Fünf kleine Kapitel zu Stillstand
Uschis Bagatellen

Hefezopf Public domain

In der Musik bezeichnet eine Bagatelle ein kurzes, leichtes Musikstück. „Uschis Bagatellen“ sind kurze Kapitel in Textform und dem Stillstand gewidmet: fünf Nachrichten über den Zustand eines Verstandesorgans im Niedrigfrequenzbereich. Gleich in der ersten zerteilt Uschi einen Hefezopf. Und wie der Bäcker den Teig des Hefezopfes flicht unser Autor seine Gedanken zum Stillstand zum folgenden Text zusammen.

 

Dr. Leonhard Emmerling

Hans
Mit „Der Stillstand des Himmels und der Fortgang der Zeit“ ist ein Essay von Hans Blumenberg überschrieben, das fünfte Kapitel seines dreibändigen Opus Magnum Die Genesis der kopernikanischen Welt. Wohingegen geübte Blumenberg‑Leser*innen dem Autor leichtfüßig auf seiner Tour de Force durch den Zeitbegriff zu folgen imstande sein mögen, erstarren Blumenberg‑Laien wohl schon bei der Lektüre des ersten Absatzes, dessen epistemische Verwindungen von Wirkungen, – die doch nur der letzte Schritt der Konsequenz ihrer Voraussetzungen seien (Seite 505) – er zwar gebannt zu verfolgen, jedoch wohl eher zu bewundern als wahrhaft zu verstehen vermag. Auf dem Studierstuhl arretiert, nickt man zustimmend, als sei der folgende Satz auf einen selbst gemünzt: „Der Zuschauer erfasst sich selbst als ruhend (…). Für ihn agiert die Welt.“ (Seite 512). Vielleicht nicht die Welt, aber doch der Autor. Seinen mäandernden Schlingerbewegungen folgt man wie denen anderer ätherischer Geister, hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Überdruss, stillgestellt in einem geistigen Limbo zwischen Einsicht in eigenes Unvermögen, dem Wunsch zu begreifen und der exponenziell wachsenden Sehnsucht nach empirisch Greifbarem, das sich nicht sofort in das ephemere Gas einer Gelehrt*innenlyrik verflüchtigt. Während, über das Buch gebeugt, der Fortgang des eigenen Verstehensvermögens sich radikal verlangsamt, kommt dem sich eintrübenden Geist die Erkenntnis zu Hilfe, es gäbe beim Denken sowieso keinen Fortschritt, sondern lediglich das hartnäckige Umkreisen ein- und derselben Frage auf ein- und derselben Stelle. Auch wenn sich die Erleuchtung nicht einstellen mag, von wem denn der erleichternde Hinweis kam (Husserl? Heidegger? Huelsenbeck?), weicht die Erstarrung einer sofortigen Wärmelockerung. Es strafft sich der Rücken, es dehnt sich der Geist, es klärt sich der flirrende Blick, und die im Inneren der Schädelkalotte kreisende Stimme von Uschi, die den Hefezopf aufschneidet, lispelt: „Man muss nicht immer weiter müssen.“ Womit nichts anderes gesagt ist, als dass, was Hänschen nicht lernt, Hans auch nicht unbedingt braucht, und das Verhältnis zwischen Arrest und Fortschritt, Fortgang und Stillstand auf andere Art und Weise, jedoch nicht minder einleuchtend als in Hans B.‘s Essay beschrieben ist: Es steht der Himmel still, während, mit dem Fortgang der Zeit, der Geist sich wegsediert. Oder aber, ganz im Gegenteil, es kreist der Himmel als sich ewig in sich fortdrehendes Rad, während wir, erschöpft vom Dauerwaschgang, den kurzen Ausgang zum Ende einschlagen und, nur mehr blinzelnd, aus dem zunehmenden Dunkel dessen, was früher mal Verkalkung hieß, auf das himmlische und irdische Getriebe schauen. Planeten kreisen um Sonnen und Sonnen um sich selbst, Kometen kommen nieder, Meteore prasseln herab, Asteroidenschwärme künden von unvorstellbaren Zeiten und Entfernungen, doch hienieden sucht irgendwer den Superstar, und wir wissen: Wir sind es nicht. Der Blick durch B‘s Teleskop endet an der Bücherwand. Ein letztes Mal hebt sich das Lid und wirft einen dämmrigen Blick auf die zentrifugale Welt hinter den Gitterstäben des Geistes. Dann erlischt auch dieses Bild, und Rainer schlägt die Kladde zu. Hätte Hans doch nur was Anständiges gelernt!

