„Ich kreuze alle Parteien an“

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Politikverdruss als Statement

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Dirk Murschall, Foto: © Franziska Baur

Im September stehen in Deutschland Wahlen an. In Bayern sollen die Bürger sogar zweimal ihre Stimme abgeben – für den Bundestag und den Landtag. Die Zahl der Nichtwähler steigt jedoch – und das schon seit Jahren. Politikverdrossene Menschen grundsätzlich als desinteressiert, lethargisch oder einfach nur faul zu bezeichnen, greift jedoch zu kurz. Das Beispiel des Nürnbergers Dirk Murschall zeigt, dass durchaus auch engagierte und politisch interessierte Menschen zu Nichtwählern werden können. Der 35-Jährige engagiert sich seit über zehn Jahren in der Kultur- und Kunstszene Nürnbergs, in dem Verein Weinerei und einem Künstlerkollektiv im Gebäude des alten Quelle-Versandhauses. Die Wahl im September stellt ihn vor eine große Herausforderung.

Welches Wahlplakat spricht Sie derzeit am meisten an?

Keines. Für mein Empfinden wird der Wahlkampf bisher viel zu emotional gefahren. Keine Partei sticht mit Themen heraus. Auf den Wahlplakaten grinsen mich nur freundlich lächelnde Gesichter an, die meine Stimme erhaschen wollen. Aber wo sind die Themen und Argumente die mich überzeugen sollen? Aktuell frage ich mich schon, ob es im Zuge der NSA-Spähaffäre nicht wichtigere politische Themen gibt als einen Veggie-Day. Aber an dieses heiße Eisen traut sich keine Partei heran.

Überlegen Sie, auf Ihre Stimmabgabe zu verzichten?

Nein, hingehen zur Wahl will ich in jedem Fall, auch wenn mich derzeit keine Partei überzeugt. Ich fühle mich einfach nicht von ihnen vertreten. Aber ich habe mir überlegt, diesmal meinen Stimmzettel ungültig zu machen. Ich kreuze alle Parteien an, streiche den ganzen Zettel einfach durch, fülle gar nichts aus oder zerreiße ihn wenn ich aus der Wahlkabine herauskomme. Wie genau ich ungültig wähle, überlege ich mir noch.

Welche Botschaft senden Sie damit an die Politik?

Ob es einen Einfluss auf das Wahlergebnis hat, sei dahingestellt. Aber ich will zeigen, dass ich grundsätzlich Einfluss nehmen möchte, mit der aktuellen Politik allerdings nicht einverstanden bin. Das demokratische Wahlrecht nehme ich durchaus ernst.

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Dirk Murschall: „In der Weinerei schlägt keiner Profit raus, sondern es geht um das Miteinander. Das würde ich mir auch von den Politikern mehr wünschen.“ Foto: © Franziska Baur

Gab es für diese Entscheidung ein ausschlaggebendes Ereignis?

Aktuell zum Beispiel der Umgang mit dem NSA-Skandal. Warum setzt die deutsche Politik dem amerikanischen Geheimdienst keine Grenzen? Ich bewege mich nun schon 15 Jahre im Internet und denke, es sollte eine selbstbestimmte Entscheidung sein, ob und welche Daten jemand über mich finden kann. Nur weil es technisch möglich ist, ein virtuelles Profil mit meinen Daten zu erstellen, sollte es noch lange nicht gemacht oder toleriert werden. Und da bin ich von unserer staatlichen Autorität einfach enttäuscht. Keiner reagiert so richtig auf das Thema.

Sie selbst engagieren sich in der Nürnberger Kulturszene, unter anderem in dem gemeinnützigen Verein Weinerei. Hier wird Kunst ausgestellt und Wein wird nicht verkauft, sondern die Gäste spenden nach dem Besuch freiwillig einen Betrag ihrer Wahl. Was zeichnet dieses Konzept für Sie aus?

Es gibt Gäste, die trinken ein paar Gläser Wein und werfen am Ende nur wenige Euro in unsere Kasse. Auf der anderen Seite kommen aber auch andere Leute, die trinken gerade einmal ein Glas und bezahlen mit einem Fünfzigeuroschein. Ich finde, das spiegelt auch ein bisschen unsere Gesellschaft wider. Nicht jeder kann gleich viel zahlen oder leisten, auch wenn jeder einen Beitrag leisten möchte – aber zusammen funktioniert es. Deswegen ist die Weinerei für mich ein sehr sozialer Ort.

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Die Weinerei in Nürnberg: Hier wird Kunst ausgestellt und Wein wird nicht verkauft, sondern die Gäste spenden nach dem Besuch freiwillig einen Betrag ihrer Wahl. Foto: © Franziska Baur

Worum geht es in der Weinerei?

Sie ist ein Freiraum, in dem sich Leute treffen, Kunst ausstellen und sich austauschen. Sie ist dezidiert kein politischer Ort, aber natürlich wird abends an der Bar viel diskutiert – auch über Politik. Sie ist eine unmittelbare Austausch- und Feedbackplattform. Das ist oft ein gutes Korrektiv und das schätze ich. Keiner schlägt Profit raus, sondern es geht um das Miteinander. Das würde ich mir auch von den Politikern mehr wünschen.

Was müsste sich für Sie ändern, damit die Parteien Sie wieder ansprechen?

Mein Wunsch ist es, dass sich die Politik weg bewegt von der Trivialität ihrer Themen. Wegen mir sollen sie sich ruhig streiten, zanken und polarisieren. Genau darum geht es doch in einer lebendigen parlamentarischen Politikkultur. Derzeit sehe ich einen Einheitsbrei, emotional aufgeladene Kampagnen und Themenklau. Und: Ich will wieder integre Politiker, die glaubwürdig sind. Derzeit jagt ein Skandal den nächsten, von gefälschten Doktorarbeiten bis hin zur Anstellung von Verwandten auf Staatskosten. Damit nehmen sich die Politiker ihre Glaubwürdigkeit. Das finde ich schade.

Das Interview führte Franziska Baur

Copyright: To4ka
September 2013
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