga in blinde Wut, weil die Königin Kencana Wungu ihr Versprechen zurückzog. Sie wollte den durch den Kampf, bis zur Unkenntlichkeit entstellten Menak Jingga nicht länger heiraten. Auch Jingga begann Amok zu laufen und niemand in Majapahit konnte ihn besiegen. Und so wiederholte sich die Geschichte. Kencana Wungu hielt einen weiteren Wettbewerb ab.
 
Auszug von einem alten javanischen Manuskript, dem Brief von Damar Wulan. Er zeigt das Publikum von Menak Jingga (mit Fächer aus Pfauenfedern). Gegenüber von ihm sitzen Katbuta und Kotbuta, hinter ihnen auf einem Stuhl Pamengger (mit einem Mörser) und die Herzoge von Bali, Tunggarana, Pajarakan, Prabalingga, Waleri, Bandung und Cagangan. Bild im öffentlichen Bereich von World Digital Library (MSS.Jav.89).

 

Heimlich bewunderte ich Menak Jingga, obwohl er als Antagonist auftrat. Seine Geschichte endet tragisch, trotzdem war er mein Held, weil er einforderte, was ihm versprochen worden war. Erst später erfuhr ich, dass Jinggas Legende in den Mataram-Mythos aufgenommen worden war, um das Bild der Menschen von Blambangan zu zerstören.

Ich erinnere mich noch vage an diese Geschichte aus meiner Kindheit, in der ich mir regelmäßig Ketoprak-Aufführungen (3) anschaute. Heimlich bewunderte ich Menak Jingga, obwohl er als Antagonist auftrat. Seine Geschichte endet tragisch, trotzdem war er mein Held, weil er einforderte, was ihm versprochen worden war. Erst später erfuhr ich, dass Jinggas Legende in den Mataram-Mythos (4) aufgenommen worden war, um das Bild der Menschen von Blambangan zu zerstören. Kebo Marcuet und Menak Jingga, die ihre Hoffnungen auf Unmögliches gesetzt haben, stehen für Blambangan. Blambangan ist ein gieriger Hund, der nie zufrieden ist. Blambangan sind Menschen mit magischen Kräften, die grausam und furchtlos sind. Anstatt eine Niederlage zu erleiden, geschah diesen Leuten das Gegenteil.

Blambangan ist eine wohlhabende Region, die fortlaufend umkämpft war. Das Königreich Majapahit kämpfte gegen die Königreiche Balis, um Blambanganzu erobern. Das Königreich Mataram und die VOC (Vereenigde Oostindische Compagnie, die Niederländische Ostindien-Kompanie) versuchten ebenfalls, die Kontrolle über das Reich zu gewinnen. Aber Blambangan wurde nie erobert, auch wenn es schwere Verluste erlitt – genau wie Menak Jingga.


Eine Ketoprak-Damar-Wulan-Aufführung, die die Geschichte von Menak Jingga nacherzählt

Der in Banyuwangi geborene Künstler Yennu Ariendra hat in den vergangenen Jahren damit begonnen, sich mit verschiedenen Aspekten der Geschichte und Kultur dieser Region zu beschäftigen. Wann genau seine Erforschung dieser Traditionen und Musik anfing, weiß ich nicht. Meine persönliche Auseinandersetzung mit der Region – und die des in Yogyakarta beheimateten Performance-Kollektivs Teater Garasi – begann 2002, als wir in dem Dorf Desa Kemiren an dem Theaterstück Waktu Batu (Stein Zeit) arbeiteten. Dort lernte ich viel von einem Treffen mit Gandrung Temu, einer Meisterin des Gangdrung Banyuwangi. Der Gandrung ist nicht nur ein traditioneller Volkstanz, sondern für die Osing, die indigene Bevölkerung Banyuwangis, auch ein wichtiger Teil ihrer Identität. Gandrung Lanang, der Beginn des Gandrung, wurde von Mas Alit, dem ersten Bupati (Regenten) von Banyuwangi, initiiert, um die Menschen von Blambangan zusammenzubringen, die sich nach dem Krieg verstreut hatten. Als Kunstform entwickelt sich Gandrung bis heute. Nach dem Gandrung Langang kam der Gandrung Marsan, der wiederum von der ersten Generation Gandrung-Tänzerinnen abgelöst wurde, bekannt als Gandrung Semi.


