Libyen

Mai 2020

Corona-Spezial  5 min Krieg, Corona und Familiengewalt

Zwei Bilder: Das Foto links zeigt zwei Personen, die mit dem Rücken zur Kamera vor einem leeren Schreibtisch mit Stuhl stehen. Die Person rechts trägt ein braunes Gewand und Handschellen. Das Bild rechts zeigt ein Mädchen, das in die Kamera blickt.
Von rechts nach links: Das Opfer, Baraa 'Imran, 10 Jahre alt. Die mutmaßlichen Mörder, ihre Eltern. ©نسويات ليبيا (Twitter)

Ausgangssperren und andere Beschränkungen des täglichen Lebens, wie sie in fast allen Ländern der Welt zur Bekämpfung der Corona-Pandemie erlassen worden sind, haben in Libyen die Fälle häuslicher Gewalt auf ein nie zuvor erreichtes Maß gesteigert. Missbrauch, Schläge und andere Strafen durch Familienangehörige sind bei vielen Frauen nun an der Tagesordnung und kosten manchmal auch ihr Leben.

Mit einem neuen Maßnahmenpaket will die libysche Regierung die Ausbreitung des Coronavirus im Land stoppen. Tatsächlich hat dem von Konflikten und Bürgerkriegen geplagten Land ein tödliches Virus zur Eskalation gerade noch gefehlt. Die Maßnahmen beinhalten auch eine bedingte 24-Stunden-Ausgangssperre an zehn aufeinander folgenden Tagen, was zu einer Panik auf den Straßen und in den Märkten geführt hat. Die Menschen waren wie besessen von der Angst, wichtige Dinge wie Nahrungsmittel und Medikamenten würden ausgehen. Diese Besessenheit zog bald auch in die Häuser ein und begann das Leben libyscher Familien in dieser schweren Zeit zu bestimmen.

Drei Morde in nur einer Woche!

Im März verloren gleich drei Frauen aus verschiedenen Teilen Libyens ihr Leben, ermordet von ihren Ehemännern bzw. im dritten Fall vom Vater und dessen Frau. Diese Verbrechen geschahen vor dem Hintergrund von Sitten und Traditionen, die der Frau egal welchen Alters und welcher Gesellschaftsschicht ihr Recht auf Selbstbestimmung verwehren und ihr ihr Leben vorschreiben wollen.

Das erste Opfer, Hadiya Abdel Malik al-Darsy (38 Jahre), Mutter dreier Kinder und in Erwartung ihres vierten Kindes, wurde in ihrem Haus im Dorf Zawiyat al Urqub von ihrem Ehemann umgebracht, ohne dass bis heute der Grund dafür bekannt ist. Familie und Verwandte des Mannes versuchten seine Tat mit der Behauptung, er sei besessen, zu entschuldigen. Jemand habe ihn mit einem Zauber belegt und eine unsichtbare Kraft habe ihn zum Mord getrieben. Als Geisteskranker sei er nicht für sein Handeln verantwortlich. So konnten sie ihn vor Rechenschaft und Strafe bewahren.

Das zweite Opfer war Aya al-Fitory (24 Jahre), deren Ehe erst vier Monate alt war. Doch vier Monate waren lang genug, um die junge Frau ununterbrochen zu schlagen und nötigen, bis die Kugel einer Kalaschnikow sie nach einem eskalierenden Streit in die Brust traf. Dieser Vorfall ereignete sich im Stadtteil Al-Serraj von Tripolis. Der Mann bestritt die Tat und behauptete, sie habe Selbstmord begangen. Doch das konnte von der Gerichtsmedizin widerlegt werden. In deren Bericht hieß es, das Opfer sei zuvor längere Zeit Schlägen und Misshandlungen ausgesetzt gewesen und die Hauptschuld an ihrem Tod trage der Ehemann. Bis heute laufen die Untersuchungen in diesem Fall.

Baraa Umran aus der Mesallata war wiederum erst zehn Jahre alt, als ihr 35-jähriger Vater so unterbitterlich auf sie einschlug, dass sie an den Folgen starb. Doch nicht nur das: Zuvor war das Mädchen schutzlos und ohne Wasser und Nahrung ausgesperrt worden, bis ihr schwacher Körper Hunger und Qual nicht mehr ertragen konnte. Die Sicherheitsdirektion der Stadt arbeite mit den Ermittlern zusammen, um die Schuld des Vaters nachzuweisen. Dieser behauptete, das Kind sei aus der Höhe gestürzt. Die Ermittlungen zeigten jedoch, dass das Mädchen zuvor allen Arten der Folter und Gewalt vonseiten ihres Vaters und dessen Frau ausgesetzt worden war. Zudem gab die Frau im Laufe der Ermittlungen zu, die Tat gemeinsam mit dem Vater begangen zu haben.

