Libanon

Nov. 2023

Sozioökonomie und Nachhaltigkeit  5 min Die Wirtschaftskrise und das veränderte Konsumverhalten der Libanesen

We highlight three professions that have witnessed changes in customer demand, revealing the shifts in Lebanese consumption patterns. ©Firas Hamiye

Die ökonomische und fiskalische Lage des Libanons ist an einem Tiefpunkt angelangt. Das wirkt sich auch in sozialer Hinsicht, auf den Konsum und die Kaufkraft aus. Die Verhaltensmuster libanesischer Konsumenten waren über 30 Jahre stabil gewesen, seit die Landeswährung zu einem Wechselkurs von 1500 zu 1 an den US-Dollar gekoppelt worden war. Heute bekommt man für einen US-Lollar fast einhunderttausend libanesische Lira.

Der finanzielle Kollaps hatte schwere Auswirkungen auf die Mittelschicht und die Arbeiterklasse und führte zu einer Veränderung der Konsumgewohnheiten aller gesellschaftlicher Schichten. Angehörige der Mittelschicht fanden sich über Nacht am Rande der Armut wieder, nachdem die Kaufkraft ihres Gehalts um 80 % oder mehr gesunken war (Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die den größten Teil der Libanesen ausmachen) oder sie ihr Bankguthaben aufgrund von Beschränkungen verloren hatten. Andere haben ihre Kaufkraft und den Wert ihrer Gehälter wiedererlangt, insbesondere Beschäftigte in jenen Branchen, die die Gehälter in grüner Währung oder „frischen Dollars“, wie es im Libanon heißt, zahlen.

Viele Libanesen suchen nach Alternativen zu den horrenden Preisen, die mittlerweile fast alle wichtigen Lebensbereiche betreffen. So ist zum einen das Konsumverhalten nachhaltiger geworden, z.B. ist ein deutlicher Rückgang des Papier- und Schreibwarenverbrauchs zu verzeichnen, da in Schulen, Universitäten und anderen Einrichtungen gespart wird. Auch Kleidung und viele andere Materialien werden deutlich länger genutzt, haben also einen deutlich längeren Lebenszyklus. Es hat sich eine Second-Hand-Kultur entwickelt und es wird mit Autos, Elektrogeräten, Möbeln und anderen Dingen getauscht.

Auch beim Stromverbrauch sparen viele Libanesen. Waren früher die Häuser Tag und Nacht beleuchtet, beschränkt man sich heute auf die bewohnten Räume. Der Zusammenbruch der staatlichen Stromversorgung und die Verbreitung privater Generatoren haben dazu geführt, dass die Bürger heute jeden Cent umdrehen. Die Rationalisierung des Verbrauchs von Strom, Trinkwasser, Abwasser und Internetzugang bedeutet auch weniger Abfall. Viele Haushalte verzichten zudem inzwischen auf Hausangestellte.

Außerdem ist sowohl in städtischen als auch in ländlichen Regionen im Libanon zu beobachten, dass die Solarenergie immer mehr Zulauf gewinnt, da sich damit die hohen Kosten privater Stromanbieter umgehen lassen und eine längere tägliche Stromversorgung möglich ist.

Aufgrund der gestiegenen Importkosten sind zudem viele Libanesen auf lokale Alternativproduktionen umgestiegen und das Interesse für den landwirtschaftlichen Anbau für den Hausgebrauch ist ebenso gewachsen wie die Nachfrage nach lokalen Agrarprodukten. Die Finanzkrise hat in weiten Schichten der libanesischen Gesellschaft zu Veränderungen in der sogenannten „Werteökonomie“ geführt, das betrifft die Ernährung, Kleidung, Unterhaltung, Moral und Alltagsverhalten.

In dieser Reportage beleuchten wir drei Berufe, die bei ihren Kunden Veränderungen erlebt haben und die ein tieferes Verständnis für das veränderte Konsumverhalten der Libanesen bieten.

Die Nachfrage nach importierten Schuhen geht zurück

Schuhmacher Abou Yasser Hamid (62), genannt der „ehrliche Zauberer“, betreibt sein Geschäft in der Beiruter Region Aicha Bakkar berichtet von seinen Erfahrungen: „Mein Herz und mein Verstand hängen an dem Beruf des Schuhmachers, den ich seit 1996 ausübe, nachdem ich ihn von der Pike auf gelernt habe“.

Früher war seine Arbeit Handarbeit, heute gibt es Maschinen, die die Herstellung wesentlich erleichtern, und die Suche nach Lösungen für die Reparatur von Schuhen ist einfacher und schneller geworden. Abou Yasser hat sich weiterentwickelt. Er begann, „Damenhandtaschen, Koffer, Schultaschen, Laptoptaschen, Keilriemen und andere Dinge zu reparieren. Man kann alles reparieren, deshalb kamen viele Kunden zu mir. Ich habe für jedes Problem eine Lösung.“

Er führt weiter aus: “Es gibt Leute, die haben zehn Jahre alte gebrauchte Schuhe und die sie wiederverwenden wollen“. Er meint: „Vor 2019 war es einfach, Schuhe wegzuwerfen und neue zu kaufen. Heute ist es schwierig, sich jeden Monat neue Schuhe zu kaufen. Das zeigt sich daran, dass die Libanesen dazu übergegangen sind, sehr alte Schuhe ausbessern zu lassen, die eigentlich schon längst aus der Mode gekommen sind.“ Er bestätigt, dass für junge Menschen neue Schuhmodelle wichtig sind. Aber in der Altersgruppe über 40 zählt allein die Qualität.
 

