Leben

Ich bin

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Auf „Wurzelerkundung“ in Bulgarien


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Über den Dächern von Ruse

30 Augenpaare sind auf mich gerichtet, aufmerksam, erwartungsvoll auf die ersten Worte in der fremden Sprache. Ich stehe vor eine Gruppe von etwa 30 Menschen verschiedener Altersstufen. Der kleine Raum in dem autonomen Zentrum im Herzen von Sofia ist völlig überfüllt, das Interesse nach kostenlosen Deutschunterricht von einer Muttersprachlerin scheint groß zu sein, größer als das Interesse bei den Diskussionen, die meine Bekannten hier sonst veranstalten: Diskussionen, die sich um Kapitalismus, Rassismus und Korruption drehen, die vielleicht drängendsten Probleme in Bulgarien. Aber die Menschen kommen zum Deutschunterricht, so viele das nicht alle auf einem der grauen Bürostühle Platz gefunden haben, einige stehen im Türrahmen, halten Block und Stift in der Hand.

Ich bin, du bist, er ist, wir sind, ihr seid, sie sind. Ich bin Deutsche. Kurz zögere ich, bevor ich die Kreide an die kleine Schiefertafel ansetze, so einen Satz vermeide ich normalerweise. Ja, ich habe einen deutschen Pass, Deutsch ist meine Muttersprache, aber so einfach ist es doch nicht. Vielleicht ist das der Grund, warum ich her gekommen bin, in das Land an den Grenzen der EU. Von vielen als Land an der Peripherie Europas wahrgenommen, in den Zahlen und Grafiken der Statistiker das Armenhaus der EU.

Ich bin Deutsche. Ach ja?

Ich bin Deutsche. Die Kreide quietscht, meine Finger werden weiß und trocken. Didaktik siegt über lange Erklärungen. Du bist Bulgare. Er ist Bulgare. Sie ist Bulgarin. Woher kommst du? Willkürlich deute ich mit der Hand auf die Menschen vor mir, sie formen vorsichtig, noch etwas unsicher, ihre ersten Worte auf Deutsch. Ich freue mich, es beginnt mir Spaß zu machen. Ich bin Nigerianer. Der junge Mann mit den dunklen krausen Locken und den weißen Zähnen grinst mich an. Ole kenne ich schon von einer Veranstaltung vor einigen Monaten – statt Deutsch für Anfänger stand an jenem Abend Flüchtlingsrechte in Bulgarien im Programm des autonomen Zentrums. Er erzählte damals, wie er als Schüler bemerkte, dass auf der Klassenliste neben jedem Namen eine lange Nummer stand - nur neben seinem nicht. Als auch die Ämter das bemerkten, kam er für einige Monate in ein geschlossenes Lager am Rande der Stadt. Dort, wo ich auch kurz nach jener Veranstaltung stehen und gemeinsam mit anderen „Svoboda!“, Freiheit, skandieren sollte. Und das in dem Land, in dem Ole aufgewachsen ist, dessen Sprache seine Muttersprache geworden war.

Ich bin Nigerianer. Zunächst bin ich überrascht, ob er bei dem Vortrag so etwas gesagt hätte? Damals erzählte er mit fester lauter Stimme von dem Heimatland seines Vaters, dass er nur einmal in seinem Leben gesehen hatte. Wieder siegt Didaktik über lange Erklärungen, ich bin erleichtert über die Variation zwischen Wir sind Bulgaren, ihr seid Bulgaren, sie sind Bulgaren.