Die Frauen Libyens leben unter Bedingungen, die kaum mit dem Leben anderer zu vergleichen sind. Neben den Geißeln des Krieges und der gesundheitlichen Gefahr, die vom Coronavirus ausgeht, führen sie einen tagtäglichen stillen Kampf hinter verschlossenen Türen, über den niemand sprechen will und dessen schmerzliche Auswirkungen die Menschen lieber ignorieren. Die Corona-Pandemie hat die Anzahl der Fälle von häusliche Missbrauch und Mord durch Ehepartner und andere Familienangehörige in Libyen deutlich ansteigen lassen; doch muss man nicht weit in die Vergangenheit schauen, um zu sehen, dass das Problem auch vorher bestand.

Letztes Jahr wurde die 19-jährige Farah al-Khader von ihrem Ehemann und dessen Freund getötet. Die junge Frau hatte verlangt, nach Jahren endlich ihre Familie wiedersehen zu dürfen, Anlass war die Hochzeit ihres Bruders, nachdem ihr das jahrelang aufgrund von Streitigkeiten zwischen dem Ehepartner und ihrer Familie verwehrt geblieben war. Es kam zu einem heftigen Streit zwischen den beiden, in dessen Folge der Mann die Tat beging. Auch zu Beginn dieses Jahres kam es zu einem Vorfall in der Stadt Adschdabiya, bei dem Musawwira al-Saeity von ihrem Mann totgeprügelt wurde. Diese Verbrechen sind in urbanen wie auch ländlichen Gegenden in Libyen weit verbreitet und doch gibt es wenige Bemühungen von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, ihnen Einhalt zu gebieten. Viel schlimmer noch werden sie meist verschwiegen und ignoriert oder es fertigen unlogische Rechtfertigungen und Motivationen vorgelegt, wieso es zur Tat kommen konnte.

Dieses Desinteresse spiegelt sich schon auf administrativer Ebene wider: Auf eine Anfrage an das Ministerium für Soziales in Tripolis wurde lediglich erwidert, es gäbe keine Statistiken für häusliche Gewalt, die man teilen könne. Auch vom Büro für die Annahme von Beschwerden innerhalb des Ministeriums waren keine Daten zu bekommen, nicht einmal für das letzte Jahr.

In keinem der bisher genannten Fälle ist bis zum heutigen Tag ein endgültiges Urteil gefallen. Stattdessen werden Familien der Opfer beschwichtigt und angeregt, dem Täter zu vergeben, falle seine Tat doch unter al-Qidaa wal-Qadar – der Vorherbestimmung. Die Täter werden als Besessene und Verrückte dargestellt oder als Soldaten und Verteidiger der Ehre ihrer Frauen. Auch die Medien und sogar gesellschaftliche Einflussträger verschließen ihre Augen vor diesen Verbrechen und bekennen sich so indirekt als ihre Unterstützer.

Kein Weg zurück

In einem hastigen Telefonat sprach ich mit Nadiya Othman (40 Jahre), Hausfrau und Mutter einer Tochter, die mit ihrem gewalttätigen Mann weiterhin unter einem Dach lebt. In den paar Minuten, die sie für mich Zeit fand, fasste sie ihre Situation in gehetzten, aber deutlichen Worten zusammen. Ihr fehlten die finanziellen Mittel und der gesellschaftliche Einfluss, um sich scheiden zu lassen und ein unabhängiges Leben zu führen, sagt sie. Er würde der Scheidung und damit ihrer Freiheit mit allen Rechten eh nicht zustimmen. Es würde ihr nach der Trennung also sehr schwerfallen, im Leben Fuß fassen. Dann bringt sie andere Rechtfertigungen vor, wie seine Geduld, als sie lange Zeit keine Kinder gebar. Und sie dankt Gott, dass er deshalb keine andere Frau geheiratet hat. Nadiya fragt: „Welche Familie würde es denn gutheißen, wenn ihre geschiedene Tochter mitsamt der eigenen Jugendlichen zurückkehren und für sie zur doppelten Belastung würde?“ Schließlich will Nadiya das Gespräch, das sie vom Dach ihres Hauses aus führt, schnell zu Ende zu bringen. Sie sagt: „Er hat mich früher weniger geschlagen und tyrannisiert als jetzt. Er arbeitete als Techniker acht Stunden pro Tag und war erschöpft. Aber jetzt wacht er auf, fasst mich an und genießt es geradezu mir körperlich und seelisch wehzutun, als wäre ich der Grund, warum sie die solche Sachen wie Isolation und Ausgehverbot beschlossen haben“. Damit beendet sie das Gespräch.

