Jordanien

Mär. 2018

Migration  5 min Städte ohne Flüsse

Vier Fotos (von links nach rechts): die berühmte Steinbrücke in Mostar, Bosnien; eine Hand, die mehrere reife Maulbeeren hält; ein Tisch mit zwei Kaffeetassen auf einer Terrasse mit Blick auf Amman; ein alter Maulbeerbaum. ©Nermina Al-Rifai

„Bleibe nie länger als drei Tage in einer Stadt: Am ersten Tag kannst du dich auf deine Unkenntnis der Sprache berufen und so viel allein sein, wie du willst; am zweiten Tag kannst du die Einheimischen nach dem Weg fragen; am dritten Tag kannst du den Touristen den Weg zur Moschee zeigen, in der Taraweeh-Gebete vollzogen werden, und ihnen Auskunft über die besten Biersorten vor Ort geben. Aber am vierten Tag wird dir nichts weiter bleiben, als wegzugehen.“

* 13. Juni 2017, Mostar:

Das Wetter ist so heiß und feucht, dass mir die Kleidung am Körper klebt. Hinter dem Treiben auf den Straßen verstecken sich die Geheimnisse derjenigen, die sie überqueren und ihre Reisetaschen hinter sich herziehen. Im Fluss stoßen die Fische Sauerstoffblasen an die Oberfläche, die sich jedoch gleich wieder auflösen. Der Kellner schließt das Kassenbuch und versteckt dabei ein Lachen, das den Tisch erzittern lässt, sowie ein paar Münzen mit den Gesichtern der Könige, die nicht hören, nicht ihre Hand erheben, nicht Gehorsam fordern. In diesem Kreislauf finde ich keinen Winkel, in den ich mein an das Hineinzwängen gewöhnte Leben zwängen kann, während es auf den Jüngsten Tag wartet. Also lache ich, so laut ich will und schallend über die anderen Tische, und dann verstumme ich!

Im Vordergrund ein Feigenbaum und eine Steinmauer mit einzelnen Feigen darauf, im Hintergrund ein Gebäude aus Stein mit Holztür Mostar | ©Nermina Al-Rifai In Mostar verbindet eine 53 Meter hohe Steinbrücke die beiden Ufer des Flusses Neretva, nicht jedoch die Einwohner auf beiden Ufern, denn seit 1993 ist die Stadt zwischen Bosniern und Kroaten gespalten. Als Besucher reicht der Blick auf die Namen über den Läden um zu erfahren, woher der Besitzer kommt, denn wer seine Bäckerei Pekara nennt, ist Bosnier, und wer sie Pekarna nennt, ist Kroate! Wer seine Apotheke Apoteka nennt, ist Bosnier, wer sie Ljekarna nennt, ist Kroate, und so weiter und so fort!

Die berühmte Steinbrücke in Mostar, Bosnien Die Alte Brücke in Mostar | ©Nermina Al-Rifai

An einem nahe gelegenen Tisch hat einer von ihnen den beisitzenden Touristen ausführlich die bosnische Philosophie vom Tunken der Zuckerwürfel in den Kaffee erklärt, während ich versuchte ihre Worte nicht zu belauschen, indem ich mich mit dem Zählen der vom Baum reif hinabfallenden Feigen beschäftigte!
Ich öffnete eine Notiz auf meinem Handy und schrieb:
 
„Ich bin die Ahnungslose und ich bin der Feigenkorb…
Ich bin die Feigen…
Ich bin das, was immer abfällt, wenn es reif ist!“ 

 

Heute besitze ich den bosnischen Pass und meine beiden Töchter den kroatischen. Wir leben in Jordanien. Immer wenn wir uns streiten, sehe ich die Neretva zwischen uns fließen und falle auf den Boden wie eine Feige!
 

* 13. Juni 2018, Amman:

Ein Tisch mit zwei Kaffeetassen auf einer Terrasse mit Blick auf Amman Amman | ©Nermina Al-Rifai Heute bin ich 32 Jahre und fünf Monate alt. Ich trinke meinen Kaffee jetzt schwarz und ungesüßt. Die in den Kaffee einzutunkenden Zuckerwürfel bedeuten mir nichts mehr, seit ich entdeckt habe, dass das Salz mir ähnlicher ist. Ich suche auch nicht mehr nach einem Winkel, in dem ich mich verstecken kann. Und ich habe vor Kurzem damit begonnen die Zeit so zu verstehen wie eine Münze, deren runde Form es ihr nur leichter macht ihren Enden entgegenzurollen.

