Wahre Magie
Stille im Chaos finden

Bewegung ~ Stille © Isha Foundation

Angesichts des rasanten weltweiten Wandels hat es sich mehr denn je als lebensnotwendig erwiesen, eine Pause einzulegen, sich zurückzuziehen und zur Ruhe zu kommen.

Triti Zalka

Als die Welt mit dem Ausbruch der COVID‑19‑Pandemie von einem Moment auf den anderen zum völligen Stillstand kam, wurden viele Menschen in eine tiefe Krise gestürzt. Wir kämpften, wir hielten stand, und irgendwo zwischen Kummer und Verlust, einschneidenden Änderungen unseres Lebensstils, Homeoffice‑Kultur und einer völlig neuen Perspektive auf die Welt um uns herum und in unserem Inneren tauchten wir als neue Menschen wieder auf. Mehr als zwei Jahre später navigieren wir voller Entschlossenheit durch unsere „neue Normalität“. Unsere Welt wird nie wieder so sein, wie sie einmal war. Und auch wir haben uns verändert.

Was hat uns beim Durchhalten geholfen? Wer zu Hause festsaß, suchte nach Wegen, um mit dem Stress und den Veränderungen durch die zahllosen Quarantänemaßnahmen umzugehen. Einige waren neu, wie das Internetphänomen Dalgona Kaffee, TikTok‑Trends oder Millennials, die das Spielfeld Aktienmarkt für sich eroberten. Andere wurden aufgefrischt, beispielsweise eine schöne Zeit mit den Liebsten zu verbringen oder vergessen geglaubte Leidenschaften neu zu entdecken, wieder andere wie Yoga gibt es bereits seit Menschengedenken.

Gesundheit, Wellness und inneres Wohlergehen haben während der Pandemie eine völlig neue Bedeutung – und Dringlichkeit – erhalten. Angesichts des rasanten weltweiten Wandels hat es sich mehr denn je als lebensnotwendig erwiesen, eine Pause einzulegen, sich zurückzuziehen und zur Ruhe zu kommen.

Beschwerliche Zeiten

Ganz gleich, ob körperliche Fitness, geistige Klarheit oder spirituelles Wachstum das Ziel ist: Menschen entdecken Yoga aus ganz unterschiedlichen Gründen für sich. Yoga hat in jüngster Zeit weltweit viel Aufmerksamkeit erhalten, weil es Hilfe bei der Bewältigung der pandemiebedingten Belastungen bot. Doch Yoga ermöglicht nicht nur eine Flucht aus der Realität, macht sich nicht nur in den Momenten bemerkbar, in denen wir die Augen schließen oder die Zehen mit den Fingerspitzen berühren – Yoga ist eine Methode, um das Leben in seiner ganzen Fülle, in jedem Moment, mit jedem Atemzug zu erfahren.

Es ist immer wichtig, solche Momente der Stille, Bewusstheit, Glückseligkeit, Klarheit und Ruhe zu finden, um in dieser Welt wirksam zu funktionieren und in Harmonie mit dem Universum zu leben. Dies gilt in beschwerlichen Zeiten umso mehr.

Das Konzept, „eins mit dem Universum“ zu werden, mag skurril anmuten, wenn wir neben den Anforderungen des modernen Lebens noch pandemiebedingte Nöte bewältigen müssen. Doch genau darum geht es im Wesentlichen beim Yoga: um die Verbindung – und nicht nur um bestimmte Streck-, Dehn- und Atemtechniken. Diese sind zwar wirkungsvoll, dienen aber lediglich als Mittel, um im eigenen Leben eine höhere Bewusstseinsebene zu erlangen. Denn dann erleben wir die wahre Magie.

