Andy Warhols „Screen Tests“
Bewegte Bilder, die sich in Stillstand üben

Andy Warhol „Bob Dylan“ [ST83] © The Andy Warhol Museum, Pittsburgh, Pennsylvania, ein Museum des Carnegie Institute. Alle Rechte vorbehalten. Filmstandbild mit freundlicher Genehmigung von The Andy Warhol Museum

Drei Minuten stillhalten, das ist nicht leicht. Genau das war es aber, was der amerikanische Künstler Andy Warhol in seiner Reihe „Screen Tests“ von seinen Darsteller*innen forderte. Diese Kurzfilme wurden Mitte der 1960er‑Jahre in einer fortlaufenden Reihe produziert.

Saskia Trebing

Wenn die Kamera eine Waffe ist, dann ist die einzige Verteidigung zurückzuschauen. Wer gefilmt wird, befindet sich in einer interessanten und widersprüchlichen Lage: Einerseits ausgeliefert, entsteht andererseits auch ein Raum, den die Angesehenen besetzen und ausfüllen können. Sie können ein Bild von sich selbst erschaffen.

Eine Vorliebe für Stille

Die Dynamik zwischen Künstler*in und Modell wusste wohl kaum jemand so effektiv zu nutzen wie die Pop‑Art‑Legende Andy Warhol (1928–1987). Auch wenn man den Vorarbeiter der New Yorker Kunstkommune Factory heute vor allem mit seinem glamourösen Umfeld und einer kurzatmigen Konsumwelt der „15 Minuten Ruhm“ in Verbindung bringt, besaß Warhol durchaus eine Vorliebe für Stille und Introspektion. Und ganz offenbar eine beeindruckende Menge an Geduld.

  • Andy Warhol „Nico“ [ST237], 1966 © The Andy Warhol Museum, Pittsburgh, Pennsylvania, ein Museum des Carnegie Institute. Alle Rechte vorbehalten. Filmstandbild mit freundlicher Genehmigung von The Andy Warhol Museum
    Andy Warhol „Nico“ [ST237], 1966, 16-Millimeter-Film, schwarz-weiß, Stummfilm, 4,6 Minuten Dauer bei 16 Frames (Einzelbildern) pro Sekunde
  • Andy Warhol  „Jane Holzer (Toothbrush)“ [ST147] © The Andy Warhol Museum, Pittsburgh, Pennsylvania, ein Museum des Carnegie Institute. Alle Rechte vorbehalten. Filmstandbild mit freundlicher Genehmigung von The Andy Warhol Museum
    Andy Warhol „Jane Holzer (Toothbrush)“ [ST147], 1964, 16-Millimeter Film, schwarz-/weiß, Stummfilm, 4,6 Minuten Dauer bei 16 Frames (Einzelbildern) pro Sekunde
  •  Andy Warhol „Bob Dylan“ [ST83], 1966 © The Andy Warhol Museum, Pittsburgh, Pennsylvania, ein Museum des Carnegie Institute. Alle Rechte vorbehalten. Filmstandbild mit freundlicher Genehmigung von The Andy Warhol Museum
    Andy Warhol „Bob Dylan“ [ST83], 1966, 16-Millimeter Film, schwarz-/weiß, Stummfilm, 4,6 Minuten Dauer bei 16 Frames (Einzelbildern) pro Sekunde
  • Andy Warhol „Lou Reed (Coke)“ [ST269], 1966 © The Andy Warhol Museum, Pittsburgh, Pennsylvania, ein Museum des Carnegie Institute. Alle Rechte vorbehalten. Filmstandbild mit freundlicher Genehmigung von The Andy Warhol Museum
    Andy Warhol „Lou Reed (Coke)“ [ST269], 1966, 16-Millimeter Film, schwarz-/weiß, Stummfilm, 4,6 Minuten Dauer bei 16 Frames (Einzelbildern) pro Sekunde