Immer wieder falle ich wie eine Feige auf einen Boden, der mir nicht ähnelt, und die Sauerstoffblasen in meiner Lunge erinnern mich daran, dass ich wie ein Fisch bin, der von Wasser zu Wasser springt und sich vergeblich an seiner Erinnerung und seinem Ort festklammert.
 

* 14. Juni 2017, Banja Luka:

Ich vermisse Amman. Meine Seele fliegt mit dem Wind zu ihr und zerstreut sich über den Gipfeln ihrer sieben Berge. Banja Luka ist zu ruhig; ruhiger als es ein Mädchen, das in Amman aufgewachsen ist, ertragen kann. Die Straßen hier sind so sauber, dass ich es vermisse mir Sorgen machen zu müssen, wenn ich weiße Schuhe trage. Wie langweilig es ist dieses strahlende Weiß zu tragen ohne die Sorge, es schmutzig zu machen! Auch die Regale meiner Großmutter sind langweilig. Es gibt hier keinen Staub, keine Sandschichten, die sich ansammeln, sobald ich die Fenster öffne. Deshalb kann ich nicht mit den Fingern darüberfahren, um ein Herz oder einen Stern zu malen! Die sauberen Regale haben keine Erinnerung und bewahren nichts Vorübergegangenes!

Das Haus ist so ruhig wie die Stadt, in der es steht, als hätte es keinen einzigen Tag Krieg erlebt! Als hätte es die Geräusche von Schießpulver, Beschuss und Mienen, die den Menschen Beine und Arme abreißen, vergessen. Und als hätte es aus seinem Gedächtnis die Brände gelöscht, die zwischen 1991 und 1995 tobten und von der Geschichte verschlangen, was zu verschlingen ging.

Ein alter Maulbeerbaum Der Maulbeerenbaum in Banja Luka | ©Nermina Al-Rifai Der Maulbeerbaum im Garten, dessen dunkelrote Früchte mir als Kind Finger und Kleidung beschmierten, hat mir beigebracht, dass Rot eine leckere Farbe ist, die im Herzen mehr noch als im Mund zergeht. Jetzt macht mich der Gedanke traurig, dass dieselbe Farbe die Farbe des Blutes, des Krieges und des Todes ist. Doch was mich noch trauriger macht ist die Vorstellung, es könnte irgendwo ein Kind geben, das Rot mit Blut und Tod verbindet eher als mit der Süße der Beeren an den Fingern.
Eine Hand, die mehrere reife Maulbeeren hält Der Maulbeerenbaum in Banja Luka | ©Nermina Al-Rifai
Heute fliehe ich vor jeder Erinnerung an den Geschmack, der an den Fingern hängenblieb. Ich betrachte den halb leeren Baumstumpf vor mir, sehe stattdessen aber den Baum, der vor dem Balkon meines Hauses in Amman steht. Ich stelle mir vor, wie ich die Fenster beider Häuser öffne und vom Winde umweht dasitze.

* 14. Juni 2018, Amman:

Ich vermisse Banja Luka. Ich sehe mich selbst, wie ich in dem Café am Fluss Vrbas sitze und die Musik einer Gruppe genieße, die alte Lieder auf dem Cello spielt. Sie erinnern mich an die Melodien, die meine Großmutter summte. Ich erinnere mich nicht, wie ich zu dem Café gekommen bin, und weiß nicht, wie ich wieder nach Hause finden werde, aber ich bin davon überzeugt, dass ich mich in den von Flüssen getrennten Städten nicht verlieren kann. Denn die einfache Gleichung ist, den Flusses entlang zu laufen oder ihn zu überqueren. Ich überlasse meine Füße dem Asphalt und den Reflektionen der Straßenlichter; lasse mich einfach vom Fluss leiten und mein Herz erfüllt sich mit Ruhe und Behaglichkeit. Ich gehe schweigend und merke, dass ich die Stimme der Frau, die mir aus meinem Telefon den Weg beschreibt, gar nicht brauche.

Ich habe mich an dem Tag nicht verlaufen, aber als ich ankam und wie gewöhnlich vor den alten Mauern, rissigen Ziegeln und hochbejahrten Bäumen stehenblieb, drehten sich in meinem Kopf immer wieder dieselben Fragen: War es hier, wo ich vor vielen Jahren nur ein Kind war, das seine Spielzeuge unter dem Wasserhahn im Garten wusch? War es hier, wo meine Großmutter Tomaten, Zwiebeln und Kartoffeln pflanzte?

Vor dem Haus sind einige Steinstufen, an deren Geländer jemand eine Wäscheleine gebunden hat, die der Neigung der Stufen folgt. Dort habe ich die Kinderkleidung nass aufgehangen und sie ist noch immer nicht trocken.

