Satanisch: „Kreuzweg“ von Dietrich Brüggemann

© Dietrich Brüggemann „Kreuzweg“ | © Dietrich Brüggemann
„Kreuzweg“ | © Dietrich Brüggemann

Deutsche Regisseure auf dem Kreuzzug gegen Kindesmissbrauch – erst mit Edward Bergers Wettbewerbsfilm „Jack“, jetzt mit der Weltpremiere von Dietrich Brüggemanns neuestem Film „Kreuzweg“, mit dem der 37-Jährige bereits seine vierte Berlinale-Einladung vorweisen kann.

Am Anfang des Films steht die Todesstrafe; gemeint ist sowohl Jesus als auch die Filmfigur Maria, die Brüggemann mit dem Kreuz auf dem Rücken auf den steinigen Weg nach Golgatha schickt.

Prozess, Strafe, Sünde, Krieg, Hölle, Satan, Opfer – das sind die vorherrschenden Vokabeln im ersten Kapitel. Es ist kein schöner Ort, der hier gezeigt wird. Die 14-jährige Maria wächst in einer fundamentalistischen katholischen Gemeinschaft auf, die sie in die Verzweiflung treibt.

Im zweiten Kapitel wird die sadistische Mutter von der hervorragenden Franziska Weisz so überzeugend dargestellt, dass ich mich am Sitz festhalten musste, als sie im Film später nochmal auftauchte. Wie auch die Mutter von Jack hat sie ihr Leben nicht im Griff, ist emotional verkrüppelt. Grundbedürfnisse ihrer Kinder wie Zärtlichkeit, Aufmerksamkeit und Trost ignoriert sie einfach. Maria, mit 14 Jahren das älteste von vier Kindern in dieser Problemfamilie, ist intelligent und mitfühlend. Sie strauchelt jedoch unter dem Joch der religiösen Erziehung, denn würde man das, was die Gemeinde verlangt, zu Ende denken, stünde am Ende die Selbstzerfleischung. Es scheint, als sei Maria in einer Art ständiger Selbstanklage gefangen, weil sie die ihr auferlegten Grundsätze permanent überdenkt.

Die ernsten und präzisen Bilder der One-Shot-Kamera sind wirklich faszinierend – Hyperfokus nennt Brüggeman das. Den Anfang macht ein beeindruckendes 15-minütigens „Abendmahl“ mit den Hauptdarstellern des Films, sechs jungen Teenagern und dem jungen, stets religiöse Anweisungen verteilenden Vater Weber, dem vor Eifer glühenden Pfarrer. Darsteller Florian Stetter, der auch in Dominik Grafs Geliebte Schwestern als Friedrich Schiller zu sehen war, füllt die Rolle des in seinem extremistischen Korsett gefangenen Weber überzeugend aus. Er gibt den Pfarrer als einen menschenverführenden Gelehrten, dessen Gefühlsschwankungen, ausgedrückt durch die subtil wechselnde Stimmlage, die sich von einer Sekunde zur nächsten verändern kann, etwas Erschreckendes an sich haben. Sein Ausruf „Ich höre doch zu“ ist hier eher als drohender Vertrauensbruch, nicht als helfende Hand zu verstehen. Seine Forderungen kommen schmeichelnd daher, was seinen Ausbrüchen noch mehr Gewicht verleiht.

Die Beichte im vierten Kapitel ist ebenfalls eine großartige Szene mit einer befremdlichen sexuellen Anspielung, die die Frage aufwirft, in welchen anderen Bereichen der Pfarrer seine emotionale Erpressung wohl sonst noch betreibt. Mit der unmittelbaren Platzierung des Films vor Lars von Triers Nymphomaniac im Berlinale-Palast wollte Berlinale-Direktor Dieter Kosslick dem Publikum dem hedonistischen Jux wohl eine ernste Vorwarnung vorausschicken.