In seiner Serie Screen Tests holte der Künstler zwischen 1963 und 1966 hunderte mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten aus der Kulturszene vor seine Kamera, darunter den Musiker John Cale, den Maler Salvador Dalí, die Künstlerinnen Niki de Saint Phalle und Yoko Ono, die Sängerin und Stil‑Ikone Nico. Und damit wäre das Projekt auch schon ausreichend beschrieben. Denn was sonst nur das Vorspiel zu den eigentlichen Aufnahmen ist – Lichtausrichtung, Kameraeinstellungen, Überprüfung der telegenen Ausstrahlung der Schauspieler*innen –, ist hier das eigentliche Werk. Die schwarz‑weißen Kurzfilme von Screen Test konzentrieren sich ganz auf die Gesichter ihrer Protagonist*innen, die sich, wenn überhaupt, nur minimal bewegen. Der Künstler wollte keine Geräusche, keine Handlung, sondern die maximale Entschleunigung. 

„Ein Medium der Ruhelosigkeit probiert sich im Stillstand"

Es ist nicht überraschend, dass die Werkserie von einer Sammlung von „Mug Shots“, also Fahndungsfotos von Kriminellen, inspiriert wurde. Warhols Kamera‑Experimente sind zwar formal Filme, tasten sich aber so nah an die Fotografie – und vielleicht sogar an die Porträtmalerei – heran, wie es dem bewegten Bild nur möglich ist. Ein Medium der Ruhelosigkeit probiert sich im Stillstand. Der Blick der statischen Kamera ist jedoch nicht ganz so unerbittlich wie bei den Polizeibildern, bei einem Casting in Hollywood oder in einer Modelagentur. Die Screen Tests wollen nicht werten oder vermessen, sie wollen beobachten und ein Archiv der Momente sein.

Intime Ausnahmewerke

Wie wuchtig und emotional ein Blickduell sein kann, sei es mit oder ohne Bildschirm, zeigt sich in der Kunst immer wieder. Marina Abramović hat dies beispielsweise 2010 mit ihrer Ausdauerperformance The Artist is Present bewiesen. Dabei saß die Künstlerin drei Monate lang stumm im New Yorker MoMA Besucher*innen gegenüber – und rührte viele von ihnen allein durchs Zurückschauen zu Tränen.
Marina Abramović, „The Artist is Present“, 2010, Museum of Modern Art, New York, 9 March – 31 May 2010. Marina Abramović, „The Artist is Present“, 2010, Museum of Modern Art, New York, 9. bis 31. Mai 2010. | Andrew Russeth, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons Auch die Mitwirkenden der „Screen Tests“ reagieren zum Teil heftig auf die Beobachtung der Kamera. Stillhalten fällt besonders schwer, wenn man weiß, dass man dabei gesehen wird und sich verletzlich macht. Manche der Gefilmten schützen sich durch Wegschauen, andere nehmen die Herausforderung an und schauen die Betrachter*innen drei Minuten lang unverwandt an. In unserer heutigen Medienwelt, die oft auf schnellen Schnitten und konsumierbaren Häppchen basiert, sind die Screen Tests eine etwas anachronistisch anmutende Geduldsübung. Eine jedoch, die sich lohnt, denn die Filme sind intime Ausnahmewerke in Warhols Karriere, die sich so oft durch seine Faszination für die Oberfläche definierte. Künstler, Modelle und Publikum treffen sich hier in einer derart menschlichen Art und Weise, dass irgendwann alle die Waffen strecken.
 
© 2010 Double Feature Records. Dean Wareham und Britta Phillips, ehemalige Mitglieder der Band Luna und jetzt das Duo Dean und Britta, präsentierten im Rahmen des Pittsburgh International Festival of Firsts 2008 eine Multimedia-Veranstaltung mit einer Auswahl von Andy Warhols Screen Test-Filmen mit Live-Musikbegleitung. Während dreizehn der vierminütigen Filmporträts von Warhol abgespielt wurden, spielte ein vierköpfiges Ensemble eine komponierte Musik.

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