Auf dem Ammaner Balkon gibt es viele Blumentöpfe, in denen ich Zwiebeln und Kartoffeln gepflanzt habe, aber der Geruch der Erde ist anders, und die Sauerstoffblasen in meiner Lunge sehnen sich noch immer nach dieser anderen Luft, dem Wasser und der Erde.


** 15. Juni 2017, Sarajevo:

Musik dringt von irgendwoher, aber ich kann ihre Quelle nicht ausmachen. Sie scheint weit entfernt zu sein, als wäre sie lediglich ein Echo. In meinem Kopf sing Fayrouz: „Sie ließen uns sehr lange warten an der Haltestelle von Darina…“. (Zeile des Liedes „Natarouna Ktir Ktir“ der Künstlerin Fayrouz)

In Sarajevo gibt es keine Haltestelle mit dem Namen Darina. Das weiß ich, weil ich lange auf Karten nach ihr gesucht habe und die Namen der Bus- und Straßenbahnhaltestellen auswendig kenne. Die Straßenbahn gibt es schon seit 1885 in Sarajevo, womit die Stadt die erste in Europa und, nach San Francisco, die zweite weltweit ist, die die Straßenbahn im Verkehrssystem hat. Man kommt nicht umhin zu denken, dass die Menschen in ihr an den Straßenbahnhaltestellen schon seit Ewigkeiten warten und bis ans Ende der Zeit warten werden!

Ich drehe mich noch einmal um mich und merke erst dann, dass mein Herz seine Musik hört. Sie erklingt aus der Ferne, genauer gesagt aus Downtown Amman, aus einem Café in der Nähe vom Zitadellenhügel mit seinem Herkulestempel, der byzantinischen Kirche und dem Ummayyadenpalast. Das Lied ist ein anderes, als das, was mir durch den Kopf ging, aber das schmälert nicht die Wärme, die mein Herz durchflutet, als ich die Stimme Umm Kulthums höre, sich überschneidend mit den Stimmen von Nancy Ajram und Amr Diab, und vermischt mit den Stimmen der fliegenden Händler, die ich nach „Nanoa Eiskrem“(Nanoa ist eine in Jordanien beliebte Eiskremmarke.) und „Popcorn-Chips“ frage.

The Zitadelle von Amman: ein Hügel mit römischen Ruinen inmitten von Steinen und Gras; im Vordergrund gelbe Blüten. Zitadellenhügel in Amman | ©Nermina Al-Rifai Ich bin nicht interessiert daran, die Haltestelle Darina zu finden, weder in Sarajevo noch in Amman. Doch ich bin auf einer Reise, auf der Suche nach irgendetwas, vielleicht etwas oder jemand, der auf mich wartet, irgendwo!

Und inmitten der Verlorenheit singt sie: „Wir kannten ihre Namen nicht, und sie kannten unsere Namen nicht“,(Zeile des Liedes „Natarouna Ktir Ktir“ der Künstlerin Fayrouz.) und ich vergaß meinen Namen!
 

**15. Juni 2018, Amman:

Ich hänge im Stau der überfüllten Stadt fest, beim Dakhiliyya Kreisverkehr, dem dritten und zweiten Kreisverkehr und all den anderen Kreisverkehren, die verbunden sind mit den zum Teil noch unfertigen Straßen, Tunneln und Brücken, sodass sich der Verkehr immer wieder selbst in die Quere kommt. In einem der Tunnel bewegen sich die Autos kaum voran und ich bin kurz davor zu ersticken! In solchen Momenten fällt mir der Sarajevo Tunnel ein, dessen Bau im Jahr 1993 begann, der sich vom Flughafen Butmir bis zu einem unbekannten Haus im Stadtteil Dobrinja erstreckte und durch den vier Jahre lang, während der Belagerung der Stadt, Menschen, Medikamente, Lebensmittel und Waffen geschmuggelt wurden. In jenen Tagen wurde der Tunnel mit einer Länge von mehr als 800 Metern und einer Höhe von 60 Zentimetern bei Kerzenlicht, mit Hackbeilen und Schubkarren gegraben, befestigt mit 45 Tonnen Eisen und einem Holzboden aus Haustüren und Kleiderschränken; Schwierigkeiten mit der Struktur, Belichtung, Luftknappheit im Tunnel mussten überwunden werden, sowie die Probleme das Grundwasser hinauszubefördern und die Säcke voller Sand loszuwerden, die sich beim Graben füllten. All das ist heute auf die ersten 20 Meter des Tunneleingangs reduziert, die Besuchern als Museum offenstehen, während die restlichen fast 780 Meter in Dunkelheit und die Tränen derer, die ihn vor 25 Jahren gruben, getränkt sind. Am Tunnel waren ausschließlich Bosnier beteiligt – Ingenieure, Soldaten und Zivilisten. Nur eine einzige nicht-bosnische Person war unter ihnen und zwar ein palästinensischer Arzt mit Namen Youssef Hajir. Es scheint, Palästina hat schon immer darauf bestanden anwesend zu sein, wenn es einen Kampf ums Überleben gibt!
Sonnenuntergang in Amman, aus dessen Mitte sich ein Turm erhebt Amman | ©Nermina Al-Rifai Plötzlich erklingt hinter mir das Gehupe von mehr als 25 Autos und ich gebe Gas. Ich lasse die Tunnel Ammans hinter mir und versuche zu vergessen, dass ich nur aus Zufall nicht auch unter denjenigen war, die den Tunnel in Sarajevo durchquerten, da ich die Stadt schon 1991, nur kurz vor Ausbruch des Krieges, verlassen habe – oder unter denen, die darin zurückblieben!