“Vor 2019 war alles noch normal und die Arbeit lief gut, alle kamen in meinen Laden für Reparaturen. Aber nach dem finanziellen Kollaps im Libanon nach 2020 hat sich vieles stark verändert“. Er ergänzt, der Corona-Lockdown habe sich anderhalb Jahr lang auf sein Geschäft ausgewirkt. Dann sei 2020 der Dollarwechselkurs auf 8.000 Lira gestiegen, auf 15.000 Lira im Jahr 2021 und auf 37.000 Lira im Jahr 2022. Dieses Jahr habe der Kurs sich bei 100.000 Lira stabilisiert: „Mein Beruf hat sehr gelitten, weil ich die Waren mit Devisen kaufe und daher gezwungen war, ebenfalls hohe Preise zu verlangen. Die Kunden haben aber keine Dollars und möchten in libanesischer Lira bezahlen“.

Zu seinen Preisen sagt er: „Für Waren oder Reparaturen, für die ich früher 10 Dollar genommen habe, bekomme ich heute 5 Dollar oder manchmal noch weniger. Ich kann schließlich keine Phantasiepreise von den Kunden verlangen, um weiter arbeiten zu können“. Er erklärt, dass die Nachfrage nach normalen Schuhreparaturen für einheimische und chinesische Produkte hoch sei. Die Reparatur französischer Schuhe, für die importierte Materialien und Accessoires sowie hochwertiges Leder benötigt werden, sei dagegen sehr teuer geworden, und die Nachfrage danach sei stark zurückgegangen und sinke weiter.

Weniger Kleidungsabfälle

“Früher kamen meine Kunden aus den ärmeren Schichten. Heute kommen auch Angehörige der Mittel- und Oberschicht in meinen Laden.“ Schuhmacher Abou Fadhl, Inhaber eines sehr kleinen Ladens (2x 1m) in einem Vorort im Süden von Beirut berichtet: „Einmal kam ein Kunde mit einem Schuh, den er schon ausrangiert hatte, und wollte ihn reparieren, um Geld zu sparen und keine neuen Schuhe kaufen zu müssen“. Er meint, dass alte und abgenutzte oder aus der Mode gekommene Schuhe heute wieder repariert werden. Der 70-jährige Schuhmacher Abu Fadl wollte anonym bleiben. Er erzählt von seiner Erfahrung: Ich bin seit 50 Jahren in diesem Beruf und habe mit allen Schichten zu tun“.

Er berichtet, dass die Reparatur von Damenhandtaschen nach der Krise deutlich gefragter ist, zumal die Preise für Handtaschen stark gestiegen sind. Deshalb kommen viele zur Reparatur, was weniger Abfall im Bekleidungssektor bedeutet. Zur aktuellen Situation sagt er: „Früher konnte man mit diesem Beruf eine große Familie ernähren. Heute reicht es nicht einmal mehr für eine Person.“ Er verweist auf „die gestiegene Nachfrage im Schusterhandwerk, aber die Einnahmen nützen nichts, weil er sie für Rohstoffe und Strom wieder ausgibt, denn es gibt keinen staatlichen Strom.

Second Hand: Umweltfreundliche Produktion

Alles begann mit einem jungen Mann, der einem Kellner Kleidung schenkte. Da diesem die Kleidung nicht passte, warf er sie weg. Von da an sammelte der junge Mann gebrauchte Kleidung von Nachbarn und Freunden und fuhr mit seinem Freund in einem Bus los, um sie auf öffentlichen Plätzen in verschiedenen Orten im Libanon zu verkaufen. So kam Omar Itani auf die Idee, das Unternehmen Fabric Aid zu gründen. Nach weiteren Planungen im Jahr 2016 erfolgte 2017 die Firmengründung und 2018 der Eintrag ins Handelsregister.

Die 29-jährige Lulia Halawani ist für das Marketing von Fabric Aid zuständig. Sie betont, dass FabricAid ein soziales Unternehmen ist, das Kleidung sammelt, sortiert, wäscht und bügelt und sie dann zu symbolischen Preisen auf dem „Khalanj-Markt“ verkauft. Halwani glaubt, dass die Preise für arme und sehr arme Schichten mit begrenztem Einkommen erschwinglich sind. Schon für einen halben Dollar könne man Kleidung kaufen.
 