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Steve
Auch in Arkadien gibt es eine Mittagsstunde, und diese ist, wie der große Sohn unseres Landes, Schliemann, nicht müde wurde zu wiederholen, im griechischen Mykene wie im portugiesischen Tróia die Stunde des Pan. Von der Höhe eines weißen, glasigen, heißen Himmels scheint die Sonne wie arretiert. In der Mittagsglut hängt sich der Verstand aus, und der Wahnsinn eines rasenden Triebs erfasst Satyrn und Menschen, die in wildem Verlangen über alles herfallen, was bei fünf nicht auf den Bäumen ist. Von den Bergeshängen dringt unmenschliches Geheul ins Tal, doch hier weiß Uschi Rat, hängt ihre schlanken Füße am Ende ihrer Beine ins kühle Nass eines munter vom Berg ins Tal flunkernden Baches und summt leise: „Here we go round the prickly pear/ Here we go round the prickly pear/ At five o‘clock in the morning.“ Um fünf Uhr ist das Gras noch feucht vom nächtlichen Tau, und weder Sonnenstich noch geschlechtliches Verlangen affizieren den Verstand. Einen Zweig zwischen den Zähnen, den Blick verträumt auf die Flussschnellen im hurtig vorbeieilenden Bach gerichtet, fasst mein Freund Steve Reich den Plan zu einer revolutionären Form neuer Musik: Im Fortgang des Immergleichen reflektiert der sprühende Geigenklang von Violin Phase das schimmernd‑glitzernde Verharren des Dauerfließens an der immer gleichen Stelle. Fasst nicht das stillstehende Fortschreiten dieser Musik die Aporie von Stillstand und Fortgang, der Stabilität des Transitorischen, der Fixiertheit des Fließenden so zwingend in eine paradoxale Form wie die ortstreue, zuverlässig glatte Wölbung des spiegelnd eilenden Wassers über dem moosgrünen Fels? Ach, wie sich die Stromschnellen und Geigenphasen zu Katarakten der sich überstürzenden zeiträumlichen Verortetheit eines ewigen Vorbei verdichten, gleichen sie – im sich strudelnd verwirbelnden Einerlei aporetischen Da- und Vorüberseins – der sinnfrei kreiselnden Gedankenflucht des Manikers, dem leeren hermeneutischen Gezirkel des alles umgreifenden Geistes, der in der Stunde des Pan sein Kaìros‑Erlebnis hat. In der Hitze des Mittags trifft den Satyr der Hitzschlag, im feuchten Tal aber geht Chronos seinen Geschäften nach.

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Helge
Es kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, dass Stillstand keinesfalls mit Unbeweglichkeit zu verwechseln ist. Ein Haus steht nicht still, es ist eine Immobilie. Wer still steht, hat sich bewegt; was aber unbeweglich ist, war dies schon immer und wird dies immer sein, ungeachtet des Fortgangs der Zeit. Den wahren Begriff von Unbeweglichkeit erhält man erst dann, wenn man sich vor Augen führt, woher all das Unglück einer rotierenden Welt rührt: von der Störung der Bewegungslosigkeit, der Aufkündigung des Gnadenzustands der völligen Apathie. Was wäre es nicht ein beschauliches Dasein in ewiger Unbeweglichkeit gewesen, hätten nicht die Götter Purusa, den Urmann der Rig Veda (10.90, 1–16), der alles war, was jemals war, und alles gewesen ist, was jemals sein wird, sich selbst geopfert? Er war das Opfer, das sie ihm zum Opfer brachten, und in dieser Möbiusschleife sich in sich selbst verschlingenden Sinns entstanden Sonne und Mond aus seinem Geist und seinem Auge, und die vier Varnas, die im Westen als die vier Kasten bezeichnet werden, wurden aus seinem Mund (Brahmanen/Priester), seinen Armen (Kshatriyas/Krieger), Hüften (Vaishyas/Händler) und Füßen (Shudras/Diener) geschaffen. Seither wimmeln wir durch die Zeit und versuchen, als gälte es das Leben, im Dauerlauf den misslingenden Klassenkampf. Wenn man dann, im Investor*innengalopp auf dem Weg zur nächsten Funding Round des coolen Start‑ups, das so einen unglaublichen Growth verspricht, mit dem Hermelinmantel am Ferrari hängenbleibt, den der Fahrer in der Auffahrt vor der Villa scheiße geparkt hat (wer nur hat das gesagt . Scheler? Schulze? Schneider?), wünscht man sich den ganzen Schlamassel auf Null zurück. Während ich fieberhaft im Ferrari‑Cockpit den Reset‑Knopf suche, erzählt Uschi, die auf dem Beifahrer*innensitz Platz genommen hat, ihr Yoga‑Lehrer hätte ihr bedeutet, es ginge nicht darum, besser, bewusster, achtsamer zu atmen, sondern darum, möglichst gar nicht mehr zu atmen. Womit nichts anderes zu erreichen versucht werde als der Sieg über die Zeit, Stillstand in Permanenz. Ich halte inne. „Ein tiefer Gedanke“, denke ich. Ich atme ein letztes Mal ein. Was dann noch an meine Ohren dringt, während Uschi den Notruf wählt („Er ist ganz blau im Gesicht!“), ist eine Stimme aus den Lautsprechern meiner Dreihunderttausend-Euro-5.1-Surround-Dolby-300-Watt-Mega-Booster-Subwoofer-Stereoanlage, die verkündet, dass die Immobilienpreise in New York während der Corona‑Pandemie um 40  Prozent gestiegen seien. Stillstand lohnt sich.

