Eins mit der Stille
Wie die Vipassana-Meditation den Affengeist bändigt

Vipassana-Kurs © shutterstock

Die Gesellschaft ist darauf ausgelegt, dass wir stets in Eile, auf dem Weg irgendwohin oder mit etwas beschäftigt sind. Doch was wäre, wenn man uns auffordern würde, eine zehntägige Pause von allem einzulegen und still zu sein?

Nimish Sawant

Einer Studie aus dem Jahre 2020 zufolge denken Menschen durchschnittlich 6.200 Gedanken am Tag. Das sind vier Gedanken in der Minute. Während wir uns mit diesen Gedanken beschäftigen, bewältigen wir gleichzeitig unseren Alltag – wir stehen auf, arbeiten, essen, entspannen, gehen wieder ins Bett. Ganz zu schweigen von unserer Smartphonenutzung, die im Jahr 2021 durchschnittlich fünf Stunden am Tag betrug und von der wir uns Dopaminschübe durch Mitteilungen erhoffen. Unsere Aufmerksamkeit ist zu einer Ware geworden, die von der digitalen Welt bedingungslos instrumentalisiert wird.

Auch wenn wir uns vom Primaten weiterentwickelt haben, eine Sache ist geblieben: der Affengeist. Er sendet ständig Signale an unser Gehirn, während er von einem Gedanken zum nächsten springt, sodass wir uns nur schwer auf eine einzige Sache konzentrieren können. In einer Welt, in der von uns erwartet wird, immer in Bestform zu sein, übernimmt der Affengeist das Kommando. Widerstand ist zwecklos.

Eine der wirksamsten Methoden, den Affen zu bändigen, ist erwiesenermaßen das Einlassen auf die Stille und die Konzentration auf das Hier und Jetzt.

Angesichts der schieren Menge an Gedanken, die uns in jeder wachen Sekunde durch den Kopf schießen, ist dies allerdings leichter gesagt als getan. Die Anhänger*innen einer jahrhundertealten Praxis mit dem Namen Vipassana behaupten jedoch, ihre Gedanken besser unter Kontrolle zu haben. Zu den lautstärksten Verfechter*innen dieser Praxis gehört der bekannte Autor Yuval Noah Harari, der Meisterwerke wie Sapiens, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert und Homo Deus verfasst hat. Er richtet seine gesamte Jahresplanung nach seinen 30- oder 60-tägigen Vipassana‑Retreats. In dieser Zeit bricht er jeglichen Kontakt zur Außenwelt ab, um allein mit seinen Gedanken zu sein. In vielen seiner Vorträge nannte er diese Vipassana‑Retreats als Grund für das seelische Gleichgewicht, das ihm die konzentrierte Arbeit an seinen drei Bestsellern ermöglichte. Außerdem hätten sie ihm dabei geholfen, mit den Konsequenzen seiner Popularität und der zum Teil heftigen Kritik im Anschluss an die Veröffentlichung seiner Werke umzugehen.

Was genau ist Vipassana?

Vipassana bedeutet übersetzt: die Dinge sehen, wie sie wirklich sind. Die Meditationstechnik wurde vor etwa 2.500 Jahren von Gautama Buddha entwickelt. In ihrer modernen Form wurde sie ab 1969 von S. N. Goenka gelehrt. Seitdem hat Vipassana wie auch Yoga einen Siegeszug um die ganze Welt angetreten. Doch im Unterschied zur Yoga‑Praxis, die neben angeleiteten Meditationen auch Körperübungen beinhaltet, geht es bei Vipassana allein um die Meditation und die Konzentration auf den eigenen Atem, wenn er durch die Nase ein- und wieder ausströmt. Es beinhaltet einen zehntägigen Präsenzkurs, bei dem die Teilnehmer*innen bestimmte Regeln befolgen müssen, darunter das Schweigegebot. Für die Dauer von zehn Tagen ist für kostenfreie Unterbringung und Verpflegung gesorgt. Das Programm finanziert sich aus freiwilligen Spenden von Vipassana‑Praktizierenden.

Dazu sagt Achtsamkeitscoach Manish Behl: „In den von S. N. Goenka entwickelten Vipassana‑Zentren herrscht während zehn Tagen eine strenge klösterliche Disziplin. Um vier Uhr morgens werden die Teilnehmenden geweckt. Anschließend meditieren sie täglich mehr als zehn bis elf Stunden. Und um 21:30 Uhr gehen sie wieder ins Bett. Vom ersten bis zum letzten Tag ist es nicht erlaubt, zu lesen, Gesten zu machen, zu sprechen oder Kontakt zur Außenwelt zu haben.“ Den Durchschnittsmenschen würde ein solcher Tagesablauf völlig überfordern. Doch genau dazu müssen sich alle Teilnehmenden bei der Anmeldung verpflichten.