Foto: Julia Serdarov
Sofioter Morgensmog

Aus der Mottenkiste der Erinnerung

„Viel Freude bei deiner Wurzelerkundung!“, hatten mir drei Freundinnen zum Abschied in einer Karte geschrieben. „Nichts bereuen“, stand auf Vorderseite des orangen Kartons. Wurzelerkundung. Das Wort war mir unbehaglich. Ich wollte meinen Aufenthalt in Bulgarien nicht mit meinem Vater in Verbindung bringen, nicht damit, dass er vor mehr als dreißig Jahren das Land verlassen hatte und seither nie wieder zurückgekehrt war. Dass er die Orte seiner Jugend so sehr vergessen wollte, dass er es strikt ablehnte, seinen Kindern die Sprache beizubringen, in der er seine ersten Buchstaben geschrieben, seine ersten Bücher gelesen und die ersten Worte gesprochen hatte. Als ich das erste Mal von ein paar Tagen Sommerurlaub aus Bulgarien zurückkehrte, wollte er es dann doch ganz genau wissen: Wie es nun in dem kleinen Weindorf aussah, in dem er aufgewachsen war. Die Nachbarn, die Straßen, ob jemand nach ihm gefragt habe. Ob ich sein Zimmer gesehen hätte, dessen Wänden heute immer noch die Blumentapete und die vergilbten Passfotos seiner Großeltern schmücken. Doch dies alles waren nicht die Gründe, warum ich hergekommen war, sagte ich mir oft. Wenn Menschen fragten, zitierte ich gerne Iijah Trojanow, der einmal sagte, dass der biographische Zufall ihn nach Bulgarien geführt hätte. Das war es, ein biographischer Zufall, mehr nicht.

Dann, ein heißer Sommertag im Mladezhi Park, im Park der Jugend, das Gras noch etwas feucht vom Platzregen, das Sonnenlicht fällt durch die grünen Blätter auf die Picknickdecke, auf der bulgarische Blätterteigtaschen und schwäbischer Kirschkuchen in Plastikboxen ausgebreitet liegen. Daneben, eine Rassel, Windeln, Gläschen mit Babybrei. Zwei junge Eltern spielen mit ihrer einjährigen Tochter, beginnen Kinderlieder zu singen, zunächst auf Deutsch, dann auf Bulgarisch. Etwas durchzuckt mich kurz, dann fallen mir langsam Wortfetzen ein. Worte, die damals nur abstrakte Laute für mich waren und nun plötzlich einen Sinn ergeben, nach Vokabellernen und Grammatikstunden. Mein Vater, der mich an den Händen nimmt und im Kreis dreht, dazu singt. Beli peperudki, weiße Schmetterlinge. Eine Szene, ein paar Liedzeilen, tief aus der Mottenkiste meiner Erinnerung, fällt mir wieder ein, auf der Picknickdecke im Hochsommer. Das Kinderlied kam so wie jemand, den man in der U-Bahn sieht und erst nach einer Weile als alten Freund wiedererkennt. Seltsam, diese Verknüpfungen: Sprache und Erinnerung. Sprache und Identität.

Foto: Julia Serdarov
Ein Hochsommernachmittag auf der Picknickdecke

Wer bist du?

Fünf Minuten Pause. Mein Mund ist trocken, der Tafelschwamm auch. Ich rede und schreibe zu viel. Nachdem ich die letzten Verbdeklinationen weggewischt habe, suche ich nach einigen W-Fragen, um die neuen Verben anzuwenden. Woher kommst du? Wo wohnst du? Welche Sprachen sprichst du? Ich komme aus Deutschland. Ich wohne in Sofia. Ich spreche Deutsch, Englisch und Bulgarisch.

Ach nein, das Wichtigste habe ich vergessen. Ich bin Julia.

Julia Serdarov

Copyright: Goethe-Institut Prag
Dezember 2011

    Ein „biographischer Zufall“

    Julia Serdarov, 23 Jahre, ein echtes Münchner Kindl mit einem bald abgeschlossenen Politik-Soziologie-Literatur-Studium, hat die letzten sechs Monate in Ruse verbracht, einem kleinen Städtchen am bulgarischen Donauufer. Nach einem Praktikum bei der Elias Canetti Gesellschaft streift sie nun für ein eigenes Projekt durch Sofia – bis zum Ende des Jahres begleitet sie mit Fotokamera und Aufnahmegerät Menschen bei ihren Wegen durch die Stadt. Mit Bulgarien verband sie bisher nur ihr Nachname: Ihr Vater hatte in den 70er Jahren eine Deutsche an der Schwarzmeerküste kennengelernt, ist ihr nach Deutschland gefolgt und hat seitdem nicht mehr bulgarischen Boden betreten.

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