Gandrung-Tanz aufgeführt vom Osing Volkstheater in Banyuwangi

Da wir beide Residenzkünstler am Teater Garasi sind, weiß ich, dass Yennu damit begann, die Traditionen und Kunstpraktiken von Banyuwangi zu erkunden, als wir mit der Arbeit an dem Theaterstück Yang Fana adalah Waktu. Ita Badai (2015) (Zeit ist vergänglich. Wir sind ewig) anfingen. Zu dieser Zeit erforschte Yennu die von Gewalt geprägte Vergangenheit der Region auf Grundlage der Erfahrungen seiner Familie. Er begann damit, diese Geschichte auch anhand der Lieder zurückzuverfolgen, die üblicherweise bei Gandrung-Vorführungen und von Kendang-Kempul-Ensembles (5) gesungen werden. Seine Ergebnisse wurden zwischen 2016 und 2017 für das Musiktheater-Stück Menara Ingatan (Turm der Erinnerungen) adaptiert und verfeinert.
 
Eine Aufführung von Yennu Ariendras Theaterstück Menara Ingatan in Jakarta.

„Ich begann mit dem kreativen Prozess an Menara Ingatan, als ich an meinen Großvater dachte, der der Tragödie von 1965 (6) zum Opfer gefallen war. Wenn ich mich nicht irre, wurde er 1968 von der Armee abgeholt und kehrte nie wieder nach Hause zurück. Einer seiner Geschäftsrivalen hatte das Gerücht verbreitet, dass er Mitglied der kommunistischen Partei Indonesiens sei, der Partai Komunis Indonesia. Diese Erinnerung brachte mich dazu, über weitere dunkle Geschichten aus der Region nachzudenken, in der ich geboren worden war: Banyuwangi. Dazu gehören auch die sogenannten Petrus, die ‚mysteriösen Morde‘ der 1980er, und die Ermordung von Schamanen in der Ninja-Panik der späten 1990er.

Als ich begann, diese Themen zu arrangieren und adaptieren, begegnete ich ein weiteres Mal dem Gandrug. Es ist eine Kunstform, die mich seit Langem interessiert. Das führte dazu, dass ich mich mit der Geschichte von Blambangans Widerstand auseinandersetzte, das sich im 14. Jahrhundert geweigert hatte, sich den Königreichen Majapahit, Bali und Mataram zu unterwerfen, wie auch später der Niederländischen VOC. Ich las, wie die Osing, die in einem ‚Perang Puputan‘ (Kampf bis auf den Tod) gegen die Niederländer und die Königreiche von Mataram 80% ihres Volkes verloren. Die Osing sind Menschen, die die Obrigkeit derjenigen ablehnen, die sie erobern wollen“, sagte Yennu während einer Aufführung seines Stückes.

In Menara Ingatan übernimmt Yennu die Struktur einer Gandrung-Aufführung, um die von Gewalt geprägte Vergangenheit Banyuwangis von der Majapahit-Zeit bis heute zu erzählen. Für Yennu ist Gandrung Banyuwangi eine kulturelle Taktik – es heißt, Gandrung sei in Zeiten des Widerstands auch zur Kommunikation eingesetzt worden. Und Yennu belässt es nicht dabei. Zusammen mit dem Künstler J Mo’ong Santoso Pribadi behandelt und bewertet er Banyuwangi neu, in Form des von ihm geschaffenen Projektes Raja Kirik. Im Kontrast zu Yennus Stück Menara Ingatan, mit dem er Banyuwangi und seine lange Geschichte vorstellt, bezieht sich Raja Kirik lediglich auf die Jaranan-Buto-Aufführung und die Figur Menak Jingga. Wo die Kompositionen von Menara Ingatan eine lange musikalische Reise in Form des Gandrung Banyuwangi darstellen, ist Raja Kirik der wortlose Monolog Menak Jinggas im Stil des Jaranan Buto.


