Libanon

Mär. 2019

Migration  3 min Migration unter dem Kafala-System – Wenn Menschen zu Handelsware werden

Demonstrierende auf den Straßen Beiruts im Protest gegen das Kafala-System, das Arbeitsmigrant*innen ihrer Rechte beraubt und sie von ihren Arbeitgebern abhängig macht
Hunderte gingen am 24. Juni auf die Straßen in Beirut, um gegen das Kafala-System zu demonstrieren. Dieses beraubt Gastarbeiter ihrer Rechte und macht sie von ihren Arbeitgebern abhängig. ©Antoine Abou-Diwan

„Woher kommt deine bint?“ lautet eine Frage, die man im Libanon oft hört. Bint ist das arabische Wort für Mädchen, bezieht sich hier jedoch auf eine weibliche Haushaltshilfe, ein Dienstmädchen oder Kindermädchen von außerhalb des Libanon. Ausländische Arbeiterinnen wie diese unterliegen im Libanon dem sogenannten Kafala-System, in dem der/die ArbeitgeberIn als „SponsorIn“ (bzw. BürgIn) eines oder mehrerer ausländischer MitarbeiterInnen agiert. Bint ist eine geladene Bezeichnung für tausende von Arbeiterinnen aus Asien und Afrika, die es jedes Jahr in den Libanon zieht.

Grace* kam vor fünf Jahren ins Land, um die hier scheinbar besseren Arbeitschancen wahrzunehmen. Sie war damals 38 Jahre alt, die Lage in ihrem Heimatland Togo war instabil und eine Arbeitsagentur versprach ihr einen guten Job als Haushaltshilfe in Beirut. Sie würde auch beim Arbeitgeber wohnen können.
 
Grace sagt, dass sie zu Beginn vorsichtig optimistisch war. Ihr Gehalt, wenn auch gering, erlaubte es hier dringend benötigtes Geld zu ihrer Familie ins Heimatland zu schicken. Aber ihr Optimismus schlug schon bald in puren Horror um. Ihr Arbeitgeber, den sie mit „Mister“ anzusprechen hatte, schlug sie mehrfach und tat ihr noch Schlimmeres an.
 
Der Schmerz zeichnet sich auf Graces Gesicht ab, während sie ihre Geschichte erzählt.
 
„Ich wurde vergewaltigt“, sagt sie und starrt in die Ferne. Ihr Gesicht verhärtet sich.
 
Die Verzweiflung, der Grausamkeit und Misshandlung ihres Arbeitgebers zu entfliehen, trieb Grace schließlich dazu wegzulaufen. Ihr Reisepass war jedoch bei ihrem Arbeitgeber, der ihn ihr weggenommen hatte, wie es SponsorInnen unter dem Kafala-System fast immer tun. Er händigte das Dokument der Polizei aus, meldete Grace als weggelaufen und entzog sich damit aller weiteren Verantwortung für ihr Wohlergehen.
 
In den Augen der Justiz ist Grace nun auf der Flucht. Sie darf sich eigentlich nicht im Libanon aufhalten, kann aber gleichzeitig das Land nicht verlassen, da die Grenzen geschlossen sind. Sollte sie sich an die Behörden um Hilfe wenden, riskiert sie es, in einem von Libanons berüchtigten Gefängnissen zu landen und vielleicht nie wieder das Licht des Tages zu erblicken.
 
Grace ist eine von tausenden von ausländischen Hausangestellten im Libanon, die Opfer gewissenloser Praktiken unter dem Kafala-System sind. Das System beraubt ausländische ArbeiterInnen ihrer Rechte und macht sie komplett abhängig von ihren SponsorInnen. Beispielsweise ist es den ArbeiterInnen nicht ohne Einwilligung des Sponsors oder der Sponsorin erlaubt den Job zu wechseln oder das Land zu verlassen.


Libanons Gesetze – Die Wurzel des Problems

 
Um die 250,000 ausländische Hausangestellte, wie Grace eine ist, arbeiten im Libanon unter dem Kafala-System. Die Mehrheit kommt aus Äthiopien, Sri Lanka, Nepal und den Philippinen.
 