Es handelt sich also um so etwas wie ein Schweige‑Retreat, bei dem der Tagesablauf hauptsächlich aus Meditation besteht. Man könnte es auch als eine Art körperlichen und geistigen Urlaub von der eigenen Identität als Individuum in einer Gesellschaft und von allen gesellschaftlichen Erwartungen betrachten.

Der 34-jährige Kaushik Dedhiya, der in leitender Position bei der Softwarefirma IDfy in Mumbai arbeitet, hat im vergangenen Jahr den zehntägigen Vipassana‑Kurs absolviert. Er spricht heute von einer Erfahrung, die sein Leben verändert hat. Für den Workaholic Dedhiya waren Arbeitstage mit zehn bis zwölf Stunden nichts Ungewöhnliches. Im Juli 2020 wurde er plötzlich von schweren Migräneanfällen geplagt. Er bemerkte, dass er seine Emotionen und seine Wut nicht mehr unter Kontrolle hatte.

„Was mich am meisten an der Entscheidung für ein zehntägiges Vipassana‑Programm beunruhigt hat, war die Tatsache, dass ich in dieser Zeit meine siebenjährige Tochter nicht sehen würde. Wir waren noch nie so lange voneinander getrennt. Darauf musste ich sie und mich mental vorbereiten“, berichtet Dedhiya.

Warum Rückzug und Einlassen auf Stille so wichtig sind

Das Hauptziel von Vipassana besteht Behl zufolge darin, Vergänglichkeit zu erfahren und durch die bewusste Wahrnehmung der körperlichen Empfindungen in einen Zustand des Loslassens einzutreten. „Die Isolation hilft dabei, alle Arten von äußeren Reizen fernzuhalten. So kann man sich ganz auf die Meditation konzentrieren und diesen inneren Zustand vollkommen ungestört wahrnehmen.“

Als übergeordnetes Ziel soll Vipassana dabei unterstützen, die eigenen Gedanken auf die Wahrnehmung der allerkleinsten körperlichen Empfindungen zu richten. Dieser Methode liegt die übergeordnete Philosophie zugrunde, dass wir stets auf unsere eigenen körperlichen Empfindungen reagieren. Doch im Alltagstrott verlieren wir das Gefühl dafür, was uns unser Körper mitteilen will. Sobald alle äußeren und inneren Reize wegfallen, nehmen wir unsere körperlichen Empfindungen, die die Ursache unserer emotionalen Reaktionen sind, automatisch bewusster wahr.

Behl zufolge führt die Hektik des Alltags letzten Endes zu Stress, Ängsten, Burnout und Verbitterung. „Wir reden häufig davon, dass wir uns Zeit zur Entspannung und Selbstpflege nehmen wollen, doch in Wirklichkeit vergessen wir es oft, einen Gang zurückzuschalten, wenn unser Leben hektisch und chaotisch wird. Stille und Entspannung sind extrem wichtig, damit wir die Herausforderungen in unserem Leben erkennen und angemessen darauf reagieren können.“

Die ersten drei Kurstage sind der Vorbereitung gewidmet. In dieser Zeit lernt der Geist, wie er sich konzentriert. Ab dem vierten Tag tritt das Vipassana‑Training in seine entscheidende Phase.
 
„Vipassana unterstützt uns dabei, alle Empfindungen des Körpers wahrzunehmen und dabei gelassen zu bleiben, weil wir wissen, dass ausnahmslos alle Dinge des Lebens, also auch diese Empfindungen, letztlich keinen Bestand haben. Es hilft uns zu erkennen, dass es zwecklos ist, Gelüste oder Abneigungen zu empfinden, wenn doch alles vergänglich ist“, berichtet Dedhiya.

Die schwierigen Phasen der Vipassana-Praxis

Dedhiya warnt jedoch davor, Vipassana als Allheilmittel zu betrachten, mit dem alle Probleme gelöst werden können. „Ich verspüre auch heute noch Wut und muss negative Emotionen bewältigen. Doch ich gehe inzwischen bewusster damit um. Dies ist eine der wichtigsten positiven Veränderungen, denn heute bin ich in der Lage, meinen emotionalen Zustand schneller unter Kontrolle zu bringen.“

In einer Quora‑Diskussion über die Kehrseiten von Vipassana erklärt die in Südafrika lebende Siobhan Yvonne Ashmole, wie sich die Struktur des Egos im Verlauf der zehntägigen Vipassana‑Praxis auflöst. „Dein Ego wird versuchen dich auszutricksen, damit du es am Leben hältst. Während meines ersten Retreats verspürten alle in meiner Gruppe am dritten und vierten Tag (unmittelbar vor den ersten Erfolgserlebnissen) das dringende Bedürfnis, ihre Familien oder Partner*innen zu kontaktieren. Wir waren alle der festen Überzeugung, dass jemand in unserer Familie gestorben, auf Hilfe angewiesen oder erkrankt war. Durch die viele Meditation nahmen wir dieses Gefühl jedoch als Eingebung und nicht als quälende Sorge wahr.“