**16. Juni 2017, Travnik:

Die Dächer der hügeligen Kleinstadt Travnik, Bosnien Travnik | ©Nermina Al-Rifai Hier wurden meine Großmutter und Mutter geboren, hier begann ihr Leben, hier gibt es dicht begrünte Berge und Flüsse, die fließen, als wären sie direkt mit den Wolken verbunden. Im Ortszentrum befindet sich Plava Voda („Blaues Wasser“), ein halbrunder Wasserkreislauf um den das Leben dieses Ortes erwuchs und der gesäumt ist von zahlreichen Cafés. Das bei weitem beliebteste davon ist Lutvina kahva, wo zum Kaffee eine lokal gefertigte Zigarette und Streichhölzer gebracht werden. Fast hätte ich aus Freude ein Lied von Majida El Roumi gesungen: „Er zog aus seinem Mantel die Zeitung und Streichhölzer“, (Eine Zeile des Liedes „Ma‘ el-Jareeda“ der Künstlerin Majida El Roumi.) weil ich endlich fühlte, dass es einen Mann auf der Welt gab, der Streichhölzer statt das Feuerzeug benutzt! Als ich meine Tasse geleert hatte und für sie bezahlen wollte, wies mich der Kellner darauf hin, dass jemand anderes für mich bezahlt hatte! Ich folgte seinem deutenden Finger und da stand der Honigverkäufer an der Seite, vor sich aufgestellt dutzende Gläser Bienenhonig in den prächtigsten Farben! An jenem Tag lachte er mich an. Ich erinnere mich an sein Lachen sehr gut, weil ich in dem Moment lernte, dass ich, vertieft in die Suche nach Streichhölzern, Honig finden könnte.
Eine unscharfe Aufnahme der grünen Berge von Travnik, Bosnien Die Berge von Travnik | ©Nermina Al-Rifai

**17. Juni 2018, Amman:

Ich sitze in einem Café, in dem alle ihre Zigaretten mit Feuerzeugen anzünden, und kein Honigverkäufer in Sicht.
Stadtbild von Amman, mit pinken Blüten im Vordergrund Amman | ©Nermina Al-Rifai


**18. Juni 2018, Amman:


Ich lese einen Kommentar, den ich vor einem Jahr auf meinem Handy gespeichert habe, als ich gerade im Baščaršija in Sarajevo bosnische Cevapi mit Zwiebelscheiben aß. Ich erinnere mich, dass ich an dem Tag ganz tief die Luft einatmete, die schwer war von der Feuchtigkeit des Flusses Miljacka, an der ich saß. Ich schreibe:
 
„Bleibe nie länger als drei Tage in einer Stadt: Am ersten Tag kannst du dich auf deine Unkenntnis der Sprache berufen und so viel allein sein, wie du willst; am zweiten Tag kannst du die Einheimischen nach dem Weg fragen; am dritten Tag kannst du den Touristen den Weg zur Moschee zeigen, in der Taraweeh-Gebete vollzogen werden, und ihnen Auskunft über die besten Biersorten vor Ort geben. Aber am vierten Tag wird dir nichts weiter bleiben, als wegzugehen.“

Jetzt – ich sitze im Restaurant Hashem in Downtown Amman – ist die Luft trocken und deshalb weiß ich nicht, woher die Feuchtigkeit kommt, die ich um meine Lunge herum spüre. Ich esse Hummus und Mutabbal und die Schwere des letzten Satzes wächst in mir. Im Kopf wiederhole ich ihn immer wieder:

„Es wird dir nichts weiter bleiben, als wegzugehen… es wird dir nichts weiter bleiben, als…wegzugehen!“
 
 

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