Das Kafala-System stammt ursprünglich aus den Golfstaaten und wurde im Libanon während des Bürgerkriegs eingeführt. Die Rechte von ausländischen Hausangestellten werden nicht vom allgemeinen Arbeitsrecht geschützt. Dies führt dazu, dass die ArbeiterInnen oftmals wie Eigentum behandelt werden. SponsorInnen besitzen die volle Kontrolle über die Rechte und den Residenzstatus ihrer Haushaltshilfen. In dieser Lage sind die ArbeiterInnen besonders stark den Risiken von Ausbeutung und Misshandlung ausgesetzt.
 
Berichte von Missbrauch sind im Libanon so häufig, dass Äthiopien, Nepal und die Philippinen ihren BürgerInnen nun untersagt haben, zu Arbeitszwecken in den Libanon zu reisen. Allerdings hat die libanesische Regierung die Einreise aus diesen Ländern bislang nicht verhindert. Die libanesischen Medien interessieren sich nur für die abscheulichsten Fälle.
 
Francis*, eine Sudanese, der im Südlibanon arbeitet, erzählt von einer Haushaltshilfe aus Ghana, die von ihrem Arbeitgeber drei Jahre lang misshandelt wurde. Noch dazu bekam sie nie ihr volles Gehalt ausgezahlt. Jemand aus der Gemeindekirche unterstützte sie mit Nahrungsmitteln und konnte ihren Arbeitgeber schließlich davon überzeugen, der Frau ein Flugticket nach Hause zu kaufen.
 
Francis erzählt weiter von einer Frau aus Kenia, die seit 2016 im Libanon ist. Sie muss in der Küche schlafen und wird regelmäßig von ihrem Arbeitgeber verprügelt.
 
„Das Kafala-System ist moderne Sklaverei“, sagt Francis abschließend.
 
Grace lebt im Schatten. „Wenn ich zur Polizei gehe, verhaften die mich“, sagt sie. „Ich habe keine Aufenthaltserlaubnis.“
 
Und auch keine Arbeitserlaubnis, die sie nur durch ein Sponsoring bekommt und ohne die sie nicht legal arbeiten darf. Sie putzt nun die Häuser von vier Familien und teilt sich eine Wohnung außerhalb Beiruts.
 
Das libanesische Staatsbürgerschaftsgesetz macht es den Kindern ausländischer ArbeiterInnen besonders schwer. Kinder, deren Vater nicht libanesisch ist, haben kein Recht auf libanesische Staatsbürgerschaft, auch wenn sie auf libanesischem Boden geboren wurden, und selbst eine permanente Aufenthaltsgenehmigung ist ihnen nicht zugesichert.Kinder von ausländischen Hausangestellten, die im Libanon geboren wurden, haben nicht dieselben Rechte wie libanesische BürgerInnen und leben in ständiger Angst davor in ein Land abgeschoben zu werden, das ihnen absolut fremd ist.
Demonstrierende in Beirut mit Trommeln und Plakaten, die Gleichheit und Gerechtigkeit fordern, wie „Girls just wanna have fundamental rights“ – Frauen wollen einfach ihre Grundrechte Hunderte gingen am 24. Juni auf die Straßen in Beirut, um gegen das Kafala-System zu demonstrieren. Dieses beraubt Gastarbeiter ihrer Rechte und macht sie von ihren Arbeitgebern abhängig. | ©Antoine Abou-Diwan
 

Versagen der Gerichte

Ein Bericht von Human Rights Watch zieht Bilanz aus 100 Beschlüssen libanesischer Gerichte in Fällen, die ausländische Hausangestellte betrafen. Darin heißt es, dass das libanesische Gerichtssystem die Rechte ausländischer Haushaltshilfen nicht schütze und Sicherheitsbehörden bei Missbrauchs- und Gewaltvorwürfen nicht ausreichend ermittelten.
 
Für Hausangestellte ist die Lage noch finsterer als für andere ausländische ArbeiterInnen. Viele werden im Haus ihrer ArbeitgeberInnen eingesperrt, sind gezwungen sieben Tage der Woche für mehr als 20 Stunden täglich zu arbeiten und dürfen keinen Kontakt mit der Familie im Heimatland haben. Gehälter werden vorenthalten. Meist haben Hausangestellte keine Privatsphäre und müssen im Wohnzimmer, in der Küche oder sogar auf dem Balkon schlafen. Auch körperliche oder verbale Gewalt ist weit verbreitet. Der Missbrauch ist in vielen Fällen so schlimm, dass die Frauen jede Möglichkeit zur Flucht wahrnehmen, auch wenn das bedeutet mit dem Sprung vom Balkon schwere Verletzungen oder sogar den Tod zu riskieren.