Viele Frauen fühlen wie Nadiya und glauben, dass die Rückkehr zu ihrem alten Leben vor der Heirat schwer, wenn nicht gar unmöglich ist, denn Gesetz und Gesellschaft stehen nicht auf ihrer Seite. Auf der Plattform der Tanweer-Bewegung schreibt Aktivistin und Rechtsberaterin Khadija Al-Bouaishi: „Libyen bietet Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, keine Zufluchtsorte oder Frauenhäuser, in denen sie nicht nur vor Angriffen geschützt, sondern gar nicht erst gefunden werden können. Dieser Umstand trägt zur Verschärfung der Gewalt gegen Frauen bei und so reicht die vonseiten zivilgesellschaftlicher Organisationen angebotene psychologische und soziale Betreuung nicht mehr aus. Die Situation ist jetzt, da häusliche Isolation und Ausgangssperren vorgeschrieben sind, noch ernster, da sich Frauen rund um die Uhr unter einem Dach mit den Tätern ihres Missbrauchs befinden.“

Deshalb setzt sich Khadija Al-Bouaishi die Etablierung einen Ministerien übergreifenden Hilfsmechanismus für die Frauen ein. Ihre Unterstützung dürfe nicht mit der Annahme von Beschwerden über Hotlines oder durch die Frauenpolizei enden. Stattdessen müssten in Zusammenarbeit der Ministerien für Inneres, Soziales und Arbeit gewährleistet werden, dass Frauenhäuser, Arbeitsplätze sowie umfassender psychologischer und gesellschaftlicher Beistand zur Verfügung gestellt werden bis die Frauen auf eigenen Beinen stehen und sich völlig frei und unabhängig in die Gesellschaft einbringen können..

Kreislauf der Gewalt

In diesem Zusammenhang spricht Madiha Al-Naas, Professorin für Geschlechterforschung an der Universität von Exeter, Großbritannien, über die derzeitigen Ursachen für häusliche Gewalt. Millionen von Menschen seien im Moment gezwungen jeden Tag von morgens bis abends zuhause zu bleiben. Wenn der misshandelnde Ehemann so viel Zeit mit seinem Opfer verbringt, käme es zu einer Erhöhung von Provokation und Streitigkeiten, in dessen Folge der Misshandelnde ständig einen so genannten „Punching Bag“ sucht, um seiner Wut und Gefühl der Einengung ein Ventil zu verschaffen. Diese Energie hätte er normalerweise bei seiner Arbeit draußen verbraucht.
 
Sie sagt weiter: „Zu den Gründen für die erhöhte Gewalt, die mittlerweile ein gefährliches Level erreicht hat, gehört auch, dass das Opfer nicht mit der Außenwelt wie gewöhnlich interagieren kann, zum Beispiel bei Familienbesuchen, Arbeitsgängen, auf dem Markt oder beim Friseur. Das führt die Frau meist in die Isolation, wo sie nur schwer andere bitten kann, sie aus der Lage und von ihrem Täter zu befreien. Jede Form der Gewalt, ob sie verbal oder körperlich, beruflich oder sexuell ist, beeinträchtigt die psychische Gesundheit der Frau. Wenn sie berufstätig ist, wird dies ihre Produktivität, Kreativität und Entwicklung stark beeinträchtigen, was sich auch langfristig in der Gesellschaft widerspiegelt. Ist sie nicht berufstätig, so ist sie doch Mutter, Schwester und Ehefrau und ihre mentale Instabilität wird sich auf ihre Erziehung der Kinder und jeden um sie herum auswirken. Schließlich kann solch schwere Gewalt zum Selbstmordversuch führen, der ihr vielleicht irgendwann gelingen wird. Ein Land, in dem es keine grundlegenden Hilfsdienstleistungen für Opfer und Überlebende von Gewalt gibt, ist in dieser Ausnahmesituation mehr als andere der Gewalt ausgesetzt ist.“
 
Sie fügt hinzu: „Länder wie Libyen, in denen Kriege und Konflikte weitverbreitet sind, sind wahre Brutstätten für soziale Gewalt. Mehr noch: sie helfen bei ihrer Eskalation. Daher sind Frauen in Libyen dieser Art von Gewalt stärker ausgesetzt als diejenigen, die in stabilen und sicheren Gegenden leben. Sie sind besonders verletzlich, da es keinerlei echte und effektive Hilfe gibt, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart.“.

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