Dedhiya machte während seiner Sitzung eine ähnliche Erfahrung. Er erinnert sich an seinen vierten Tag, an dem bis 9 Uhr morgens alles nach Plan verlief. Doch danach hatte Dedhiya das Gefühl, dass ihm sein Verstand einen Streich spielte, weil er ihm einredete, dass es seiner Tochter Kiyara schlecht gehe und er sich um sie kümmern müsse. Dedhiya war fest entschlossen, das Programm abzubrechen und nach Hause zurückzukehren. Erst nachdem er seinem Lehrmeister in einem Beratungsgespräch davon berichtet hatte, beruhigte er sich wieder und absolvierte das Programm bis zum letzten Tag.

In ihrer Quora‑Antwort merkte Ashmole weiter an: „Als wir uns in der Gruppe am zehnten Tag über unsere Erfahrungen austauschten, erkannten wir, dass wir nichts Ungewöhnliches erlebt hatten. Natürlich versucht unser Ego, uns zum Abbruch zu bewegen, weil es seine Auflösung spürt. Es macht sich unsere Befindlichkeiten zunutze.“

Behl zufolge ist es das Ziel, am zehnten Tag des Retreats einen mentalen und körperlichen Zustand zu erreichen, in dem sich der Geist auf den Atem und die körperlichen Empfindungen konzentriert und nicht mehr umherwandern darf.

„Es geht darum, die Vergänglichkeit zu erkennen und durch die Beobachtung der körperlichen Empfindungen und die Entwicklung eines Gefühls der Resilienz, Ruhe und Gelassenheit einen höheren geistigen Zustand des Loslassens zu erlangen.“

Durch wissenschaftliche Forschungen belegt

Bevor Sie das alles als spirituellen Hokuspokus abtun: Vipassana und Achtsamkeitstechniken sind Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschungen. Allein im Jahre 2020 wurden zu diesem Thema mehr als 1.600 Forschungsarbeiten und Artikel publiziert.
 
„Studien der Universitäten von Kalifornien in Los Angeles und Berkeley haben ergeben, dass die Gehirne von Langzeit‑Meditierenden besser erhalten sind und langsamer altern. Menschen, die durchschnittlich 20 Jahre meditieren, verfügen über eine höhere Anzahl von grauen Zellen in ihrem Gehirn“, so Behl.

Neben Berufstätigen hat Vipassana auch Schwerverbrecher*innen im Tihar‑Gefängnis in Nordindien sowie in Vollzugsanstalten in den USA geholfen. Laut einer Studie verhielten sich die Insassen des Tihar‑Gefängnisses weniger feindselig gegenüber ihrem Umfeld und fühlten sich weniger hilflos. Psychiatriepatient*innen, die 23 Prozent der untersuchten Gruppe ausmachten, berichteten von einer Abnahme ihrer Angstfühle und depressiven Symptome. Die Studie wurde mit vergleichbaren Ergebnissen in Gefängnissen in aller Welt wiederholt.

Auch Behl ist davon überzeugt, dass ein achtsamer Umgang mit den eigenen Gedanken durch den Einsatz von Meditationstechniken Vorteile bringt. „Zahlreiche Berichte stellen einen Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und verbesserten kognitiven Fähigkeiten her. Laut einer Studie der Universität von Kalifornien in Davis kann Achtsamkeitsmeditation dazu beitragen, die Schutzkappen unserer Chromosomen zu erhalten, die mit dem Alter immer kürzer werden.“

Nach Meinung von Behl können alle von einem solchen zehntägigen Kurs profitieren, wenn sie es anschließend schaffen, regelmäßig zu meditieren und die Praxis in den eigenen Alltag zu integrieren. Vipassana‑Schüler*innen wird empfohlen, täglich mindestens zwei Stunden zu meditieren. Dedhiya versucht noch immer, täglich 15 Minuten zu meditieren, und hofft, dass er die zehn Tage im Vipassana‑Retreat zu einer jährlichen Routine machen kann. Für ihn ist Vipassana eine der radikalsten Methoden der persönlichen Transformation. Doch das Ergebnis sei es zweifellos wert.

„Wenn du während der Meditation diesen Zustand der Gelassenheit erreichst, in dem dir weder Glück noch Traurigkeit etwas anhaben können, und du erkennst, dass alle Gefühle vergänglich sind, dann verändert sich etwas in deinem Inneren.“


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