Jaranan-Buto-Aufführung in Banyuwangi.

Jaranan Buto ist eine Form des Kuda-Lumping-Tanzes (7) (auch bekannt als Jathilan), den man überall auf Java findet. In Zentral- und Ostjava ähnelt der Kopf, den die Tänzer*innen bei der Darbietung vor sich hertragen, dem eines Pferdes (Kuda), in anderen Regionen eher dem eines Wildschweins (Celeng). Beim Jaranan Buto ist es der Kopf eines Riesen. Die Darstellung des Riesen (Buto) findet sich nur im Barongan (8) und nicht im Kuda Lumping, und nimmt dort eine zentrale Rolle ein. Die Jaranan-Buto-Tänzer tragen Kostüme, die zu dem Riesen passen, den sie reiten. Jaranan Buto scheint ein Hybrid aus den Kunstformen Barong Bali, Jaranan Senterewe und Reog Ponorogo zu sein, die ausdrucksvolle Gesten, viel Energie und Intensität beinhaltet. Mir selbst ist nicht klar, wann ein Tänzer noch Herr seiner Sinne oder in Trance ist, da die Musik von Anfang an laut und schnell ist und die Tänzer schon beim Betreten der Arena wild sind.

Jaranan Buto wurde 1963 von Setro Asnawi in Banyuwangi eingeführt, einem Newcomer aus dem Bezirk Trenggalek in Ostjava. Er wird bis heute praktiziert. Im Kontrast zu anderen Kuda-Lumping-Tänzen, die sich an den Erzählungen des Cerita-Panji-Kanons, den Panji-Geschichten, speisen – klassischen javanischen Erzählungen wie der Liebesgeschichte von Prinz Panji Asmarabangun und seiner geliebten Dewi Sekartaji – bezieht sich Jaranan Buto auf die Geschichte von Menak Jingga.

Jaranan Buto tauchte zuerst im Dorf Cemetuk auf, wo viele Mataram-Javaner*innen Seite an Seite mit den Osing lebten. Dementsprechend ist Jaranan Buto eine Mischung aus Jathilan-Mataram und Osing-Banyuwangi-Traditionen. Als Halbinsel und Hafen ist Banyuwangi schon lange ein Treffpunkt vieler verschiedener Kulturen. Die Mischung der Kulturformen von Mataram und Banyuwangi hat sich auch in anderen Kunstpraktiken jenseits von Musik und Tanz vollzogen. Der Austausch zwischen den Kulturen Maduras und Balis hat ebenfalls Kunstformen hervorgebracht, die es so nur in Banyuwangi gibt.
 

Über die Osing

Die Osing (manchmal auch Using geschrieben) sind durch eine lange Geschichte voller Gewalt geprägt. Die großen Königreiche Java, Bali und Madura hatten es alle auf ihr Gebiet abgesehen. Die niederländische Kolonialregierung versuchte, es durch die VOC zu kontrollieren. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Kultur der Osing zu einer Strategie des Widerstands gegen Bedrohung und Unterdrückung. Banyuwangi ist ein strategischer Ort für Handelsverbindungen mit dem östlichen Nusantara (9) und verfügt dazu über fruchtbaren Boden. Die Osing interpretieren, absorbieren und imitieren in ihrem Überlebenskampf andere Kulturen, um die eigene zu stärken. Vermischte Kulturformen bringen neue Hybride hervor, die sich bis heute weiterentwickeln.

