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LGBTQ+ in Estland: Wie erschafft man eine Community, die gar nicht zu existieren scheint

LGBTQ+ in Estland © Illustration Daria Taranzhina

Wie kann man eine LGBTQ+-Community in einem Land aufbauen, in dem diese weitestgehend im Verborgenen lebt? Warum entwickeln sich die russisch- und estnischsprachigen LGBTQ+-Communities unterschiedlich? Welche Hindernisse müssen überwunden werden und wie kann man die Situation ändern?

Angelina Gruzdeva

Der Erlass eines Gesetzes über gleichgeschlechtliche Ehen in Estland wurde zu einem wichtigen Sieg für die LGBTQ+-Community, doch der Weg zur vollständigen Gleichberechtigung ist noch nicht abgeschlossen. Gemäß dem Bericht des Estnischen Zentrums für Menschenrechte stieg in den letzten Jahren die Zahl der durch den Hass gegen die LGBTQ+ motivierten Verbrechen, und die Hassrhetorik steht in einem direkten Zusammenhang mit der Zunahme der Gewalt- und Selbstmordfälle. Nach wie vor bleibt auch das Problem der Anerkennung eines Genderwechsels: das Gesetz sieht ihn als einen schwierigen, langwierigen und auf medizinischer Diagnostik und nicht auf dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen basierten Prozess vor. In solchen Bedingungen ist es besonders wichtig, einen Ort zu haben, an dem sich die Leute sicher fühlen und Unterstützung finden können.

Gulia Sultanova ist Organisatorin und Mitbegründerin der LGBTQ+-Organisation „Q-space“, ehemalige Direktorin des Internationalen Filmfestivals „Side by Side“ (russ. „Бок о Бок“), Koordinatorin der Organisationen „Ausgang“ (russ. Выход) und des „Deutsch-russischen Austausches“. Nach ihrer Rückkehr nach Estland kam es ihr so vor, als gäbe es hier keine Queer-Community. Aber bald wurde es ihr klar: sie existiert, lebt aber anders als in Russland. Zusammen mit Gleichgesinnten erschuf sie daher „Q-space“ – einen Ort für den Austausch, die Unterstützung und Weiterentwicklung.

Vom Konflikt in die Stille

Gulia kam nach Estland aus Russland im Jahr 2022, genau eine Woche nach dem Beginn des groß angelegten russischen Überfalls auf die Ukraine. Im Vergleich mit dem damaligen Russland, wo die Sichtbarkeit der Queer-Leute ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens war, hatte sie den Eindruck gewonnen, dass es in Estland überhaupt keine Queer-Community gibt. So erzählt Gulia: „In Russland gab es immer Konfrontationen, Konflikte, Auseinandersetzungen. Hier dagegen ist alles ruhig und still“. Dabei war hier viel seltener als in Russland eine aggressive Reaktion der Leute anzutreffen. Im Allgemeinen reagieren die Menschen mit Unverständnis, aber ihrem Verhalten lässt sich keine Gewaltbereitschaft ablesen.

Von der Idee zur Tat

Die Tätigkeit der Organisation begann im Jahr 2022. Anfangs wollten Gulia und ihre Partnerin Mienni beim Format Filmvorführungen bleiben, allerdings haben sie dann schnell begriffen, dass es in Estland nicht aktuell ist und beschlossen, ihre Tätigkeit zu erweitern. Seitdem bietet die Organisation Workshops, Trainings, Vorlesungen, Volontär-Programme an. Q-space nimmt sogar teil an Paraden und veranstaltet Demonstrationen. Für ihr Engagement für die Entwicklung der Queer-Kultur hat die Estnische LGBT-Organisation die Q-space mit dem Preis „Rainbow Hero“ ausgezeichnet und würdigte sie damit als hervorragende Aktivisten, die für die Rechte der LGBTQ+-Personen einstehen.

Ein Team ohne Grenzen

Q-space besteht aus einem großen mehrsprachigen Team – mehr als 50 Volontären, die in allen Tätigkeitsbereichen engagiert sind: sie führen Veranstaltungen durch, übersetzen Texte, helfen bei Aufklärungsaktivitäten, kümmern sich um die Gäste, sind als Administratoren der Webseite tätig, verteilen Flyer und hängen Plakate aus, kümmern sich um Sicherheitsfragen. Zusätzlich suchen die Volontäre nach Finanzierungsmöglichkeiten und beraten bei Durchführung von Veranstaltungen. Aber ungeachtet dessen, dass das Team groß ist, ist die Organisation immer offen für Hilfe und Unterstützung und sucht laufend nach neuen Leuten.

