Hüter meines Bruders

„My Brother’s Keeper“, Perspektive Deutsches Kino 2014. DEU 2014. Regie: Maximilian Leo. Sebastian Zimmler, Robert Finster | © Matteo Cocco
„My Brother’s Keeper“, Perspektive Deutsches Kino 2014. DEU 2014. Regie: Maximilian Leo. Sebastian Zimmler, Robert Finster | © Matteo Cocco

Eifersucht und Trauer, gegenseitige Abhängigkeit, Verlust und Sehnsucht – mit „Hüter meines Bruders“ gibt Maximilian Leo ein eindrucksvolles Debüt, findet Berlinale-Bloggerin Jutta Brendemühl.

Auf die Frage, warum ausgerechnet der Film Hüter meines Bruders der Eröffnungsfilm der Perspektive Deutsches Kino geworden ist, antwortete Linda Söffker, Leiterin dieses Bereichs der Berlinale: „Er ist einerseits ein experimenteller Film, andererseits aber auch nicht. Die am Ende offen gelassene Geschichte eines Brüderpaars, dessen Beziehung zueinander in Frage gestellt wird, ist einfach gut (zwei Elemente übrigens, die in mehreren Filmen auftauchen). Wie die Farben und Formen die Gefühlswelt der Protagonisten widerspiegeln, das ist schon große Kinokunst. Der Film ist sozusagen programmatisch für die diesjährige Perspektive: er ist mutig und beeindruckend.“

Das stimmt. Die Story in Kürze: Zwei Brüder unternehmen ihre traditionelle Segeltour. Der jüngere Bruder verschwindet plötzlich von der Bildfläche (ist er davongelaufen? Hat er Selbstmord begangen?). Während der Ältere nach ihm sucht, taucht er selbst langsam immer mehr in dessen Lebens-, Liebes- und Gedankenwelt ein, während er sich immer mehr von seinem eigenen Leben, seiner Arbeit und seiner Ehe entfernt.

Am Anfang entsteht der Eindruck, dass alles im Umfeld des Handlungsortes gefilmt wurde. Psychedelische Klänge, Einstellungen durch transparente Fotos auf einer Glaswand (Director Of Photography: Matteo Cocco). Vielleicht hätte man sich ein oder zwei Einstellungen von Hinterköpfen sparen können, aber insgesamt wirkt die Atmosphäre leicht elegant und frisch, fast wie Wasser, das langsam seitlich an einem Wasserhahn austritt, ohne dass das Ganze stilisiert oder künstlich wirkt, wie es leider in vielen deutschen Filmen in letzter Zeit der Fall war. Während die Berlinale-Macher nimmermüde die unvermeidbare Frage nach dem diesjährigen Motto beantworten, ist der Film ein Beweis für das gute Händchen der Berlinale-Programmplaner: Sie setzen auf formale Innovation, Experimentierfreude und herausragende Qualität.

Jung-Regisseur Maximilian Leo, ein Absolvent der Kölner Filmakademie, braucht weder viel Zeit noch Worte, um seine Figuren einzuführen: Pietschi, der jüngere Bruder, ist ein Künstler-Typ und hat etwas Kurzlebiges an sich, das sich auch in der Bildsprache des Films widerspiegelt. Gregor, der Ältere, ist ein konservativer Arzt – für Pietschi ein „Gutmensch“. Am Anfang hat es mich noch irritiert, dass die Geschichte so schnell in sich zusammenfällt. Doch Leo lässt gar nicht erst viele Fragen aufkommen und webt geschickt Rückblenden über den Lebenshintergrund der beiden Brüder ein. Sehr schön nutzt er auch das Stilmittel, einige Szenen zu wiederholen oder sie geringfügig zu ändern.

„Die meisten Selbstmordversuche sind ein Schrei nach Aufmerksamkeit”, sagt der Arzt Gregor der Mutter eines Patienten in dem Krankenhaus, in dem er arbeitet. Kurze Zeit später versucht er vergeblich, seine Frau telefonisch zu erreichen und befindet „Es ist wie verhext!“ Und Gregors beziehungsweise Pietschis Freundin kritisiert sein Rauchen: „Das passt nicht zu dir.“ Es fällt nicht schwer, diese Szenen als Anspielung auf die innere Zerrissenheit der Brüder zu interpretieren. Vor allem muss man genau hinsehen und hinhören, um alle Nuancen zu erfassen und das Puzzle zusammenzusetzen, welches trotz der teilweise surrealen Motivationen und Entscheidungen der Figuren nicht konstruiert wirkt. Manchmal werden die wichtigen Fragen ausgesprochen, manchmal liegen sie auch in der Luft. Macht dein Leben Sinn? Was würdest du am liebsten damit anstellen? Würdest du lieber von einem Haus springen oder vor ein Auto laufen?

Gregor wird von Sebastian Zimmler gespielt, der vielen vielleicht noch als jüngerer Bruder des Zahnarztes in Hans-Christian Schmids düsterem Familiendrama Was bleibt (Berlinale 2012) in Erinnerung ist – seltsamerweise auch ein Film, in dem ein Protagonist auf mysteriöse Weise verschwindet und nicht wieder auftaucht. Ohne sein gleichsam leichtfüßiges wie verstörendes Spiel, sein zaghaftes Vorstoßen in das andere Leben wäre die zweite Hälfte glatt zu einem unheimlichen Stalker-Thriller à la Stereo, der im Panorama läuft, geworden. Hier sind die unter der Oberfläche lauernden Gefühle und Impulse zwar sichtbar, werden aber immer nur für einen flüchtigen Moment greifbar (vielleicht hätten sie hier und da etwas präsenter sein sollen, um noch eindringlicher zu wirken): Eifersucht und Trauer, gegenseitige Abhängigkeit, Verlust und Sehnsucht. Ereignisse werden vorhergesehen und Lücken gefüllt. Zum Ende hin raucht und trinkt sich Gregor in ein fieberhaftes Burnout hinein, bevor er loslassen kann.

Am Ende wissen wir: Man kann sein Leben weder wiederholen noch in ein anderes Leben hineinkopieren oder ersetzen.

Ein eindrucksvolles Debüt – den Namen Maximilian Leo sollte man sich merken.

Jutta Brendemühl
bloggt für GermanFilm@Canada von der Berlinale.

Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Bode
Copyright: Goethe-Institut e. V.
Februar 2014

    Jutta Brendemühl ist Programmkuratorin des Goethe-Instituts Toronto und Bloggerin bei GermanFilm@Canada. Die studierte Anglistin konnte ihre Leidenschaft zum Beruf machen: Sie organisiert Kunst- und Kulturprogramme quer durch alle Genres und mit globaler Ausrichtung. In den vergangenen 15 Jahren hat sie bereits mit Größen wie Bernardo Bertolucci, Robert Rauschenberg, Wim Wenders oder Pina Bausch zusammengearbeitet.

    Twitter @JuttaBrendemuhl