Dietrich Brüggemann ist der redegewandte und eigensinnige Hofnarr der neuen Riege der Filmemacher. Seine Vorbilder sind, wie er immer wieder gerne betont, Monty Python, was sich trotz einiger unvermeidbarer Lacher an diesem Film nicht so ganz festmachen lässt. Vielen ist noch in Erinnerung, wie er im letzten Jahr leidenschaftlich, polemisch und ikonoklastisch „Fahr zur Hölle, Berliner Schule“ ausrief. Sein Lieblingswort in Interviews heißt „Quatsch“. Dazu kreiert er immer wieder Aphorismen, wie neulich in einem Interview über deutsche Filme: „Ein Film darf auch ruhig einmal wie ein Adventskalender oder ein Einkauf im Supermarkt sein“. Seine resolute, radikale Ader spiegelt sich auch in seinem neuen Film wider, den er nur folgerichtig Hardcore-Arthouse nennt. Das Kino hat für Brüggemann in jedem Fall eine soziale Bedeutung: „Es ist interessanter, wenn man sich im Film abreagiert” – auch wenn dieser Film vielleicht einen Tick zu viel von seiner eigenen Wut und Leidenschaft getränkt ist.

Mit seiner Behauptung, fundamentaler Katholizismus sei ein „Angriff auf die Gegenwart aus allen anderen Zeiten“ fängt Brüggemann die Grundstimmung des Films treffend ein. Anders als in anderen Filmen, die sich mit religiösem Eifer beschäftigen, folgt Maria in ihrem Wahn am Ende dem Ruf der Kirche. Die logische Fehlbarkeit der „Wohltätigkeitskrieger“ mit ihrer religiösen Unabdingbarkeit ist vom ersten Kapitel an klar. Brüggemann zeichnet seine Figuren deutlich, ohne sie dabei lächerlich wirken zu lassen. Obwohl man eigentlich nicht weiter von dem Begriff „Wohltätigkeit“ entfernt sein kann als die hier gezeigten Charaktere.

Der Film ist kein Meisterwerk wie Hans-Christian Schmids Requiem aus dem Jahr 2006 mit der hypnotisierenden Sandra Hüller. Mir gefiel der Film, und er ist gut gemacht, doch aus irgendeinem Grund hat er mich nicht so gefangen genommen wie ein dramatischer Stoff wie dieser es sollte. Vielleicht kann ich mich in Maria nicht so sehr hineinversetzen wie in andere leidende und missbrauchte Kinderseelen. Der im eigentlichen wie im übertragenen Sinne taube Vater beziehungsweise Sohn sind ein bisschen zu viel des Scheiterns. Vielleicht liegt es auch daran, dass mir der Film nichts zeigt, was ich nicht schon vorher gewusst oder geglaubt habe. Denn eine Berlinale-Weltpremiere ist schließlich eine Predigt vor Geretteten, nicht vor Verlorenen.

Die beiden deutschen Wettbewerbsfilme Jack und Kreuzweg, haben mich an Philip Grönings Die Frau des Polizisten erinnert. In Jack herrscht ebenfalls eine dysfunktionale, ausbeuterische Familienkonstellation, die den Mitgliedern kaum Möglichkeiten zur Flucht einräumt; auch hier werden Probleme geleugnet und verzweifelt unter den Teppich gekehrt. Brüggemann erinnert mich wegen seines Sonettformats an Gröning, der mit einer Komposition aus 59 Kapiteln gearbeitet hat. In diesen Filmen haben die Menschen weder die Möglichkeit noch die Wahl, das richtige zu tun. Es gibt kein Entkommen, und darum vermitteln sie ein Gefühl, das uns ohnehin vielleicht ständig umgibt: Wir fühlen uns gefangen.

Jutta Brendemühl
bloggt für GermanFilm@Canada von der Berlinale.

Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Bode
Copyright: Goethe-Institut e. V.
Februar 2014
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Jutta Brendemühl ist Programmkuratorin des Goethe-Instituts Toronto und Bloggerin bei GermanFilm@Canada. Die studierte Anglistin konnte ihre Leidenschaft zum Beruf machen: Sie organisiert Kunst- und Kulturprogramme quer durch alle Genres und mit globaler Ausrichtung. In den vergangenen 15 Jahren hat sie bereits mit Größen wie Bernardo Bertolucci, Robert Rauschenberg, Wim Wenders oder Pina Bausch zusammengearbeitet.

Twitter @JuttaBrendemuhl