Weil das Team mehrsprachig ist, werden die Veranstaltungen in drei Sprachen durchgeführt: in russischer, estnischer und englischer Sprache. Die Teammitglieder unterhalten sich miteinander in englischer Sprache. Die wichtigste Aufgabe, die sich die Q-space setzt ist das Miteinbeziehen aller Teilnehmer in den Prozess. Bei Filmvorführungen werden die Untertitel in alle Sprachen übersetzt, und die anschließende Besprechung erfolgt in englischer Sprache. Die Sprache der Trainings und Workshops hängt von den jeweiligen Teilnehmern ab: wenn alle eine Sprache sprechen, dann wird die Veranstaltung in dieser Sprache durchgeführt, wenn sie verschiedene Sprachen sprechen – auf Englisch.

Erweiterung der Geographie

Aktuell werden die Veranstaltungen in drei Städten durchgeführt. Anfangs fanden sie nur in Tallinn statt. Und später, als man schon über entsprechende Erfahrung verfügte, auf der man aufbauen konnte, hat man beschlossen, sich zu erweitern. Narva war die nächste Stadt. Diese Wahl begründete Gulia mit der Anzahl der Einwohner und dem Wunsch, russischsprachigen Menschen, die Möglichkeit anzubieten, sich der LGBTQ+-Kultur anzunähern. Danach fing man an, die Veranstaltungen auch in Tartu durchzuführen. Und als nächstes plant die Organisation, ihre Tätigkeit auch auf Viljandi und Pärnu zu erweitern. Dabei ist ein wichtiger Aspekt für die Organisation – die Regelmäßigkeit; so sollen die Veranstaltungen jeden Monat oder alle zwei Monate durchgeführt werden.

Warum bleibt die Community unsichtbar?

Nach Gulias Meinung gibt es mehrere Gründe für die Geschlossenheit der LGBTQ+-Community. Erstens gibt es eine ungeschriebene Vereinbarung zwischen den LGBTQ+-Vertretern und den homophob eingestellten Menschen – sie existieren parallel zueinander, gleichsam wie in zwei verschiedenen Welten; niemand gibt sich zu erkennen, wodurch eine Illusion der Akzeptanz entsteht. Allerdings ist es auch eine eigenartige Falle – wenn queere Menschen nicht über sich sprechen werden, wird niemand von ihrer Existenz erfahren und wird sie nicht vollwertig akzeptieren können. Zweitens, erweist sich auch der Unterschied in der Entwicklung der estnischen und russischsprachigen Community von großer Bedeutung. Russischsprachige Personen haben nicht an Diskussionen in estnischer Sprache teilgenommen, sie wussten sogar nicht, dass es sie überhaupt gab. Außerdem stecken die meisten im russischen homophoben Narrativ fest, dem zufolge LGBTQ+ eine extremistische Bewegung ist, deren Mitglieder als potenzielle Straftäter betrachtet werden. Russischsprachige Leute unterliegen so oder so diesem Einfluss. Daher kam es, dass eine Kluft zwischen den beiden Communities entstand und sie in verschiedene Richtungen auseinanderstrebten.

„Die Geschlossenheit der LGBTQ+-Community ist ein Problem”, — meint Gulia. Einerseits sorgt es für Sicherheit im äußeren Umgang, hat aber zugleich negative Auswirkungen auf das Selbstbefinden und die Selbstverwirklichung des Menschen – es ist ein intensiver Stress, der einschränkend wirkt; das Gefühl von Gefahr und ein geringes Selbstwertgefühl verleiht, wodurch man das Leben nicht vollständig genießen kann, d.h. frei und ohne psychischen Ballast.

Wie sollte man auf Hass reagieren?