Das Wort Osing bedeutet „nein“ („tidak“ auf Indonesisch) und ist Ausdruck ihrer Abgrenzung von anderen javanischen Gesellschaften. Der niederländische Gelehrte C. Lekkerkerker legte dar, dass die Osing von heute Nachkommen der indigenen Bevölkerung Banyuwangis sind, die die Kriege der niederländischen Kolonialzeit überlebt haben. Nach dem Perang Bayu, einem Widerstandskrieg gegen die Niederländer in den 1770er Jahren, der Blambangan dem Erdboden gleich machte, machten die Osing eine lange Leidenszeit durch. Sie wurden zu Marginalisierten auf ihrem eigenen Land. Die Behauptung einer Osing-Identität sollte Solidarität untereinander herstellen, indem man sich von den Balines*innen, Mataram-Javaner*innen, Madures*innen und Niederländer*innen abgrenzte, die sie zuvor angegriffen hatten (siehe Scholte 1927: 146). Der Charakter, die Sprache und die Traditionen der Osing unterscheiden sich stark von anderen Kulturen Javas. Zum Beispiel ist Kawin Lari, das Durchbrennen eines Paares zur heimlichen Heirat, immer noch Teil ihrer Tradition. Sie sind bekannt für ihre Integrität, Ehrlichkeit, Sturheit und ihr Widerstreben, als Hausangestellte für Europäer*innen zu arbeiten (Lekkerkerker 2005: 78).
 

Das Wort Osing bedeutet „nein“ („tidak“ auf Indonesisch) und ist Ausdruck ihrer Abgrenzung von anderen javanischen Gesellschaften.

Die Blambangan-Region hat eine tragische Geschichte. Ihre Bevölkerung wurde mit der Zeit durch die ständigen Angriffe von überlegenen Mächten dezimiert – wie dem Königreich Mataram, den Balinesen, den Bugis, den Makassar sowie den Chinesen und schließlich der niederländische VOC. Der Geist der Menschen von Blambangan jedoch blieb bestehen. Bis heute halten ihre Nachkommen an den Traditionen fest, während sie gleichzeitig neue und andere Kulturen akzeptieren.

Aufgrund der Inschrift des Watu Gong Rambipuji Steins in Jember lässt sich davon ausgehen, dass bereits 788 eine Zivilisation in Blambangan existierte. Einige Forscher*innen führen diese Zivilisation sogar bis auf die Steininschrift von Eka Janmi Nirrupi in Pakauman im Regierungsbezirk Bondowoso zurück, die auf das Jahr 89 datiert ist. Das Zentrum der Blambangan-Regierung verlagerte sich an mindestens sechs verschiedene Orte. Von (1) Bondowoso, in den prähistorischen und altertümlichen Epochen Blambangans, zu (2) Jember, in der altertümlichen Epoche Blambangans und der Post-Majapahit-Periode; (3) Lumajang, während der östlichen Majapahit-Epoche; (4) Süd-Malang, während der Post-Majapahit-Periode; (5) Situbondo während der Dänischen und Niederländischen Ostindien-Kompanie-Periode und (6) Banyuwangi in der Mataram-Epoche und im unabhängigen Indonesien.
 
Watu Gong Rambipuji Inschrift in Jember, Ostjava. Foto: Bayu / Desa Rambipuji

Diese Zusammenfassung dient als Einstieg für Yennu Ariendras und J Mo’ong Santos Pribadis Dunia Raja Kirik (Die Welt von Raja Kirik). Auch nach der Unabhängigkeit Indonesiens erlebten die Osing weiter Gewalt, zum Beispiel während der „Blutflut“ 1995 und den sogenannten Ninja-Morden an den der Dukun Santet (Schamanen) kurz vor dem Sturz des Suharto-Regimes 1998.
 

Raja Kirik: das Album




Das nach ihrem Projekt benannte Album Raja Kirik ist Teil des größeren Kunstprojekts Image of the Giant (War on Narratives). In diesem Projekt arbeitet Yennu Ariendra mit J Mo’ong Santoso Pribadi zusammen und setzt sich weiter mit der von Gewalt geprägten Vergangenheit der Region auseinander, die bereits Thema seiner früheren Arbeit Menara Ingatan war. Als Ausgangspunkt dient beiden Künstlern der Jaranan-Buto-Tanz und die Geschichte von Menak Jingga. Darüber hinaus studierten sie den Gedruk Merapi aus Klaten und den Jathilan aus Bantul, Yogyakarta und Purworejo.

