Tunesien

Jun. 2022

Nahrungsmittelsouveränität in Tunesien  Bitteres Brot

Ein geschickter Bäcker backt Brot in einer Bäckerei in Tunis. Foto aufgenommen am 5. März 2022.
Ein geschickter Bäcker backt Brot in einer Bäckerei in Tunis. Während Tunesien bereits eine schwierige wirtschaftliche Situation erlebt, könnte es zusätzlich mit einer Weizenknappheit und einem Anstieg der Getreidepreise konfrontiert sein, wenn der russisch-ukrainische Konflikt anhält. Das Land ist stark auf Weizenimporte aus der Ukraine und Russland angewiesen. Foto aufgenommen am 5. März 2022. Foto (Detail): Hasan Mrad © picture alliance / ZUMAPRESS.com

Brot ist ein zentraler Bestandteil der meisten tunesischen Gerichte und noch immer ein starkes kulturelles, spirituelles und politisches Symbol des Landes. Dennoch ist der Fortbestand dieses beliebten Nahrungsmittels gefährdet. Die tunesische Regierung schafft es nicht, Nahrungsmittelsouveränität zur politischen Priorität zu machen, und drängt damit die Brotindustrie an den Rand des Ruins, konstatiert die tunesische Autorin Yasmin Houamed.

Unter besseren Voraussetzungen würde die tunesische Brottradition im heiligen Monat Ramadan in ihrer ganzen Schönheit erstrahlen. Zu dieser Zeit werden spezielle Brote mit wohlriechenden und süß duftenden Getreidesorten und Blütenwassern zubereitet und auf besondere Weise dekoriert, beispielsweise mit ganzen Eiern, die in verschlungene Teigzöpfe eingebacken werden. Nach einem weiteren alten Brauch öffnen viele Bäckereien ihre Öfen für all die, die ihre zu Hause vorbereiteten Brote so perfekt wie möglich backen wollen.

Doch während des Ramadan 2022 wurden einige dieser Bräuche von der Krise in der tunesischen Brotindustrie überschattet – wenn nicht sogar unmöglich gemacht. Bereits am frühen Morgen bilden sich lange Schlangen zum Brotkauf, Regale in Bäckereien sind bis zur Mittagszeit wie leergefegt und einige Lebensmittelläden konnten seit Wochen weder Mehl noch Grieß verkaufen. Eine zentrale Ursache dieser Unterversorgung ist der derzeitige Krieg in der Ukraine – Tunesien bezieht mehr als 50 Prozent seines Weizens aus diesem Land. Allerdings legen grundlegende strukturelle Probleme die Brotindustrie schon seit Jahrzehnten lahm.

Was Bäcker über die tunesische Brotindustrie sagen

Wenn Sie sich auf die Suche nach einer echten historischen Bäckerei in den Vororten von Tunis begeben, wird man Sie in das Viertel Carthage Byrsa schicken. Bei Ihrer Ankunft wird Ihnen der feine Duft von Hefe aus zwei über eine weiße Wand miteinander verbundenen Bäckereien in die Nase steigen: Eine der beiden Bäckereien liegt etwa zehn Meter von der Straße entfernt, die andere Bäckerei befindet sich direkt am Straßenrand und gehört einem älteren Mann aus Zraoua, Matmata, einer tunesischen Region, die für ihre Backkünste berühmt ist. Aus dieser Region stammt auch die traditionelle Bauweise von Öfen in Form eines Schildkrötenpanzers, die sich bis nach Tunis ausbreitete, lange bevor mit der Kolonisation französische Maschinen das Land erreichten.

Die hintere Bäckerei gehört Tahar, der mit diesem Ort seit 1958 vertraut ist, als er sechs Jahre alt war. Tahars Vater hat von 1941 bis zu seinem Tod in der Bäckerei gearbeitet. Damals besuchte Tahar die Oberschule. „Ich sah ihm dabei zu, wie er den Ofen mit Holz anfeuerte, ihn leerte und reinigte, dann das Brot hineinlegte und die Tür mit Ton verschloss. Sobald der Ton gebrannt war, wusste er, dass das Brot fertig ist“, erläutert Tahar die alte Methode zur Zeitmessung.