Ein weiteres Problem ist die manchmal anzutreffende aggressive Form von Homophobie. Gulia hat als Beispiel die erste Q-space-Verstanstaltung in Narva angeführt, während welcher „man das Gefühl hatte, als sollte sich jeden Moment eine Revolution entfesseln“: es kamen Drohungen und homophobe Tumulte vor. Nach der Ansicht von Gulia ist es nicht ihre Aufgabe, Leute, die sich bereits ihre negative Meinung gebildet haben, vom Gegenteil zu überzeugen, aber bei denjenigen, die offen für einen Dialog sind, besteht immer die Möglichkeit für einen Austausch. Und wenn die Leute danach immer noch negativ eingestellt sind, so ist es ihr gutes Recht. „Man muss uns nicht lieben, aber man muss uns achten, und das gilt für beide Seiten“, sagt Gulia. Gegenüber Diskriminierung und Gewalt hat man aber eine ganz andere Haltung. Solches Verhalten klärt die Organisation mithilfe der Polizei.

Offenheit und Sicherheit: wo ist die Grenze?

Gulia ist der Meinung, dass Offenheit der Ausdruck von Reife ist, die ein Gefühl von Freiheit mit sich bringt. Gleichzeitig betont sie, dass jeder Mensch seine persönlichen Umstände hat, die man beachten sollte: „Die Entscheidung für ein Coming-out – ist eine persönliche Wahl, die man in einem besonders passenden Moment treffen sollte“. Gulia empfiehlt, mit diesem Schritt in komplizierten Lebensphasen abzuwarten, um sich einen zusätzlichen Stress und mögliche unangenehme Folgen zu ersparen. Das Wichtigste ist – für sein Wohlergehen und seine Sicherheit zu sorgen.

Die nächste Q-space

Aktuell befasst sich Gulia mit besonderer Begeisterung mit der Organisation von Veranstaltungen. Sie mag es, Leute zu finden und miteinander zu verbinden, die Synergien zu spüren und zu sehen, wie die Teilnehmer immer bewusster und toleranter werden. Sie hält diesen Prozess für eine ihrer größten Errungenschaften. Sie ist stolz auf das Team der Volontäre, die für eine Atmosphäre der Freundschaft und Hilfsbereitschaft sorgen, und darauf, dass Q-space erfolgreich Menschen mit unterschiedlichem sprachlichem Background miteinander verbindet. Nicht minder wichtig ist auch die Tatsache, dass die Organisation Partner hat, die die Wichtigkeit von LGBTQ+-Veranstaltungen erkennen und dabei helfen, die Tätigkeit der Organisation auf unterschiedliche neue Städte auszuweiten.

In Zukunft möchte Gulia gerne eine Zusammenarbeit mit litauischen und lettischen Organisationen aufnehmen, um gemeinsame Veranstaltungen durchführen zu können. Außerdem träumt sie davon, Wander-Fotoausstellungen, Filmfestivals und Reisen für Menschen unterschiedlicher Altersgruppen zu organisieren, aber auch regelmäßige Supportgruppen zu starten – einen sicheren Ort, an welchem Menschen offen ihre Sorgen teilen können. Bislang hindern sie die fehlenden Finanzierungsmöglichkeiten an der Realisierung dieser Vorhaben, doch Q-space wird dran bleiben und diese Richtung weiterverfolgen.

Anmerkung:

LGBTQ+ — Abkürzung zur Bezeichnung lesbischer, schwuler, bisexueller, transsexueller und queerer Menschen sowie anderer Menschen mit nonbinärer Genderidentität oder mit nicht-heterosexueller Orientierung. Das Zeichen “+” verweist auf alle Personen, die sich nicht unter traditionellen Kategorien einordnen lassen.

Homophobie — unfreundliche bzw. vorurteilsbehaftete Einstellung gegenüber der LGBTQ+-Community oder ihre Diskriminierung.
Queer — Bezeichnung für Menschen, deren sexuelle Orientierung oder Gender-Identität über die Rahmen traditioneller Normen hinausgeht.

Background – im gegebenen Kontext: Lebenserfahrung, kulturelle oder sprachliche Besonderheiten eines Menschen, die seine Ansichten und seine Lebensauffassung beeinflussen.

Coming-out — ein Prozess, im Zuge dessen ein Mensch offen seine sexuelle Orientierng oder Genderidentität kundtut.

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Dieser Artikel erschien zuerst in der estnischen Zeitschrift Narvamus im Rahmen des von der EU kofinanzierten Projekts PERSPECTIVES für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. >>> Mehr über PERSPECTIVES.


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