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Rainer
Bekanntlich dachte Alexander der Große, als er den Indus überschritt, er sei in Oberägypten angekommen. Irgendwann muss er begriffen haben, dass jemand ihn reingelegt hatte, und kehrte um. In Babylon starb er, nachdem er wahlweise mit Weißem Germer vergiftet worden war, dem Suff erlag oder aber von den Wassern des Styx genippt hatte. Als er Diogenes von Sinope die schwerwiegende Frage gestellt hatte, was dieser sich von ihm wünsche (bekanntlich antwortete Diogenes, er solle ihm aus der Sonne gehen), hätte er die Chance gehabt, nicht als in Honig eingelegter Kaiserkadaver zu enden, sondern als Philosoph, der Einsicht in die – im Hinblick auf den Kosmos – relative Sinnlosigkeit alles Tuns gewonnen hätte. Dass der Epiphanes, wie einer seiner Beinamen lautete, solches kurz erwog, belegt die Anekdote, dass Alexander dem Faulenzer im Fass antwortete, dass, wenn er nicht Alexander, er gern Diogenes wäre. Daraus wurde dann nichts, denn, wie allgemein bekannt, hörte Alexander nicht auf, Asien zu durchstreifen und Völker zu unterwerfen. Was auch immer seinen übermenschlichen Bewegungsdrang motivierte, es hätte dem Makedonier möglicherweise eine gewisse Einsicht in die Bedingtheit des eigenen Tuns verschafft, wenn er sich gelegentlich der Unterweisungen seines alten Lehrers erinnert hätte, dass alles Bewegte sich einem Unbewegten verdankt. Ohne die Annahme dieses Unbewegten, so der große Aristoteles, sei alles Denken des Fortgangs von Zeit und der Veränderung sowie des Verhältnisses von Stillstand und Bewegung einem unendlichen Regress unterworfen. Was den/die beflissene*n Leser*in von Ahnerts Astronomischem Jahrbuch hierbei mit der Wucht einer schlagartigen Erkenntnis trifft, ist die frappierende Übereinstimmung der Vorstellung des unbewegten Bewegers mit der Theorie des Urknalls. Denn wie die uns allen bekannten Theorien des Big Bang nahelegen, kam Zeit überhaupt nur durch den Urknall – wie soll man sagen? – „zur Existenz“. Wenn aber alles Bewegte sich dem Unbewegten verdankt, wenn alle Zeit sich zurückführt auf das, was nicht Zeit war oder ist, hätte sein sollen oder gewesen sein wird, so ist auch alles, was ich als Alexander oder Diogenes, Uschi oder Wolfgang tue oder auch nicht tue, hinsichtlich seiner Qualität ununterschieden: da gleichermaßen als Wirkung dessen zu verstehen, was meine Bewegung in der Zeit nicht ist – nämlich Wirkung des Gegenteils von Zeit und damit des Gegenteils von Bewegung, Handeln und Tun, einem Unfassbaren vor und jenseits, nach und über der Zeit. Es entstammt folglich, wie Uschi sagt, während sie in ihrer Lieblingsausgabe von Einsteins Erzählungen blättert, alle Bewegung dem Stillstand. In ihrer Jugend, fügt sie hinzu, hätte es noch Gammler gegeben. Also, so Typen wie Rainer. Damals galt Rumhängen als subversiv, wohingegen heute jeder, der ein Notebook besitze, eifrig an seinem Start‑up bastle, um seinen Beitrag zum Change zu leisten, während er seinen Latte macchiato süffele. Denn Change muss sein, von morgens bis abends, und das wissen unsere leistungswilligen Angestellten, die sich auf dem Peloton‑Fahrrad mit ihren Alé R-EV1Kit Gear of the Day die Lunge aus dem Leib radeln. Change is in our DNA, sagt der Typ auf Instagram, und der Stillstand ist des Bankers Tod. Im muffigen Fitness‑Keller modelliert man an seiner eigenen Vervollkommnung herum und rast auf der Stelle dem Gipfel, dem Ziel, dem Télos der Veränderung entgegen: noch mehr Veränderung. Stillstand ist das Gegenteil von Abreaktion. Hätte Alexander sich zu Diogenes in die Tonne gesetzt, stünde Theben noch.