Andere Bäcker in den nahe gelegenen Vororten von Le Kram und La Goulette können ähnlich romantische Geschichten von der Brotbackkunst in den Jahren vor der tunesischen Unabhängigkeit von Frankreich erzählen. Zu dieser Zeit, so sagt man, haben die jüdischen, italienischen und maltesischen Gemeinschaften die moderne tunesische Backkunst populär gemacht. Zuvor wurde das Brot zu Hause vorbereitet – natürlich mit selbst hergestelltem Sauerteig – und entweder zu einem Bäcker in der Nachbarschaft gebracht, der die unverkennbare Signatur der Familien in das Brot prägte, um gegen einen Obolus gebacken zu werden oder es wurde in einem Tonofen, Tabouna, gebacken, eine Methode, die im Landesinneren von Tunesien noch immer sehr verbreitet ist.

Der offizielle Name von Tahars Bäckerei – Bäckereigenossenschaft von La Goulette, Le Kram und Carthage – stammt aus der postkolonialen Epoche, als Ahmed Ben Salah unter anderem eine Kollektivierung der Brotindustrie anordnete. „Wenn man eine Fabrik mit Angestellten hatte, waren diese Angestellten, aber auch ehemalige Konkurrenten, von nun an Partner“, erinnert sich Tahar.
  • Tunesisches Tabounabrot, das in einem Gasofen gebacken wird. Foto (Detail): © Yasmin Houamed
    Tunesisches Tabounabrot, das in einem Gasofen gebacken wird.
  • Typische Brotsorten in Tunesien Foto (Detail): © Yasmin Houamed
    Typische Brotsorten in Tunesien
  • Tunesische Brote Foto (Detail): © Yasmin Houamed
    Tunesische Brote
  • Baguette in Tunesien  Foto (Detail): © Yasmin Houamed
    Auch Baguette ist heute noch in Tunesien beliebt. In das Land gelangte es während der französischen Kolonialzeit.
Im Anschluss an diese misslungene politische Maßnahme zog es viele Bäcker in den 1970er-Jahren nach Frankreich, wo sie ihr Vermächtnis im Bereich der Brotbackkunst hinterließen, das sich noch heute großer Beliebtheit erfreut. Beispielsweise haben mehrere Tunesier*innen den angesehenen Wettbewerb für das „Beste Baguette in Paris“ gewonnen, womit ihnen die Ehre zuteilwurde, ein Jahr lang für den französischen Präsidentenpalast zu backen.

„In Frankreich konnten die tunesischen Bäcker ihre Handwerkskunst am Leben erhalten, was den Bäckern in Tunesien nicht vergönnt war“, sagt Tahar mit Bedauern. Heute befindet sich die Brotindustrie seiner Ansicht nach auf dem absoluten Tiefpunkt. „Das Verfahren zur Brotherstellung besteht lediglich darin, die Zutaten in Behälter zu schütten: Maschinen kneten den Teig, formen den Teig, der Teig wird in Schalen gelegt, die Schalen werden in Gärkammern gestellt, und das Brot wird später in automatischen, rotierenden Öfen gebacken“, erklärt er.

Habib, Bäcker in einer der ältesten Bäckereien, die noch im Innenstadtviertel Little Malta betrieben wird, stimmt ihm zu. Der heute Fünfzigjährige verließ die Region Medinine im Süden des Landes im Alter von 16 Jahren, um eine Bäckerlehre zu machen. „In Tunesien gehört die Zukunft des Brots den Maschinen“, sagt er. Er berichtet, dass die Arbeit von Bäckern früher zwar anstrengender war, doch das Brot besser geschmeckt habe. Ganz besonders würde er den Geschmack des traditionellen Sauerteigs vermissen.

Ein kurzer Exkurs über Kulturhefen

In den 1960er-Jahren wurden Kulturhefen aus Zuckerrübensirup gewonnen, einem Nebenprodukt aus der Zuckerproduktion aus Zuckerrüben in der Region Beja. Heute ist Zucker, wie auch Mehl, ein subventioniertes Erzeugnis, sodass Zucker und Hefe ausschließlich importiert werden. Vor dieser Zeitenwende kam normalerweise Sauerteig zum Einsatz. Viele spirituelle Praktiken, Ausdrücke sowie der Familienname Khmira (Sauerteig) stammen aus dieser Zeit und verweisen auf die Bedeutung dieser wichtigen Zutat eines gesunden Brots. „Ein Brot wog einst ein Kilo“, stellt Habib abschließend fest, „heute wiegt es fast gar nichts mehr.“
 

Als Brot zum Synonym für Würde wurde

Ein frühes Zeichen für die mangelnde Bereitschaft der tunesischen Regierung, die Nahrungsmittelsouveränität zur Priorität zu machen, war die Entscheidung zur Teilnahme am Programm „Nahrung für den Frieden“, das die USA in den späten 1950er-Jahren starteten. Nach Angaben der Journalistin Layli Foroudi wurden im Rahmen dieses Programms in fast drei Jahrzehnten riesige Mengen amerikanischer Weizenüberschüsse importiert und gegenüber Kindern als besseres Produkt im Vergleich zum lokal angebauten und nahrhaften Getreide wie Gerste und Hirse angepriesen.