Viele Expert*innen sehen in der Kavallerieausbildung die Ursprungsquelle des Jathilan. Viele Variationen entstanden in Anlehnung an die regionalen Unterschiede der Kavallerien. Jathilan-Erzählungen sind von regionalen Volksmärchen beeinflusst. Nichtsdestotrotz bewegen sie sich alle hin zu der gleichen Auflösung: Chaos und Wahnsinn.

Yennus musikalischer Hintergrund hinsichtlich Banyuwangi und dessen Geschichte ist inzwischen klar. Aber wie ist sein Kollaborateur, Mo’ong, in das Reich des Raja Kirik gelangt? Mo’ong wurde in Bangkok geboren und wuchs in Zentraljava auf. Er kommt also zu Raja Kirik mit einer anderen Perspektive. Während sich Yennu am Jaranan Buto orientiert, ist Mo’ongs Ausgangspunkt seine Recherche zum Jathilan, welcher in Zentraljava und Yogyakarta stark ausgeprägt ist.

Jathilan ist wie Jaranan Buto eine populäre Kunstform. Sie ist nicht im Kraton (dem Königspalast) oder einer Institution entstanden, sondern entstammt eher den Rändern der Gesellschaft und ist eine unvollkommene Imitation der feinen javanischen Kraton-Künste. Wie auch Jaranan Buto ist Jathilan ein Tanz, der das Reiten von Pferden zeigt. Beide Tanzformen sind einer Imitation der Kavallerieausbildung entsprungen und erinnern an Reihen von muskulösen Soldaten, die auf Pferden reiten. Viele Expert*innen sehen in der Kavallerieausbildung die Ursprungsquelle des Jathilan. Viele Variationen entstanden in Anlehnung an die regionalen Unterschiede der Kavallerien. Jathilan-Erzählungen sind von regionalen Volksmärchen beeinflusst. Nichtsdestotrotz bewegen sie sich alle hin zu der gleichen Auflösung: Chaos und Wahnsinn.
 

Für einige Javaner*innen ist „ndadi”, oder „in Trance sein“, der Versuch, in einen Dialog mit den Vorfahren oder der Vergangenheit zu treten. Die Vorfahren werden einmal mehr durch die Körper der Tanzenden gegenwärtig.



Chaos und Wahnsinn, welche auf Javanisch „ndadi” heißen, „zu werden“, sind der Höhepunkt des Auftritts. Die Tanzenden, die in einen Trancezustand verfallen, sind die Hauptattraktion des Jathilan. Für einige Javaner*innen ist „ndadi”, oder „in Trance sein“, der Versuch, in einen Dialog mit den Vorfahren oder der Vergangenheit zu treten. Die Vorfahren werden einmal mehr durch die Körper der Tanzenden gegenwärtig. Dieses ist bekannt als Manjin


Gedruk Merapi

Neben dem Jathilan ist Mo’ong auch von der Kunst des Gedruk Merapi beeinflusst. Gedruk, oder Stampfen, ist eine Form des Volkstanzes, die in jüngerer Zeit in Dörfern am Fuß des Merapi in Zentraljava beliebt geworden ist. Es ist eine Mischung aus diversen Volkstänzen, ikonischen modernen Figuren und kulturellen Einflüssen aus aller Welt. Die Darsteller*innen tragen zum Beispiel Kostüme im Stil der indigenen Bevölkerung Nordamerikas. Es herrscht eine gewisse Beliebigkeit – sei sie beabsichtigt oder nicht –, die den Tanz zu einer sehr interessanten neuen Kunstform macht. Gedruk erfüllt wie Jathilan und Jaranan Buto die Funktion, gute Laune zu verbreiten und die kulturelle Identität zu stärken. Mo’ongs Ausgangspunkt ähnelt in seiner Motivation Yennu Ariendras Interesse an Jaranan Buto. Aus all dem ist Raja Kirik entstanden.

Durch das Fehlen von Texten können die Hörer*innen Raja Kirik als Musik oder Klang wertschätzen. Ohne dass explizit die gewalttätige Vergangenheit von Banyuwangi lyrisch wiedergegeben wurde, war ich von der grausamen Atmosphäre und den brutalen Farben eingenommen, ohne die Geschichte oder Traditionen der Region verstehen zu müssen.