Mentale und emotionale Stabilität

Doch bevor wir auch nur annähernd einer Erleuchtung, Mukti oder Befreiung, Samadhi oder dem höchsten meditativen Bewusstseinszustand nahekommen, machen sich die Vorzüge des Yoga bereits auf jeder Ebene bemerkbar. Die regelmäßige Praxis von Asanas (Körperhaltungen), Pranayama (Atemübungen) und Dhyana (Meditation) kann, neben anderen raffinierteren Yogaformen, grundlegende Veränderungen bei einem Menschen bewirken. Sie baut Stress und Ängste ab, verjüngt den Körper, stärkt die Abwehrkräfte und vermag sogar chronische Erkrankungen zu lindern, stärkt die Körperkraft und die Fitness, steigert die geistige Klarheit, wirkt ausgleichend auf den Hormonhaushalt, kräftigt das Muskel- und Skelettsystem des Körpers, schärft die Sinne, stärkt die Energie und Aufmerksamkeit, sorgt für mentale und emotionale Stabilität, steigert die Produktivität und bringt Glück, Zufriedenheit und Freude. Alles ist möglich, wenn wir den eigenen Körper und Geist, die Emotionen und Energien in ein gewisses Gleichgewicht bringen.

Das Potenzial für positive Veränderungen ist schier unendlich, doch es gibt keine Garantien. Es hängt von sehr vielen unterschiedlichen Faktoren ab, von der Form des praktizierten Yoga bis hin zur eigenen inneren Einstellung, mit der wir uns der Yogapraxis nähern. Damit sich die Wirkung im Inneren und in allen Bereichen des Lebens voll entfalten kann, braucht es zunächst Stille.

Man sagt, dass Yoga dem Körper Stabilität gibt und den Geist beruhigt, um im vollen Bewusstsein durchs Leben gehen und die eigenen Möglichkeiten erkennen zu können. Unter den vielen Formen des Yoga steht beim Hatha Yoga die Körperbeherrschung im Mittelpunkt, um Geist und Seele zur vollkommenen Ruhe zu führen.

„Yoga erkundet diesen Gegensatz von Bewegung und Stille – es widmet sich der Dualität des Lebens und allem, was darüber hinaus existiert."

Ich erinnere mich an eine der ersten Hatha‑Yoga‑Klassen, die ich während meiner Ausbildung zur Yogalehrerin belegte. Eine Lehrkraft in schlichter weißer Kleidung führte uns durch die Übung, während eine andere den Sonnengruß präsentierte. Es war das Schönste, das ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte. Der riesige Saal, in dem ich gemeinsam mit mehr als 150 angehenden Hatha‑Yogis Platz genommen hatte, war sofort elektrisiert. Nach den Regeln der Physik kann Energie weder erzeugt noch vernichtet werden. Sie kann nur ihre Form wechseln. Die Yogawissenschaft, deren Ursprünge noch viel weiter zurückliegen, hat schon immer von „Vereinigung“ oder „Einheit“ gesprochen – in dem Sinne, dass das gesamte Universum letztlich aus einer einzigen Energie besteht. In diesem Moment vereinigten sich Wissenschaft und Mystik und schufen etwas wahrhaft Schönes. Ich war elektrisiert. Ich strotzte vor Energie, obwohl ich noch nicht einmal Yoga „praktiziert“ hatte! Und es sollte nicht das letzte Mal sein, dass mich Yoga zu Tränen rührte, in völlige Ekstase und schließlich in einen Zustand der absoluten Ruhe versetzte.