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Joe
Wer sich jemals seit Stunden im Stau befindlich – und mit der beschämenden Situation konfrontiert, dass bei Leverkusen auch Uschi, in ihren flunderflachen 350 PS Boliden mit dem Pferd auf dem Kühler geklemmt, nicht schneller vorankommt als irgendeine bucklige Coverversion des Cinquecento –; wer sich also jemals in solch misslicher Lage mit dem Problem der Perfektibilität des Weltlaufs im Allgemeinen und des menschlichen Daseins im Besondern befasste, muss unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass das Paradoxon der Schöpfung einen zu niederdrückenden Problemüberhang repräsentiert, als dass man sich seiner Wirkung durch entschiedenen Druck aufs Gaspedal entziehen könnte. Die Frage, die uns quält, während wir unsere Ray‑Ban‑Brille zurechtrücken, die wir so schätzen, seit Joe Biden Präsident geworden ist – und es hat sehr lange gedauert, bis sie sich gegen Bonos Revo durchgesetzt hatte, repräsentiert Bono doch (seine Haare dauerzerwühlt vom Wind der Geschichte, dem er auf der Bühne mit flatternder Mähne mutig trotzt, bevor er sich wieder seinen Offshore‑Geldanlagen widmet) wie kein anderer die Unerbittlichkeit und unerschütterliche Standfestigkeit des Willens zu Veränderung – er ist gewissermaßen die Mensch gewordene Achse des Guten, um die herum die Niedertracht der Welt tobt, während er unbeirrt sein Ziel verfolgt: Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter ... (von wem nur stammt das? Buber? Badiou? Buzz Lightyear?); also, jedenfalls tragen wir die Ray Ban in Verehrung für einen Mann, der all das wieder gutmachen will, was ein anderer Mann mit seltsam orangefarbener Haut zerdeppert hat, und können angesichts der Umwidmung einer Autobahn zum Dauerparkplatz, um aufs Thema zurückzukommen, uns der Frage nicht entziehen, wozu, wenn denn alles perfekt eingerichtet gewesen war von Anfang an, man Zeit noch bräuchte? Wenn alles richtig und perfekt und vollkommen und absolut und bis ins kleinste Detail total durchdacht und makellos eingerichtet war, kann und muss alles von Anfang bis Ende nur Stillstand sein, unendliche Dauer des Gleichen. Fortgang kann dann nur quantitativer Fortgang, Durchmessen der Zeit, nicht aber qualitativer Fortgang, Modifikation oder gar Verbesserung eines Zustandes sein. Eine solche Annahme erklärt natürlich nicht, wie Menschen mit seltsam orangeverfärbter Haut es schaffen, gesamte Nationen in den Niedergang zu reißen, weshalb sich die Annahme aufdrängt, es stünde am Anfang der ganzen Geschichte nicht so sehr ein, an sich und in sich und für sich und in seinen Handlungen und Absichten vollkommener Schöpfer, sondern doch eher ein Demiurg, ein Bastler, ein Schrauber, der immer nur auf Sicht flog, wie wir das seit Corona tun, und eine reichlich bröckelige Welt zusammenstückelte, die auf fatale Art und Weise der Verkehrsinfrastruktur bei Köln ähnelt. Ist die Erweiterung auf acht Spuren endlich vollbracht, kracht nebenan eine Brücke zusammen. Alle Veränderung lässt nur darauf schließen, dass es mit der Sache noch nie zum Besten stand. Aller Fortgang qualitativer Art erlaubt nur den Rückschluss, dass zu Beginn etwas gründlich schiefgegangen war. Jede Idee von Fortschritt bestätigt nur die Annahme, dass mit dem Projekt Welt irgendetwas von Anfang an nicht stimmte. In der Logik der Perfektibilität liegt die Annahme notwendig einbeschlossen, dass das gesamte Ding ein Fehler war. Fortgang weist auf basale Miserabilität hin, perfekt wäre nur der Stillstand. Aber davon will ja gerade niemand etwas hören. Ich ducke mich unter dem nächsten Problemüberhang in Gestalt einer bröselnden Autobahnbrücke hinweg und atme tief durch, als Schilder das Ende der Baustelle anzeigen. Mit uns ruckelt noch ein paar Meter der Cinquecento der Befreiung entgegen, dann gibt Uschi Gas, und die pinke Autokugel schrumpft im Außenspiegel zum Paradigmenpunkt elend verfehlter Automobilästhetik, dem Inbegriff mediokrer Demiurgenkunst, Inbild sinn- und ziel- und zweckloser Schrauberei zusammen. „So `nen Ferrari kannste nicht toppen“, meint Uschi.

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