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Übersetzen für Anfänger

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Kateřina Tučková (links) auf der Autorentagung „Junge Literatur in Europa“ in Greifswald. Foto: © privat

Der Roman „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“ („Vyhnání Gerty Schnirch“) der tschechischen Autorin Kateřina Tučková hat seit der Veröffentlichung im Jahr 2010 einige Aufmerksamkeit erregt. Mittlerweile ist das Buch in elf europäische Sprachen übersetzt worden. Trotz der deutsch-tschechischen Thematik fehlt allerdings bislang eine deutsche Ausgabe. Dennoch war Kateřina Tučková 2012 mit ihrem Roman auf der internationalen Autorentagung „Junge Literatur in Europa“ zu Gast in Greifswald. Ein dreiköpfiges Team am dortigen Institut der Slawistik machte sich daran, zumindest einige Passagen ihres Werkes ins Deutsche zu übersetzen.

Die internationale Autorentagung Junge Literatur in Europa findet seit 1999 jährlich in Greifswald statt. Sie wird in Zusammenarbeit der Universität und der Hans Werner Richter-Stiftung veranstaltet. Wie der Titel vermuten lässt, steht im Mittelpunkt der Tagung eine junge Autorenschaft, die aus dem gesamt europäischen Raum stammt. An einem einzigen Tagungstag können sich bis zu sieben Autoren vorstellen. Für eine Diskussion mit dem Publikum ist je eine halbe Stunde vorgesehen. Das Konzept ist in Deutschland bislang einzigartig. Mittlerweile kooperieren Stiftung und Uni so eng, dass an der Philosophischen Fakultät erwartete Autoren Seminarthema werden. Texte ausländischer Schriftsteller werden beispielsweise von Studierenden im Rahmen eines Übersetzerseminars in die deutsche Sprache übertragen werden. So auch im Fall von Kateřina Tučkovás Roman Die Vertreibung der Gerta Schnirch.

Gemeinsam mit meiner Kommilitonin Magda, einer tschechischen Muttersprachlerin, und unserer Lektorin, die beide Sprachen fließend beherrscht, machten wir uns an die Arbeit. Das Ziel: eine halbe Stunde Lesezeit mit ausgewählten Textstellen und deren „annehmbarer“ Übersetzung füllen. Aber was ist eigentlich eine „annehmbare Übersetzung“ und welche Funktion muss sie erfüllen? Und dann dieser ständige Zweifel, ob die eigenen Fremdsprachenkenntnisse überhaupt für eine literarische Übersetzung ausreichen. Zudem erforderte der anspruchsvolle Roman eine fundierte Auseinandersetzung mit der in ihm behandelten Epoche.

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Im Fokus der Handlung steht die junge Sudentendeutsche Gerta, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zusammen mit ihrer wenige Monate alten Tochter aus Brno (Brünn) vertrieben wird. Das Buch beginnt mit dem so genannten „Todesmarsch von Brünn“, der im Mai 1945 einen Großteil der deutschsprachigen Bevölkerung Mährens nach Österreich führen soll. Kateřina Tučková schildert die Ereignisse der Nachkriegsjahre aus mehreren Perspektiven und auf unterschiedlichen Zeitebenen. So entsteht ein kaleidoskopartiges Bild, das einen intimen und komplexen Einblick in die Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonistin zulässt.

Um die Arbeit und Vorgehensweise der Autorin zu verstehen half uns der Dokumentarfilm den Kateřina Tučková im Jahr 2010 zur Entstehung ihres Romans gedreht hat. In Also los Gerta - Sudeten komplex 5 mal anders - Sudetský komplex 5x jinak werden viele Motive des Buches aufgegriffen und durch historisches Film- und Fotomaterial, aber auch durch Szenen einer Theateraufführung des Buches veranschaulicht. Zudem enthält der Film Interviews mit Zeitzeugen und Historikern.

Ein „Glücksfall“ unseres Übersetzerteams war, dass Magdas Familie selbst sudetendeutsche Vorfahren hat. Vor allem Magdas Vater, der im Süden Tschechiens wohnt, hat sich intensiv mit der Geschichte der Deutschen in Tschechien beschäftigt. Durch den familiären Hintergrund Magdas kamen weitere Facetten der gemeinsamen Geschichte zweier Nationen und des Umgangs mit dieser hinzu. Unsere Lektorin referierte zudem über weitere Werke der tschechischen Literatur, die sich ähnlich mit der Thematik auseinandersetzen. Lange Unterhaltungen und Diskussionen, mit dem Hintergrund historischer Fakten, ließen uns einen tiefen Einblick in das Durchlebte von Tučkovás Protagonistin bekommen.