Human Rights Watch zufolge stirbt im Libanon jede Woche eine ausländische Haushaltshilfe auf nicht natürliche Art. Selbstmord und Unfälle bei der versuchten Flucht sind am häufigsten. Die Dunkelziffer wird jedoch höher eingeschätzt.
Demonstrierende in Beirut mit Schildern wie „Hört auf, Äthiopierinnen im Libanon zu töten“, während einige Personen von ihrem Fenster aus zuschauen Hunderte gingen am 24. Juni auf die Straßen in Beirut, um gegen das Kafala-System zu demonstrieren. Dieses beraubt Gastarbeiter ihrer Rechte und macht sie von ihren Arbeitgebern abhängig. | ©Antoine Abou-Diwan
 
„Alle Involvierten – die libanesischen Behörden, die Botschaften der ArbeiterInnen, die Arbeitsvermittlungsagenturen und die ArbeitgeberInnen – müssen sich fragen, was diese Frauen dazu bringt, Selbstmord zu begehen oder auf der Flucht aus hohen Häusern ihr Leben zu riskieren“, sagt Nadim Houry, Forschungsleiter bei Human Rights Watch.
 
Unbarmherzig wird auch mit jenen Arbeiterinnen umgegangen, die den Fall vom Balkon überleben oder erfolgreich fliehen. Sie werden von der Polizei in Gewahrsam genommen und dann gewaltsam zu ihrem Arbeitsplatz zurückgebracht, wo die Misshandlung weitergeht.
 

Kleine Siege für ausländische ArbeiterInnen

So entmutigend die Situation für ausländische Haushaltsangestellte auch scheint, sie sind nicht allein: Mehrere Nichtregierungsorganisationen geben wertvolle Unterstützung. Und tatsächlich konnten schon so einige Siege errungen werden.
 
Vor einigen Jahren verklagte eine ausländische Hausangestellte ihren Arbeitgeber als er sich weigerte, ihr ihren Reisepass auszuhändigen. Er begründete dies damit, dass der Arbeitsvertrag zwischen den beiden noch gültig war. Das Gericht entschied zugunsten der Klägerin; der Arbeitgeber habe das Recht der Frau auf freie Bewegung (Freizügigkeit) eingeschränkt.
 
Auch hat der libanesische Staat eine Standardvorlage für den Arbeitsvertrag zwischen Hausangestellten und ArbeitgeberInnen eingeführt, sagt Ramy Shukr, Programmbeauftragter bei Anti-Racism Movement (ARM), einer libanesischen NGO.
 
„Arbeitgeber und MigrantInnen lesen allerdings nur selten den Vertrag. Auch ist er nicht in den Sprachen der MigrantInnen verfasst“, sagt er.
 
ARM hat im Libanon mehrere Migrant Community Centers eingerichtet, in denen ausländische Hausangestellte Gemeinschaft und Unterstützung finden können. Die Zentren organisieren Workshops über die Rechte und Pflichten von ausländischen ArbeiterInnen, Sicherheit, Computerkenntnisse sowie Arabisch-, Englisch- und Französischunterricht.
 
„Wir glauben an MigrantInnen. Jeder sollte politische Rechte haben“, sagt Shukr.
 
Weiter sagt er, dass die Öffentlichkeit mittlerweile ein besseres Verständnis davon habe, wie verwundbar gerade Hausangestellte seien und wie oft sie ausgebeutet werden.
Protestierende in Beirut: Eine Frau mit Megafon in der Mitte, umgeben von Frauen und einem Mann, der mit einem Schild für den Schutz von Menschenrechten wirbt. Hunderte gingen am 24. Juni auf die Straßen in Beirut, um gegen das Kafala-System zu demonstrieren. Dieses beraubt Gastarbeiter ihrer Rechte und macht sie von ihren Arbeitgebern abhängig. | ©Antoine Abou-Diwan
 
In der Zwischenzeit warten Libanons Hausangestellte nicht auf die plötzliche Erleuchtung der libanesischen Regierung, dass das Kafala-System abgeschafft und das Arbeitsrecht auf sie ausgedehnt werden muss. Sie nehmen die Dinge selbst in die Hand. Immer häufiger sprechen sie sich in der Öffentlichkeit aus und kämpfen auf Märschen und Demonstrationen für ihre Rechte.
 
*Die Namen wurden zum Schutz der Interviewpartner geändert.

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