Postdoktorand Max Ajl bezeichnete diese Maßnahme als „Propagandakampagne von oben nach unten“, die lieber auf Importe setzte, als große Landflächen – die sich zum Teil noch in französischem Besitz befanden – umzuverteilen, um die Unterschichten in den Jahren nach der Unabhängigkeit von Frankreich zu ernähren. „[Die tunesische Regierung] hatte große Angst vor einer Revolution. Man kann die Menschen nicht hungern lassen, denn hungrige Menschen neigen dazu, das soziale Gefüge zu stören“, so Ajl. Doch die Bemühungen, soziale Unruhen abzuwenden, hatten nicht lange Bestand. Mit der Brotrevolution von 1983 setzte die tunesische Arbeiterklasse ein klares Zeichen, dass sie sich ihre Würde nicht nehmen lassen würde.

Die Unruhen waren eine Reaktion auf Präsident Habib Bourguibas Beschluss, den Preis für einen 700 Gramm schweren Brotlaib unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) von 80 Millimes auf 170 Millimes zu verdoppeln. Bourguibas Begründung seiner Entscheidung war nahezu identisch mit der Begründung, die die Weltbank in einem Bericht aus dem Jahre 1982 formulierte. Dort hieß es, dass die Reduzierung des Brotverbrauchs dafür geeignet sei, der Brotverschwendung in Tunesien Einhalt zu gebieten. Dies war fernab jeglicher Realität, denn im Tunesien der 1980er-Jahre stellte Mangelernährung noch immer ein Problem dar. Zehn Tage lang wurde das Land von heftigen Protesten erschüttert, gegen die die Regierung mit Gewalt vorging. Die brutale Antwort des Staates auf die Unruhen forderte mehr als 100 Todesopfer und mehr als Tausend Verwundete. Präsident Bourguiba machte seine Entscheidung zwar rückgängig, doch seine Herrschaft hatte bereits irreparablen Schaden genommen.

Im Anschluss an die Brot-Unruhen wurde das Brot – insbesondere das Baguette – zu einem wichtigen symbolischen Mittel gegen politische, wirtschaftliche und soziale Unterdrückung. Der Preisanstieg für subventioniertes Brot bei gleichzeitiger Gewichtsabnahme setzte sich weiter fort. Wie schon Bäcker Habib sagte, hat subventioniertes Brot keine Substanz. Gleichzeitig nutzen Bäcker immer mehr Zusatzstoffe, deren Einsatz durch die tunesischen Gesundheitsbehörden nur ungenügend kontrolliert wird, um die schlechte Qualität des Mehls auszugleichen.

Im Anschluss an die Revolution in Tunesien, die im Januar 2011 zur Amtsenthebung von Präsident Zine El Abidine Ben Ali führte, gab es große Proteste, die den Geist der ersten Brot-Unruhen wieder aufleben ließen. Doch das alles konnte nichts gegen den Einfluss von Kreditinstituten wie dem IWF und der Weltbank und ihrem ausgeprägtem Interesse an Subventionen ausrichten.

Die tunesische Brotindustrie ist nur ein Teil einer am Boden liegenden Lebensmittelversorgungskette und muss dringend reformiert werden. Die Tatsache, dass in der postkolonialen Entwicklungsstrategie des Landes nicht die Nahrungsmittelsouveränität in den Vordergrund gestellt wurde, hat das Land in eine Sackgasse geführt, die Landwirte, Bäckereien und Verbraucher*innen gleichermaßen hart trifft. Bald wird dem Land nichts anderes übrig bleiben, als viele seiner Strategien im Bereich Landwirtschaft und Ernährung zu überarbeiten und eine neue Entwicklungsstrategie zu entwerfen, die in diesem Fall nicht das Vermächtnis der kolonialen Unterdrückung fortführt, sondern eine würdevolle Selbstversorgung ermöglicht.