Übersetzungsarbeit ist kreative Arbeit

Immer wieder las ich mir die 6 Seiten durch, die ich zu übersetzen hatte. Natürlich verstand ich nicht direkt alles. Ich wollte aber ein Gefühl für die Stimmung im letzten Abschnitt des Buches bekommen, um diese dann in der deutschen Sprache wiedergeben zu können. Manchmal war ich bis zu fünf Stunden von dem Text gefesselt, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Der Anspruch die Passage gut zu übersetzen, bevor ich sie an Magda weiter schicken würde, ließ meine Konzentration und Ausdauer auf Hochtouren laufen. Diese kreative Übersetzungsarbeit unterschied sich sehr stark von der, die ich sonst im Studium gewohnt war.

„Also los Gerta“, ein Dokumentarfilm auf den Motiven des Romans „Die Vertreibung der Gerta Schnirch“.

Fast jeder Mensch übersetzt im Alltag kleinere Sätze oder Texte, sei es eine fremdsprachige Aufschrift im Urlaub oder ein Lied der Lieblingsband. Als Fremdsprachenstudent übersetzt man sein ganzes Studium lang. Dabei handelt es aber sich meist um so genannte mentale Übersetzungen, die nicht zwangsläufig immer richtig sein müssen und lediglich dem eigenen Anspruch zum inhaltlichen Verstehen genügen. Bei der literarischen Übersetzung, die nun vor mir auf dem Schreibtisch lag, kamen ganz neue Aspekte und Funktionen hinzu. Der Ansatz Wort für Wort zu übersetzen ist längst überholt, denn eine wortwörtliche Genauigkeit kann die Verständlichkeit der Übersetzung nicht sichern. Es geht vielmehr darum, beiden Texten gerecht zu werden: Stimmung, Inhalt und Stil von der einen in die anderen Sprache zu transportieren. Dabei sollte man seine eigene Muttersprache so einsetzen, dass sie in den Ohren der Leser und Zuhörer auch noch wie diese klingt. Am schwierigsten war es für mich, gewisse Gedanken und Sätze des Originals ruhen zu lassen. Auch wenn ich das nur schwer akzeptieren konnte: aufgrund der sprachlichen Verschiedenheit muss man mit manchen inhaltlichen Einschränkungen leben. Mein Anspruch war, alle Facetten des tschechischen Textes in den deutschen mit einzubinden.

An einigen Stellen wusste ich aber wirklich nicht weiter. Aber Magdas Ergänzungen und Korrekturen haben meine Übersetzung erheblich verbessert. Es ist überaus gewinnbringend eine deutsche und tschechische Muttersprachlerin zusammen eine Übersetzung ausarbeiten zu lassen, da beide sich in „ihrer“ Sprache genau auskennen und somit gegenseitig unterstützen können.

Die Übersetzung der einzelnen Passagen war rechtzeitig zu Tagungsbeginn fertig. Und war sie „annehmbar“? Der Reaktion des Publikums zu urteilen, ja. Hier ist ein Auszug aus meiner Übersetzung. Die Passage stammt aus dem letzten Kapitel des Buches und schildert die Sicht von Gertas Tochter Barbora, die ihre im Sterben liegende Mutter im Krankenhaus besucht.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie versucht zu leugnen, dass sie Deutsche ist und auf einmal, als ob sie verrückt geworden wäre, grub sie das irgendwo in ihr verborgene Unrecht aus und kämpfte dafür wie ein Boxer. Ein lächerlicher Boxer, denn was bedeutet schon eine Entschuldigung? Noch dazu von Menschen, die sich an die Vertreibung, das beschissene Stigma ihres Lebens nicht mal erinnern können.

Brünn. Brünn sollte sich bei ihr entschuldigen. Bei ihr, bei Johanna und eigentlich auch bei mir und bei Anna und Rudi und so vielen anderen, allen, die das getroffen hatte. Aber mich hat es überhaupt nicht getroffen, ich hatte damit nichts zu tun. Ich bin dieses deutsche Halsband losgeworden, das ich nur manchmal bemerkte. Ich habe es nicht gepflegt und um den Hals herum glatt gestrichen, wie das meine Mutter gemacht und zugleich nicht gemacht hat. Also sagte ich ihr das jetzt. Alles sagte ich ihr. Was ich darüber dachte, über ihren Aberwitz mit dem Deutschtum und der Entschuldigung. Die am Ende sinnlos war wie Perlen vor die Säue.

Ina Hartmann

Copyright: Goethe-Institut Prag
Juni 2013

    Kateřina Tučková

    (* 1980 in Brno) veröffentlichte im Jahr 2010 ihren ersten Roman Vyhnání Gerty Schnirch (Die Vertreibung der Gerta Schnirch). Das Buch behandelt anhand des Schicksals der jungen Sudetendeutschen Gerta das sensible Thema der so genannten Wilden Vertreibung. Diese war unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg von Gewaltexzessen gegen die deutschsprachige Bevölkerung Böhmens und Mährens begleitet. Tučková erhielt für ihren Debütroman mehrere bedeutende tschechische Literaturpreise. Auch mit ihrem 2012 erschienenen Buch Žitkovské bohyně (Göttinnen von Schitkowa) über Seherinnen in den Weißen Karpaten ist die Jungautorin ähnlich erfolgreich.  

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