Raja Kiriks gleichnamiges Album besteht aus sechs Kompositionen: „O Sing (The Nay Sayer)“, „Alas Tyang Pinggir (The Outcast Forest)“, „Buto Abang (Red Giant)”, „Raja Kirik (Dog King)”, „Bang Bang Wetan (Dawn)“ und „Jaran-Jaran Ucul (Running Horses)”. Mo’ong verwendet einige seiner selbstgebauten Instrumente, während Yennu verschiedene Musiktraditionen vermischt. Raja Kirik fühlt sich an, als wäre es einen Schritt weiter als Menara Ingatan oder zumindest eine andere Version.  Durch das Fehlen von Texten können die Hörer*innen Raja Kirik als Musik oder Klang wertschätzen. Ohne dass explizit die gewalttätige Vergangenheit von Banyuwangi lyrisch wiedergegeben wurde, war ich von der grausamen Atmosphäre und den brutalen Farben eingenommen, ohne die Geschichte oder Traditionen der Region verstehen zu müssen.


Raja Kirik bei einem Auftritt beim Nusasonic Yogyakarta, 2018

Der erste Song, „O Sing“, ein Wortspiel von „Osing“, führt die Hörer*innen in die Welt des Kriegs und des Militärs ein, die Jaranan darstellt. Metallische Klänge überwiegen, als würden sie Soldaten in eine Arena geleiten. „Sabet” stellt einen wichtigen Teil der Jaranan-Auftritte dar. Die Tänzer*innen betreten dazu die Arena und tanzen in Formation, um die Hauptfiguren vorzustellen. „O Sing“ erfüllt die gleiche Funktion.

Für mich kann Raja Kirik jede und jeder sein: jene, die marginalisiert, nicht beachtet oder verleugnet werden.

Durch einen stetigen Rhythmus führen Yennu und Mo’ong langsam und geduldig in die Welt des Raja Kirik ein. Die Wut des Buto (Riesen) taucht im zweiten Song mit dem Namen „Alas Tyang Pinggir“ auf. Während dieses Stücks hatte ich den verwunschenen Wald von Alas Purwo in Banyuwangi vor Augen. In eben diesem Wald versteckten sich die Soldaten Blambagans während der Angriffe unter der Führung von Mas Rangsang, der später den Thron von Mataram besteigen und als Sultan Agung bekannt werden sollte. Die folgenden Lieder führen uns weiter in die Welten von Buto und Menak Jingga: Verzweiflung, Wut und Einsamkeit. Jedoch ist der monotone Rhythmus des Jaranan nicht in jeder Komposition präsent. Während des Höhepunkts, zudem der Jaranan Buto in Trance (ndadi) sein und Amok laufen sollte, gehen Yennu und Mo’ong stattdessen weiter auf die Ursprünge von Menak Jinggas Sorgen ein: seine Verzweiflung und Einsamkeit.

Ich möchte diesen Essay nicht mit einer Interpretation von Raja Kirik schließen. Für mich kann Raja Kirik jede und jeder sein: jene, die marginalisiert, nicht beachtet oder verleugnet werden.  


(1) Das Gebiet des Königreichs Blambangan ist heute als Distrikt Banyuwangi bekannt. Die gleichnamige Hauptstadt ist eine wichtige Hafenstadt an der Bali-Straße, eine Meeresenge zwischen Bali und dem östlichen Teil Javas. Banyuwangi befindet sich etwa 200 Kilometer südöstlich von Surabaya, der Hauptstadt Ostjavas.

(2) Das Königreich Majapahit existierte von 1293 bis etwa 1517.

(3) Ketoprak ist eine Form des javanischen Theaters.

(4) Mataram war vom späten 16. bis ins 18. Jahrhundert ein großes Königreich auf Java, bis die Niederlande die Herrschaft über Indonesien übernahmen. Ursprünglich war Mataram ein Vasall des Königreichs Pajang, wurde aber unter Senapati (später bekannt als Adiwijoyo) sehr mächtig. Senapati besiegte Pajang und wurde König von Mataram. Sein Versuch, Ost- und Zentraljava zu vereinen, war wenig erfolgreich. (Encyclopædia Britannica, abgerufen am 1. Januar 2015.)