Der “Souk Okaz” wurde nach der Finanzkrise im Jahr 2020 eröffnet und richtet sich an die Mittelschicht, die unter sinkenden Einkommen und Kaufkraftverlusten leidet. Halawani erklärt: „Früher konnte sich die Mittelschicht internationale Markenprodukte leisten. Das hat sich geändert, das Einkommen reicht nicht einmal mehr für Essen und Trinken.

Sie führt weiter aus: “Ziel ist es, den Leuten ein würdiges Einkaufserlebnis zu ermöglichen, bei dem Ästhetik und Genuss eine Rolle spielen und man Kleider nach seinem Geschmack auswählen kann, wo man in die Umkleidekabine geht und Unterstützung durch die Angestellten erhält und das Gefühl bekommt, die ausgewählte Kleidung zu mögen. Man kann auf würdige Weise bezahlen, bekommt dann eine Tüte mit schickem Design und kann wieder gehen. Das entscheidende Ziel liegt darin, den Leuten zu ermöglichen, zu akzeptablen und symbolischen Preisen schoppen gehen zu können. Das ist etwas ganz anderes als das kostenlose Verteilen.“

Das Besondere ist, dass es im ganzen Land und sogar darüber hinaus in anderen arabischen Ländern aktiv ist. Mittlerweile gibt es Filialen in Ägypten und Jordanien, denn 77 Millionen Araber können sich keine Kleidung leisten: "Unser Projekt ist nachhaltig und deckt seine Kosten aus verschiedenen Quellen in einem Netzwerk mit anderen internationalen Unternehmen, um einkommensschwachen Libanesen angesichts hoher Kosten zu helfen.

Das Unternehmen verwendet sogar gebrauchte Kleidung und recycelt sie zu Koffern, Taschen und anderen wichtigen Accessoires. 100 Nähmaschinen sind im Einsatz. Halawani: „Wir haben im Libanon eine Nähschule eröffnet und bereits mit dem Unterricht begonnen. Ziel ist es, den Menschen beizubringen, wie man aus alten Kleidern neue macht.

Kleidung wird repariert statt weggeworfen

Jeanette Khadhra, geboren 1971, lebt in Ain El Remmaneh in Beirut und hat vor vier Jahren eine Schneiderei eröffnet. Sie hat die Umwälzungen im Leben der Libanesen miterlebt, die Stimmungen und das Konsumverhalten, die Veränderung der Kaufkraft und auch die Folgen der Dollarbindung der Libanesischen Lira seit 2019.
 

Dazu sagt sie: „Früher war meine Arbeit nicht so kompliziert wie heute, ich habe Hosen und Hemden gekürzt und Knöpfe oder Reißverschlüsse ausgetauscht. Das waren die meisten Kundenwünsche. Heute repariere ich die Kleidungsstücke oft mehrmals und versuche jedes Mal, den Schaden zu beheben. Die Kleidungsstücke sind dann oft an mehreren Stellen beschädigt. Meine Arbeit ist anstrengender geworden. Manchmal repariere ich Lederbekleidung oder ändere die Kragen von Hemden und Jacken oder nähe Flicken ein, damit die Kleidung wieder getragen werden kann.“ Ihre Arbeit beschränkt sich also nicht mehr nur auf das Nähen: „Es ist, als würde ich ein Kleidungsstück neu herstellen“. Sie fügt hinzu, dass die Arbeit schwieriger geworden sei und die Menschen gleichzeitig über weniger Geld verfügten.

Jeanette berichtet von ihren Erfahrungen: „Die Leute aus den ärmeren Schichten tragen heute Kleidung, ohne sie reparieren zu lassen. Früher dagegen kamen auch ärmere Leute in mein Geschäft und ließen ihre Kleider ausbessern“. Sie weist darauf hin, dass sich die Ärmeren die Kosten für die Schneiderei nicht mehr leisten können. Sie nennt ein Beispiel: „Viele krempeln ihre Hosenbeine einfach hoch, anstatt sie kürzen zu lassen. Es gibt viele Leute, die ihre Kleidung zu Hause selbst reparieren, und viele Leute kümmern sich jetzt in der Familie um die Reparatur von Kleidung, um das Annähen von Knöpfen. Man sieht viele ungewöhnliche Kleiderreparaturen.

Die Mittelschicht dagegen, sagt Jeanette, „repariert jetzt Kleider, die man eigentlich wegwerfen müsste“. Wer sich eine Reparatur leisten kann, war früher wohlhabend oder mehr als das. Sie stellt fest: "Die Armen kommen nur noch in meinen Laden, wenn ich anbiete, etwas kostenlos zu reparieren, als Geschenk.

Es ist richtig, dass die Krise zu einem nachhaltigeren und umweltfreundlicheren Konsum- und Produktionsverhalten geführt hat. Andererseits haben sich ökologische Krisen in der libanesischen Umwelt durch umweltschädliches Verhalten verschärft. Dies betrifft z.B. die starke Zunahme der Abholzung zu Heizzwecken in vielen Provinzen, insbesondere im Nordlibanon, die Zunahme von Fischerei und Jagd aufgrund des Versagens staatlicher Kontrollsysteme.