Zustand der absoluten Ruhe

Yoga erkundet diesen Gegensatz von Bewegung und Stille – es widmet sich der Dualität des Lebens und allem, was darüber hinaus existiert. Manchmal kann man den Bewegungen eines Yogi kaum folgen, dann wieder scheint sein Körper in vollkommener innerer Ruhe zu verharren. Und doch ist es die Verbindung dieser beiden Zustände, aus der etwas Besonderes erwachsen kann, und ihre Transzendenz, die zum eigentlichen Ziel führt.
Yoga bedeutet „Vereinigung“ Yoga bedeutet „Vereinigung“ | © Isha Foundation Heute gibt es viele verschiedene Yogalehren und -stile, von der durch und durch klassischen traditionellen Yogaschule bis hin zu völlig modernen Interpretationen. Der Weltyogatag, der seit 2015 am 21. Juni begangen wird, zeugt von dem neu erwachten internationalen Interesse an der Yogapraxis im 21. Jahrhundert – das im Zuge der Pandemie nur weiter gewachsen ist. Trotz seiner Vielfalt ist eines klar: Yoga, das einst eng mit der indischen Kultur verknüpft war, wird mit rasender Geschwindigkeit Teil einer lebendigen und vielfältigen weltweiten Bewegung. Angesichts der Tatsache, dass in der heutigen Zeit Millionen von Menschen in aller Welt Yoga neu für sich entdecken, ist es wichtig, Yoga zu verstehen und seine Authentizität zu bewahren.

Wenn wir an Yoga in früheren Zeiten denken, kommt uns vermutlich das Bild eines Yogi in den Sinn, der Asanas in einem locker gewickelten Lendenschurz praktiziert, vielleicht auf einer Rasenfläche im Schatten eines Baumes oder in einer Höhle im Himalaya oder möglicherweise auch auf dem Lehmboden eines Hauses auf dem indischen Subkontinent – ein alltäglicher Akt, der seit Menschengedenken ganz selbstverständlich mit dem kulturellen Leben verknüpft ist.

Zutiefst natürlicher menschlicher Prozess

Doch in Indien und in aller Welt haben sich die Dinge grundlegend geändert. Das beschriebene Bild lässt sich nur schwer mit hautengen Yogahosen, farbenfrohen Yogamatten, „Bieryoga“ und verschiedenen Arten von Yogazubehör vereinbaren. Wenn Schweiß zum Erfolgsmaßstab einer Yogaklasse wird, rückt die Suche nach Spiritualität mit Sicherheit in den Hintergrund. Yoga ist ein zutiefst natürlicher menschlicher Prozess, der seit Jahrhunderten ohne viel Aufhebens praktiziert wurde. Doch wie immer erlebt die Welt zunächst Veränderungen und Umwälzungen und kämpft sich durch verschiedene Phasen – einige konstruktiv, andere kontrovers –, bevor sie an einem bestimmten Punkt zur Ruhe kommt. Angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr Menschen für Yoga interessieren, besteht die Hoffnung, dass wir auf möglichst sinnvollem Wege wieder zu seinen Wurzeln zurückfinden.

Die Suche nach Stille im Chaos ist ein natürlicher Reflex. Ein angeborener Instinkt, um zu überleben und zu wachsen. Wir brauchen etwas, das uns an das Leben bindet, wenn die Welt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit außer Kontrolle zu geraten scheint.

Wie bei den drastischen Folgen der Pandemie kann uns Yoga auch auf unserem rasanten Weg in eine Zukunft voller Überraschungen, Herausforderungen und Chancen darauf vorbereiten, dem Leben mit Leichtigkeit, Anmut, Intelligenz und Einfühlungsvermögen zu begegnen. Wenn wir innerlich ausgeglichen sind, können wir uns auch in der größten Krise entfalten.

Die Suche nach Stille im Chaos ist ein natürlicher Reflex. Ein angeborener Instinkt, um zu überleben und zu wachsen. Wir brauchen etwas, das uns an das Leben bindet, wenn die Welt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit außer Kontrolle zu geraten scheint. Doch wenn schon eine einfache Dehnung oder ein bewusster Atemzug die Stimmung wieder zu heben vermögen – welche eigenen Erfahrungen und Möglichkeiten wären dann zusätzlich vorstellbar, wenn wir regelmäßig Yoga praktizieren? Wenn Gesundheit, Wellness und inneres Wohlergehen nicht besser sein könnten, liegt eine vollkommen neue Daseinsform in greifbarer Nähe. Den Möglichkeiten sind keinerlei Grenzen gesetzt. Wäre die Welt nicht wunderbar, wenn wir in Stille verharren und gleichzeitig vor Lebenslust und Tatendrang förmlich explodieren könnten?

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