Vom Anhalten der Zeit
Bewegen, ohne sich zu bewegen

Standbild Grouper-Video „I’m clean now“: Liz Harris im Regen vor einer roten Rauchwand © Grouper / lizenziert für YouTube von The Orchard Music (im Namen von Yellowelectric); Secretly Canadian Music Publishing, BMI - Broadcast Music Inc.

Wie wir alle wissen, ist es ziemlich unreif, von einer Phase des Spätkapitalismus zu sprechen, Entschuldigung. Es gibt keinen Spätkapitalismus, es gibt nur den Kapitalismus. Er hat begonnen, und vielleicht wird er irgendwann enden, aber dann war er immer nur ein großer Stillstand. Die Frage ist, wie es sich im Stillstand leben lässt, denn ein Ende des jetzigen Systems scheint in weiter Ferne: Das Proletariat denkt nämlich nicht wirklich daran, das Kapital abzuschaffen, im Gegenteil, es ist schuld daran, dass es besteht. 
 

Leonhard Hieronymi

Gehen wir also zunächst von dem jetzigen Zustand als von einem in naher Zukunft nicht zu ändernden aus. Gehen wir davon aus, dass zum Beispiel die elektronische Musik der 90er‑Jahre mit ihrer repetitiven Kraft, ihrem andauernd gleich klingenden „four‑to‑the‑floor“‑Takt und den bis zu 150 Beats pro Minute genau diesen Zustand des Kapitalismus beschreibt, der in 1990er‑Jahren zu seinem Höhepunkt gelangte und seitdem Norm ist: nämlich die endlose Party des schamlosen Konsumismus, der uns die Freiheit bietet, das immer Gleiche zu wählen.

Auch wenn wir mal kurz glauben wollen, dass es etwas jenseits der liberalen Demokratie geben wird und etwas anderes kommen muss, können wir uns sicher sein, dass wir noch eine Weile so vor uns her zockeln werden, wie wir es gerade tun.

Im jetzigen Stillstand wäre es also auf den ersten Blick nur möglich, in Würde durch die Zeit zu gehen, indem wir den Kapitalismus und die Demokratie verbessern, bis wir uns gegenseitig und dem Universum in die Augen schauen können. Oder wir bekämpfen den Stillstand und die Wiederholungen mit Gegenstillstand. Und damit ist keine Entschleunigung gemeint, sondern tatsächliches, abruptes Zeitanhalten.

Das ist doch sowieso der Traum von uns allen. Wenn man nur einen Wunsch hat und sich entscheiden muss zwischen Unsichtbarmachen, In‑die‑Zukunft‑sehen, Gedankenlesen, Personen und Gegenstände aus dem Nichts erscheinen lassen (Beamen) oder Zeitanhalten, dann wählen wir immer das Anhalten der Zeit. Allerdings unter der Bedingung, dass wir uns in der stillstehenden Zeit bewegen und Aufgaben lösen können, während die anderen stillstehen und sich nicht regen (und nach dem Anhalten der Zeit auch nicht wissen, was gerade passiert ist). Das ist der Traum der geheimen Manipulation!

Wie kann es uns aber möglich sein, die Zeit anzuhalten und in diesem Kontinuum zu wirken?

Ein Beispiel für den Sound des Stillstands während der Bewegungslosigkeit der Gesellschaft ist die Musik von Liz Harris, die unter ihrem Projektnamen Grouper zumindest in der Ambient- und Psychedelic‑Popszene sehr, sehr bekannt ist.

Liz Harris wohnt in einem Haus in Astoria, Oregon, und Astoria markiert ebenfalls einen Endpunkt und damit einen Stillstand der Geschichte, nämlich den der Ausbreitung in den Westen:
Astoria war die erste euro‑amerikanische Siedlung westlich der Rocky Mountains, die vom Unternehmer John Jacob Astor (gleich nach den Expeditionen von Lewis und Clark) als Außenposten für den Pelzhandel errichtet wurde.

Die Musik von Liz Harris ist keine Entschleunigung und sie ist keine Wiederholung, obwohl sie in Loops feststeckt. Ihre Musik ist ein Raum, in dem Verzerrungen und Fehler, Stille, tiefe Traurigkeit und Missverständnisse ihren Platz finden. Und durch diese Musik haben wir unter anderem die Möglichkeit, den Stillstand im Konsumismus zu durchbrechen. Wir sollten zum Beispiel das Lied Alien Observer hören. Wir bewegen uns zu diesem Lied, und wir glauben, dass wir uns nicht bewegen. Wir gehen zu dieser Musik in die Zentren des Kapitals und zerstören sie. Wir gehen in den Reichtum und zerstören ihn zum Lied It Feels Allright. Wir waschen uns nicht mehr die Haare und wir befreien unsere Freund*innen aus dem Gefängnis zum Lied Made of Air. Wir sind nur noch wach, wenn es dunkel ist und hören Wind Return.

Liz Harris wurde in einer Kommune groß, die den Richtlinien des griechisch‑armenischen Esoterikers Georges I. Gurdjieff Folge leistete. Sie wurde geschult, sich ihrer selbst zu erinnern, bewusst zu leiden und Vorlieben abzuschwören, sowie sich – mehr oder weniger – ins Unermessliche zu bilden. Die Kombination aus Verzicht, Bildung und klarem Bewusstsein sollte in dieser Kommune dazu führen, Tagträumereien abzuschaffen und innere Zerstreutheit zu bekämpfen. Diese Mischung aus Klarheit, Bildung und Verzicht spiegelt sich in der Musik von Liz Harris wider, und wenn wir uns selbst bilden, Klarheit behalten und verzichten, dann können wir im zügellosen Konsumismus bestehen. Dann sind wir plötzlich schneller als alle anderen und merken trotz Frustration, Unruhe und Angst, dass alle andere stehen und nur wir uns fortbewegen. Es ist sehr einfach, sich durch die Einhaltung einiger weniger Regeln vom Stillstand der anderen zu lösen und diese Personen in ihrem Stillstand zu beobachten, während man selbst rast. Es ist sehr einfach, die Zeit anzuhalten.


Logo Das Wetter © Das Wetter
Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter – Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.  

Das könnte euch auch gefallen