(5) Kendang Kempul ist ethnische Musik aus Banyuwangi. Sie entwickelte sich in den 1920er Jahren mit der Begleitmusik zum Gandrung-Tanz.

(6)  Das Massaker von 1965-66 wurde durch die Ermordung von sechs Generälen und weiteren Offizieren in der Nacht vom 30. September 1965 und den frühen Morgenstunden des 1. Oktobers ausgelöst. General Suharto beschuldigte die Kommunistische Partei Indonesiens, besser bekannt als PKI. Unterstützt von muslimischen Organisationen und Paramilitärs führte die indonesische Armee eine massive Hetzjagd gegen Mitglieder*innen und Sympathisant*innen der PKI, vermeintliche Kommunist*innen und Linke sowie chinesisch stämmige Menschen an. Außerhalb von Jakarta ging die Entführung und Ermordung von vermeintlichen Kommunist*innen an vielen Orten Indonesiens noch Jahre weiter, auch in Banyuwangi.

(7) Javanische Trance-Tänze haben je nach Region unterschiedliche Namen. Zu den gängigsten Namen gehören Jathilan, Kuda Kepang und Kuda Lumping in Zentraljava und Jaranan in Ostjava. Beide Wörter – „Jaran“ auf Javanisch und „Kuda“ auf Indonesisch – bedeuten Pferd und beziehen sich auf die Steckenpferde (in der Regel aus geflochtenem Bambus gefertigt), die ein zentraler Teil der Aufführung sind. Kuda Lumping wird auf traditionellen Dorffesten zu Übergangsphasen wie Geburt, Beschneidung, Heirat, Hauseinweihung und Tod aufgeführt. Die Tanzenden reiten auf Bambuspferden und kämpfen miteinander, einige erreichen besessen vom Geist der Pferde einen Trancezustand.

(8) Barong ist eine Figur der balinesischen Mythologie. Auf Java wird sie Barongan genannt. Barong/Barongan ist der König der guten Geister und ein Symbol des Guten. Der Name Barong lässt sich vom Wort „Bahruang“ herleiten, das übersetzt „Bär“ bedeutet – ein mythologisches Tier, das magische Kräfte hat und als Beschützer gilt.

(9) Nusantara ist der indonesische/malaiische Name für die Südostasiatische See (oder Teile davon). Es ist ein altjavanischer Begriff, der wörtlich übersetzt „äußere Inseln“ bedeutet. In Indonesien ist damit vor allem der indonesische Archipel gemeint, in Malaysia der malaiische Archipel. 1920 schlug Ernest Francois Eugene Douwes Dekker (1879-1950), auch bekannt als Setiabudi, Nusantara als Namen für das unabhängige Indonesien vor, der keine etymologisch mit dem Namen Indiens oder den indischen Inseln verwandte Wörter enthielt. Es war das erste Mal, dass der Begriff Nusantara auftauchte, nachdem er im Pararaton Manuskript erwähnt worden war (Wikipedia).


 

Bibliografie

Ali, Hasan. 2003. „Kata dan Predikat Using” (Die Worte und Eigenschaften des Using) in Majalah Budaya Jejak, No. 3.

Anoegrajekti, Novi. Dkk. 2016. „Kesenian Using: Konstruksi, Identitas dan Pengembangannya” (Using Künste: Ihre Konstruktion, Identität und Entwicklung) Yogyakarta: Penerbit Ombak

Anoegrajekti, Novi. 2001. „Kesenian Using: Resistensi Budaya Komunitas Pinggir.” (Using Künste: Der kulturelle Widerstand einer marginalisierten Gemeinschaft) in Kebijakan Kebudayaan di Masa Orde Baru. Jakarta: PMB-LIPI

Lekkerkerker, C. 2005. „Sejarah Blambangan.” (Eine Geschichte von Blambangan) (edited by Pitoyo Boedhy Setiawan, 1991), wiederveröffentlicht in Majalah Budaya Jejak, No. 07.